Wie wirken sich die Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie auf das Musikleben in Bayern und Deutschland aus? Wie geht es Chören und Instrumentalsensembles? An dieser Stelle wurde schon mehrfach über das Thema berichtet. Zwei aktuelle Studien liefern neue Erkenntnisse.
„Eiszeit“: Studie des DMR
Ende April veröffentlichten der Deutsche Musikrat (DMR) und das Zentrum für Kulturforschung die Ergebnisse einer umfassenden Studie zur Situation professioneller Musikerinnen und Musiker. Bereits im März 2020 hat der DMR eine erste Online-Befragung mit knapp 1.000 Teilnehmenden durchgeführt, die ein alarmierendes Bild von den Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf das professionelle Musikleben ebenso wie auf den Amateurmusikbereich zeichnete. Ein Jahr später konnte nun präzisiert werden, wie sich der erste und zweite Shutdown auf die Einkommen von Musikschaffenden auswirkten, wie die finanziellen Corona-Hilfen wahrgenommen und bewertet werden und mit welchen mittel- und langfristigen Auswirkungen der Corona-Zeit die Befragten rechnen. Dafür wurden im Februar und März 2021 eine quantitative Umfrage mit knapp 2.900 Beteiligten sowie qualitative Interviews mit 39 weiteren Musikschaffenden durchgeführt.
Prof. Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates, konstatiert eine „beklemmende Bestandsaufnahme aktueller und drohender Verluste im Musikleben“ und bilanziert: „Die vorliegende Studie lässt keine Zweifel daran offen, wie verheerend sich die Corona-Zeit auf das Musikleben in Deutschland auswirkt. Die Monate seit Ausbruch der Krise im März 2020 haben eine besorgniserregende Erosion vieler Bereiche des Musiklebens verstärkt, die sich allerdings schon lange zuvor angebahnt hat: die prekäre soziale Schieflage, in der sich viele Soloselbstständige im Kreativbereich befinden, oder auch die zunehmend destruktiv verlaufenden Werte-Debatten um die Bedeutung von Kultur in unserer Gesellschaft.“ – Insgesamt macht die Studie aber auch deutlich, dass es große Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen von Musikschaffenden gibt.
Deutliche Unterschiede zwischen Angestellten und Selbständigen
Angestellt Tätigen entstanden im ersten Shutdown, hauptsächlich aufgrund des staatlichen Kurzarbeitergelds, keine nennenswerten Einkommenseinbußen. Selbstständig Tätige hingegen mussten im ersten Shutdown Umsatzeinbrüche von durchschnittlich etwa 44 Prozent hinnehmen, ein Fünftel gab einen Umsatzausfall von 100 Prozent an. Die schwerpunktmäßig im künstlerischen Bereich Tätigen waren hier besonders betroffen: Sie erlitten Umsatzrückgänge von mehr als 60 Prozent. Unter dem zweiten Shutdown hatten vorwiegend selbstständig Tätige Umsatzeinbußen von rund 45 Prozent im Vergleich zur Ausgangslage zu verzeichnen. Insgesamt lagen die Umsatzrückgänge bei selbstständig Tätigen im Pandemiejahr 2020/21 bei rund 42 Prozent. Nach Berücksichtigung der geleisteten Hilfen verbleibt eine durchschnittliche Umsatzminderung von rund 31 Prozent.
Verzicht auf öffentliche Unterstützung
Rund 38 Prozent der Befragten haben staatliche Hilfsleistungen in Anspruch genommen, etwa 62 Prozent gaben an, keine Anträge gestellt zu haben. Als Gründe dafür wurden genannt, dass Hilfen nicht notwendig gewesen seien (38,8 Prozent), keine Antragsberechtigung vorgelegen habe (42,5 Prozent) oder die Antragstellung als sehr bürokratisch und komplex empfunden worden sei (6,6 Prozent). Statt öffentliche Unterstützungsleistungen in Anspruch zu nehmen, wurde vielfach auf Spenden, Ersparnisse und Hilfen durch das private Umfeld oder auch auf Mittel aus der privaten Altersvorsorge zurückgegriffen.
Erhebliche strukturelle Folgen
Neben der erschwerten Einkommenssituation für Soloselbstständige berichteten die Befragten von erheblichen strukturellen Folgen der Situation: Veranstaltungsorte wurden geschlossen, Live-Musikangebote in den digitalen Bereich verlagert. Die von den Befragten beschriebene Abwanderung aus Musikberufen könnte in absehbarer Zeit zu Nachwuchsproblemen führen. Angesprochen wurden zudem die Erosion des Amateurmusiklebens, ein Imageverlust der Musik, geringe Wertschätzung für Kunst und Kultur und die Notwendigkeit einer stärkeren Interessenvertretung.
Handlungsfelder für Politik und Gesellschaft
DMR-Generalsekretär Christian Höppner spricht von einer beklemmenden Bestandsaufnahme aktueller und drohender Verluste im Musikleben, die ein dringender Weckruf zum Handeln sei, „um uns nicht nach der Eiszeit in verkarsteten Kulturlandschaften wieder zu finden.“ Als Konsequenz der Studienergebnisse skizziert der DMR Handlungsfelder für eine nachhaltige Unterstützung und Stabilisierung des Musiklebens. „Musik ist ein bedeutsamer Wirtschaftsfaktor in Deutschland, aber sie ist in ihrem Kern weit mehr als das. In der Kultur werden gesellschaftliche Prozesse ausgehandelt, Kultur ist Spiegel einer Gesellschaft und verbindet zugleich Menschen jeglichen Alters und jeglicher Herkunft. Kultur muss daher unter besonderem Schutz stehen und darf nicht allein den Regeln des Marktes unterworfen werden. Nach einem ‚stummen Jahr‘ ohne Konzerte, ohne Musikfestivals und ohne gemeinsames Musizieren hat die Gesellschaft einen Eindruck davon erhalten, wie ein Leben ohne Live-Kultur aussieht. Diese Zeit der eingeschränkten musikalischen Praxis und Ausbildung wird zwangsläufig einen Rückgang der musikalischen Qualität im professionellen Bereich ebenso wie im Amateurmusikleben nach sich ziehen.“ Um aus der aktuellen „kulturellen Eiszeit“ gestärkt hervorzugehen, bedürfe es einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung.
Konkret fordert der Musikrat eine bessere Unterstützung selbstständig tätiger Musikschaffender, etwa in Form eines Grundeinkommens oder mit Versicherungsmodellen für Kreativschaffende, wie sie in Frankreich und Schweden bereits erprobt werden. Die Regelungen der Künstlersozialkasse müssten der aktuellen Problemlage angepasst werden: Die Beiträge der Versicherten sollten reduziert, der Bundeszuschuss entsprechend aufgestockt werden. Außerdem sei bis mindestens 2022 eine Ausnahmeregelung erforderlich, die temporär höhere Einnahmen aus nicht-künstlerischer selbstständiger Tätigkeit der Versicherten dulde, ohne diese aus der Versicherung auszuschließen. Zudem gelte es, Vorkehrungen gegen Altersarmut aufgrund der niedrigen Einnahmen zu verhindern.
Vorhandene Corona-Hilfsprogramme müssten bis mindestens Ende 2022 fortgesetzt und den tatsächlichen Bedürfnissen der Betroffenen angepasst werden. Über die Existenzsicherung von selbstständig Tätigen hinaus solle ein wesentlicher Fokus der Förderung auf Strukturen, Netzwerken, Veranstaltungsorten und Projekten sowie auf einer Stärkung des Veranstaltungsmarkts liegen. Orte des kulturellen Zusammentreffens müssten in ihrer Vielfalt erhalten und unterstützt werden.
Gefördert werden müsse auch das Bildungswesen: Musikschulen, Schulen und außerschulische Bildungsträger sicherten „Zugänge zur Musik für alle“. Dabei müssten sie dauerhaft unterstützt werden – durch Rückkehr zum Präsenzunterricht, Maßnahmen gegen den nach wie vor gravierenden Mangel an Musiklehrkräften oder Ausstattung mit zeitgemäßer Technik. Der musikalische Nachwuchs brauche eine Perspektive, eine stabile Kulturfinanzierung sei notwendiger denn je. Darüber hinaus gelte es, die Relevanz der Musik in der gesellschaftlichen Wahrnehmung weiterhin zu stärken und einer Erosion der Amateurmusik entgegen zu wirken, in der sich 14,3 Millionen Menschen in Deutschland engagieren.
Die Studie kann auf der Website des DMR abgerufen werden: https://www.musikrat.de/aktuelles
ChoCo: Chöre aus dem Takt
Die deutschsprachige Chorlandschaft hat im vergangenen Jahr erheblichen und möglicherweise dauerhaften Schaden durch genommen. Zu diesem (wenig überraschenden) Ergebnis kommt eine Online-Studie, die unter Leitung der Eichstätter Musikwissenschaftlerin Kathrin Schlemmer durchgeführt wurde. Erste Ergebnisse wurden Anfang Mai veröffentlicht. Die Studie „Chormusik in Coronazeiten“ (ChoCo) dokumentiert die kritische Lage in diesem Bereich und bezieht dabei zahlreiche Aspekte von Chorarbeit ein (siehe nmz 5/2021).
An der Befragung beteiligten sich über 4.300 Chöre aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mehr als zwei Drittel berichten von einem mehr oder weniger umfassenden Mitgliederschwund. Fast ebenso viele erwarten, dass sie auch in der Zeit nach der Pandemie nicht mehr zu ihrer früheren Besetzungsstärke zurückfinden werden, und immerhin 15 Prozent befürchten einen deutlichen Rückgang des Interesses am Chorsingen nach der „Coronapause“.
Mitgliederschwund trotz alternativer Probenformate
Die Studie bestätigt ein Bild, das auch an dieser Stelle in der NMZ bereits mehrfach skizziert wurde: Chöre und Chorleiter*innen haben ein beachtliches Repertoire kreativer Möglichkeiten entwickelt, um auch unter Corona-Bedingungen weiter gemeinsam musikalisch arbeiten zu können – vom Singen in Freien bis hin zu Online-Proben und hybriden Formaten. Etwa die Hälfte der Chöre berichtet von positiven Erfahrungen mit dem sozialen Zusammenhalt. Die „neuen“ Probenformate gehen aber mit hohem Aufwand für alle Beteiligten einher. Zudem können selten alle Mitglieder eines Ensembles auf diesem Weg erreicht werden. Dauerhaft reduzierte Probemöglichkeiten in Verbindung mit fehlenden Auftrittsgelegenheiten führen bei über der Hälfte der Chöre nach eigener Auskunft nicht nur zu einer Verschlechterung der Stimmung, sondern auch zu einem Nachlassen der musikalischen Qualität.
Aufhorchen lässt, dass insbesondere die 580 an der Umfrage teilnehmenden Kinder- und Jugendchöre von nachlassendem Zusammenhalt berichten. Hier scheint auch der Mitgliederverlust besonders ausgeprägt zu sein: Fast jeder achte Kinder- und Jugendchor existiert demnach bereits nicht mehr. Studienleiterin Schlemmer konstatiert, dass die Nachwuchsensembles offenbar besonders anfällig gegenüber den langen Unterbrechungen der Proben- und Konzerttätigkeit seien.
Unsichere finanzielle Situation
Fehlende Auftrittsmöglichkeiten wirken sich nicht nur auf Motivation und musikalische Leistungsfähigkeit aus: Auch die Einnahmen aus Konzerten fehlen. Jeder dritte Chor beurteilt unter anderem deshalb seine finanzielle Situation als unsicher, weitere 20 Prozent rechnen für die kommenden beiden Jahre mit finanziellen Problemen. Dass es sich hier nicht um ein „Luxusproblem“ handelt, wird unter anderem daran deutlich, dass etliche Chöre ihre (ja oft freiberuflichen) Leiterinnen und Leiter mittlerweile nicht mehr oder nicht mehr voll finanzieren können.
Pessimistischer Blick in die Zukunft
Die Befragung fand Anfang des Jahres statt, also noch vor der dritten Corona-Welle. Das Projektteam geht davon aus, dass sich durch die nach wie vor unsicheren Öffnungsperspektiven für Vokalensembles die Situation weiter verschlechtern könnte: „Von vielen anderen Bereichen des öffentlichen Lebens wird sich die Erholung bei den Chören unterscheiden, eine baldige Wiederherstellung des normalen Chorlebens ist zeitnah nicht zu erwarten.“
Schnelltests und finanzielle Hilfen?
Erfragt wurde auch, welche Hilfestellungen sich Chöre und ihre Leiter*innen in der aktuellen Lage wünschen. An der Spitze stand Hilfe bei der Finanzierung von Schnelltests, gefolgt von Unterstützung bei den Honoraren für die Dirigentinnen und Dirigenten, Zuschüsse für Notenmaterial und einer Ausfallversicherung bei Konzerten in der aktuell unsicheren Pandemielage.
In den kommenden Wochen stehen noch weitere Auswertungsschritte an, im Fokus werden dann Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Chören und regionale Besonderheiten stehen. Ausgewertet werden sollen auch offene Antworten, in denen die Chöre ihre Situation mit eigenen Worten schildern sollten.
Ein ausführlicher Beitrag zur ChoCo-Studie der Universität Eichstätt ist unter http://www.nmz.de/choco abrufbar.