Stellen Sie sich vor, Sie müssten Musik unterrichten, können aber keine Noten lesen und auch kein Instrument spielen. Im Singen sind Sie auch nicht so geübt und halten sich außerdem nicht für besonders musikalisch. Geht gar nicht? Leider doch. Dies ist die Realität für viele Grundschullehrer/-innen in Deutschland, die das Fach Musik zu etwa 75 bis 80 Prozent fachfremd unterrichten. Gabriele Schellberg (Universität Passau) stellt Erkenntnisse zum musikalischen Selbstkonzept „fachfremder“ Lehramtsstudierender vor.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil der fachfremd unterrichtenden Lehrer/-innen traut sich Musikunterricht nicht zu – obwohl viele „Fachfremde“ guten Musikunterricht erteilen. Ein geringes musikalisches Selbstbewusstsein sowie die Überzeugung, dass für Musik ein bestimmtes Maß an Begabung notwendig sei, führen zu Verunsicherung (Hammel 2011) und einem Vermeidungsverhalten, so dass Musik nicht oder zu wenig unterrichtet wird.
Durch den grundlegenden Unterricht in der Grundschule, der eine flexible Zeiteinteilung ermöglicht, ist dies auch möglich. Häufig wird viel Zeit für die „wichtigen“ Fächer Lesen, Schreiben und Rechnen gebraucht, so dass bei Zeitmangel gelegentlich ein Fach weggelassen oder gekürzt wird, in dem man sich nicht so sicher fühlt. Dies ist häufig das Fach Musik. Wenn man sich vor Augen hält, dass Lehrer in der Grundschule insbesondere bei Schülern mit musikfernen Elternhäusern oft die alleinige Verantwortung für den Aufbau musikalischer Selbstkonzepte bei Schülern haben, wird die Relevanz des Themas deutlich. Grundschullehrer/-innen können den Kindern einen Weg für positive lebenslange musikalische Entwicklung eröffnen – oder diese Chance wird in einem Alter vertan, in dem Kinder besonders zugänglich und begeisterungsfähig für Musik sind.
Konzept der Basisqualifikation Musik
Um diesem schon seit Jahrzehnten bestehenden Problem zu begegnen, wäre es sinnvoll, die künftigen Grundschullehrer/-innen schon im Studium auch für das Fach Musik auszubilden. Die bayerische Staatsregierung hat daher 2002 ein Pflichtseminar – die sogenannte „Basisqualifikation“ – für alle Studierenden im Lehramt Grundschule eingeführt, die Musik nicht als Unterrichtsfach gewählt haben. 2008 kam noch die Basisqualifikation für Kunst und Sport hinzu. Somit bekommen angehende Grundschullehrer – übrigens bundesweit einmalig – eine Basisausbildung in Fächern, die sie nicht studiert haben, aber später unterrichten müssen.
Neben der Ermutigung der „Nichtmusiker“ ist das Ziel des Seminars im Fach Musik die Vermittlung von Grundkompetenzen für alle Bereiche des Musikunterrichts; genauer gesagt die „Vermittlung musikdidaktischer und musikpraktischer Grundkompetenzen, wie sie zum Unterrichten von Musik in allen geforderten Bereichen des Lehrplans (Singen und Stimmbildung, Elementares Instrumentalspiel, Musikhören, Bewegung, Tanz und Szenisches Spiel) notwendig sind“ (Bayerisches Staatsministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst, Amtsblatt Nr. 23, 2013).
Da die Vermittlungsfähigkeiten im Vordergrund stehen, werden die Inhalte überwiegend durch musikpraktische Tätigkeiten, die für den Musikunterricht in der Grundschule relevant sind, gelehrt. Die Seminarteilnehmer fungieren als Gruppe, die auf Instrumenten spielt, die Schritt für Schritt verschiedene Möglichkeiten der Liederarbeitung erfährt, tanzt und Methoden des Musikhörens erprobt.
Was kann ein in der Regel zweistündiges Seminar über ein Semester bewirken? Es kann aus Teilnehmern mit geringen musikalischen Vorkenntnissen so schnell keine guten Musiker machen, aber die Seminarleiter/-innen – in der Regel Grundschullehrer/-innen mit Hauptfach Musik – ermöglichen den Teilnehmern musikalische Erfahrungen und Lernprozesse. Trauen sich die Studierenden danach eher zu, das Fach Musik zu unterrichten? Mit welchen musikalischen Vorerfahrungen kommen die Teilnehmer? Für wie musikalisch halten sie sich?
Zu diesen Fragen wurden über mehrere Semester Fragebogenstudien durchgeführt. Teilnehmer waren 381 Studierende im Lehramt Grundschule verschiedener bayerischer Universitäten über drei Semester: WiSe 13/14, SoSe 14, WiSe 14/15 (Durchschnittsalter 22 Jahre). Darin wurden die Selbsteinschätzungen der Studierenden am Anfang und Ende des Semesters verglichen.
Semesteranfang
Im Fragebogen am Semesteranfang ging es unter anderem um Gründe, das Fach Musik nicht gewählt zu haben, musikalische Vorerfahrungen und Erinnerungen an den eigenen Musikunterricht in der Grundschule. Obwohl 86 Prozent der Studierenden angaben, ein Musikinstrument gespielt zu haben, hat sich ein gutes Drittel das Fach Musik nicht zugetraut.
Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden (57 %) gab an, zurzeit selten bis nie zu singen (Abb. 1). Im Vergleich zur Untersuchung von 2004 (Schellberg 2005) ist der Anteil derjenigen, die nie singen, von 9 auf 24 Prozent gestiegen. Dafür hören 86 Prozent viel Musik in der Freizeit und für die große Mehrheit ist Musik persönlich sehr wichtig. Alle sind der Ansicht, dass Musikunterricht den Kindern Freude machen sollte, dass sich musikalische Aktivitäten gut zur Auflockerung im Unterrichtsalltag eignen und dass durch gemeinsames Musizieren soziale Kompetenzen gefördert werden. Da davon auszugehen ist, dass nicht alle Teilnehmer das Seminar freiwillig besuchen, zeigt sich demnach eine erfreulich positive Einstellung zur Musik beziehungsweise zum Fach Musik.
Beim eigenen Musikunterricht in der Grundschule erinnerten sich 86 Prozent (teilweise nur) an das Singen, gefolgt von Orff-Instrumenten (46,5 %), Theorie (41,9 %) und Musikhören (43 %). Jeweils einem knappen Drittel fielen noch Vorsingen, Tanzen/Bewegung und Aufführungen ein. Sechs Prozent konnten sich nicht erinnern.
Semesterende
Am Semesterende wurde gefragt, ob ein Bereich der Basisqualifikation besonders Spaß gemacht habe. Fast alle nannten einen oder mehrere Bereiche wie das Instrumentalspiel, Singen, Tanzen, Klanggeschichten und andere, ebenso die Praxisnähe. Auf die Frage, ob etwas neu war, antworteten 20 Prozent mit „nichts“, aber fast so viele (18 %) schrieben „fast alles“ oder „so gut wie alles“. Für ein weiteres Fünftel (19 %) waren die didaktischen Zugänge und die Unterrichtsvorbereitung für das Fach Musik neu. Viele haben erstmalig Instrumente wie Boomwhackers kennengelernt sowie erfahren, dass man Musik auch mit Alltagsgegenständen beziehungsweise Percussion mit Händen, Füßen und Bechern machen kann. Wie man mit Kindern improvisieren und Musik erfinden kann, Gedichte vertont, Stimmbildungsgeschichten entwirft und Lieder erarbeitet, wurden ebenfalls als neue Bereiche genannt. Zwei Drittel zeigten sich überrascht von der Vielfalt der Inhalte des Musikunterrichts, worin sich offenbar der schon lange andauernde Mangel an ausgebildeten Musiklehrern in der Grundschule widerspiegelt. Vor Einführung der Basisqualifikation erhielten diese gar keine Musikausbildung und ihre Schüler haben demzufolge auch nicht die mögliche Bandbreite des Musikunterrichts kennenlernen können. So waren etliche erstaunt, „dass Musikunterricht so vielseitig, abwechslungsreich und spannend ist“ (w, 22).
43 Prozent wurden durch das Seminar angeregt, musikalisch aktiv(er) zu werden. Einig waren sich die Studierenden darin, dass die Materialien aus dem Seminar für den künftigen Musikunterricht sehr hilfreich sein werden. Erfreulich ist auch die hohe Bereitschaft, Fortbildungsangebote im Fach Musik zu besuchen (fast 90 %).
Einschätzung der eigenen Musikalität
Ein wichtiges Ergebnis betrifft die Einschätzung der eigenen Musikalität auf einer Skala von 1 (wenig musikalisch) bis 10 (sehr musikalisch). Die meisten gaben dabei anfangs einen mittleren Wert an, wie in Abbildung 2 zu sehen ist. Die Verteilung entspricht annähernd der Normalverteilung. Der Durchschnitt liegt bei 5 (5,09). Am Semesterende ist im Vergleich eine Verlagerung nach rechts zu erkennen (Abb. 2 rechts). Demnach schätzen viele Studierende ihre Musikalität dort höher ein als am Anfang. Der am häufigsten angegebene Wert liegt nicht mehr bei 5, sondern bei 6 und 7 mit einem Mittelwert von 5,67. Dieser Unterschied zwischen Semesteranfang und -ende ist auch statistisch signifikant (p=000). Beachtenswert ist, dass sich etliche mit der anfangs geringsten Einschätzung am Semesterende für musikalischer halten (Schellberg 2016).
Die offene Frage, wie die Studierenden ihrem künftigen Musikunterricht entgegensehen, erhielt überwiegend positive Antworten („mit Freude“, „positiv“, „viel positiver“, „weitgehend optimistisch“, „gut/besser vorbereitet“, „die Angst davor ist weniger“, „gemischt“, „sehr zuversichtlich“). Damit ist ein Hauptziel des Seminars, den Studierenden die Schwellenangst zu einem Fach zu nehmen, in dem sie sich unsicher fühlten, erreicht worden. Besonders deutlich wird dies in der Aussage eines Studierenden: Musikunterricht war für ihn „bisher unvorstellbar, jetzt machbar“.
Die Ergebnisse zeigen, dass es gelingen kann, durch Förderung in Form eines Universitätsseminars die Selbstwirksamkeitserwartung für den Musikunterricht zu erhöhen. Durch die praktische Musikausübung und das gemeinsame Musizieren wurden sich die Studierenden ihrer eigenen musikalischen Fähigkeiten bewusst und die Selbstwahrnehmung ihrer Stärken wurde aktiviert. Die höhere Einschätzung der eigenen Musikalität legt nahe, dass so die Entwicklung eines positiven musikalischen Selbstkonzepts auch im Sinne von Selbstwirksamkeitserwartungen befördert werden kann (Spychiger, 2007). Die Art der musikalischen Erfahrung steht in direkter Beziehung zu den Einstellungen und Haltungen der Lehrer bezüglich ihrer musikalischen Kompetenz (Barry 1992). Durch das Seminar haben die Studierenden gemerkt, dass es viele musikalische Tätigkeiten gibt, die man auch ohne ausgeprägte Singfähigkeiten oder Spielfertigkeiten auf Instrumenten ausführen kann. Dazu zählen die Bewegung zur Musik, das Tanzen, das Erfinden von Musik, das Ausführen von Rhythmen durch Bodypercussion, Alltagsgegenstände und Rhythmusinstrumente sowie das Erschließen musikalischer Werke durch verschiedene Methoden. Auch dies könnte dazu beitragen, dass sich die Teilnehmer nach dem Seminar häufig mehr zutrauen als vorher. Wem hier wichtige Bereiche fehlen, der muss sich vor Augen halten, dass die Alternative darin bestünde, dass der Musikunterricht ganz ausfällt. Außerdem wäre zu hoffen, dass sich die angehenden Lehrkräfte mit der Zeit mehr zutrauen. Dies müsste noch erforscht werden.
Es spielt auch eine Rolle, ob für den Besuch des Seminars eine Anwesenheitspflicht gefordert ist oder nicht. Bei der Singbereitschaft („Meine Bereitschaft, mit Kindern zu singen ist sehr hoch.“) und beim Entgegensehen des künftigen Unterrichts („Meinem künftigen Musikunterricht sehe ich sehr optimistisch entgegen.“) zeigten Studierende mit Anwesenheitspflicht am Semesterende eine höhere Zunahme in der Zustimmung zu diesen Aussagen, die auch statistisch signifikant ist.
Die Form des Fragebogens wird aktuell weiter modifiziert und in weiteren Studien eingesetzt und erforscht. Die oft begeisterten Kommentare der Studierenden lassen wünschen, dass ein derartiges Seminar auch in anderen Bundesländern für Studierende des Grundschullehramts angeboten wird.
Literatur
- Barry, N. H. (1992): Music and Education in the Elementary Music Methods Class. Journal of Music Teacher Education Spring 1992 1:(2 Fall), 16–23.
- Hammel, L. (2011): Selbstkonzepte fachfremd unterrichtender Musiklehrerinnen und Musiklehrer an Grundschulen. Eine Grounded-Theory-Studie. Berlin [u.a.]: Lit.
- Schellberg, G. (2005): Musikalische Voraussetzungen künftiger Grundschullehrer, in: Vogt, J. (Hrsg.), Musiklernen im Vor- und Grundschulalter (S. 78–93). Essen: Die Blaue Eule.
- Schellberg, G. (2016): „Mein musikalisches Selbstbewusstsein ist gewachsen!“ – Wirkungen eines Pflichtseminars für Grundschullehramtsstudierende, in: Oravec, L. & Weber-Krüger, A. (Hrsg.): Musiklernen in der Grundschule. Impulse aus Elementarer und schulischer Musikpädagogik, Essen: Blaue Eule, S. 143–171.
- Spychiger, M. (2007): „Nein, ich bin ja unbegabt und liebe Musik“. Ausführungen zu einer mehrdimensionalen Anlage des musikalischen Selbstkonzepts. Diskussion Musikpädagogik (33), 9–20.