Im Zentrum der folgenden Unterrichtssequenz steht der bekannte Song Azzurro in der Version der deutschen Jazz-Formation Trio ELF. Das Original in der Version von Adriano Celentano dürfte vielen Schülerinnen und Schülern bekannt sein. Über diesen Einstieg mit Bezug zu ihrer Lebenswelt sollen die Schülerinnen und Schüler einen schnellen Zugang zu einer zeitgenössischen Jazzinterpretation finden. Alle im Folgenden erwähnten Titel sind auf diversen Internetplattformen wie iTunes oder Amazon.de als Einzeltitel-Downloads erhältlich. Die Unterrichtssequenz richtet sich an die hohe Sekundarstufe I oder die Sekundarstufe II. Für eine fundierte Betrachtung aller Aspekte sind zwei Unterrichtsstunden notwendig.
Azzurro
Der Song Azzurro wurde von Paolo Conte, Michele Virano und Vito Pallavicini 1968 für Adriano Celentano komponiert und getextet. Dieser nahm die wohl bekannteste Version dieses Titels im selben Jahr auf. Es folgten unzählige Coverversionen, zum Beispiel auch von der deutschen Band Die Toten Hosen. Schließlich nahm sogar der Komponist Conte den Song in einer reduzierten Version für Stimme und Klavier auf. Gerade für viele Deutsche steht der Song symbolisch für Italien mit Sonne, Strand, Meer und Urlaub. Dabei wird allerdings übersehen, dass der Text des Songs keinesfalls von guten Zeiten erzählt. Stattdessen bestimmen poetische Bilder von Einsamkeit dessen Verse. So lauten die ersten Zeilen des Refrains „Azzurro, il pomeriggio è troppo azzurro e lungo per me“ – „Blau, der Nachmittag ist zu blau und zu lang für mich“.
Trio ELF
Trio ELF ist eine Formation aus München und Regensburg, bestehend aus den Musikern Walter Lang (Klavier), Sven Faller (Kontrabass) und Gerwin Eisenhauer (Schlagzeug). Der Name der Gruppe setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der jeweiligen Nachnamen zusammen. Die Formation besteht seit 2003, wobei jeder der Musiker unabhängig von Trio ELF einen festen Namen in der deutschen und internationalen Jazz-Szene hat. Walter Lang ist seit vielen Jahren ein bekannter deutscher Jazz-Pianist und pflegt ein lyrisches, häufig klassisch geprägtes Spiel in der Nachfolge von Bill Evans. Sven Faller war vor seiner Zeit bei Trio ELF Sideman von Konstantin Wecker. Gerwin Eisenhauer ist einer der bekanntesten Schlagzeuger der deutschen Jazz-Szene und ein gefragter Session-Musiker. Komplettiert wird das Trio von ihrem Mischer, Mario Sütel, der zusammen mit Faller durch den Einsatz von Live-Elektronik maßgeblichen Anteil am einzigartigen Sound-Konzept der Band hat. Die Musik der Gruppe lebt von den Gegensätzen und dem Raum zwischen Langs melodischem Klavier- und Eisenhauers treibendem Schlagzeugspiel, das Drum’n’Bass-Beats, die normalerweise am Computer erzeugt werden, virtuos auf einem realen Drum-Set umsetzt.
Trio ELF ist die einzige deutsche Jazz-Formation, der das renommierte amerikanische Jazzmagazin „Downbeat“ in den letzten Jahren eine komplette Seite gewidmet hat. Unter www.trioelf.de finden sich Hörproben und weitere Informationen zur Gruppe.
Modul 1 (Liedeinstudierung):
Sie beginnen die Unterrichtssequenz mit der Liedeinstudierung von Conte/Celentanos Original. Leadsheets des Songs finden sich in vielen gängigen Liederbüchern, wie z.B. in „QuerBeet“ (verlegt von der Jugendbildungsstätte Waldmünchen und ohne Probleme im Fachhandel oder Internet erhältlich) oder im „Schul-Liederbuch“ des Schott-Verlags. Azzurro hat einen verhältnismäßig großen Ambitus mit fast zwei Oktaven, der sich aber unkompliziert vereinfachen lässt: die teilweise sehr tief liegenden Auftakte der Refrain-Verse können beispielsweise einfach auf dem gleichen Ton gesungen werden, wie der darauffolgende Ton des nächsten Volltaktes. Als Tonart empfiehlt sich das a-Moll/A-Dur des Originals. Dadurch kann auch ein unerfahrener Bassist schnell eine stilechte Begleitung für die Strophe mit leeren Saiten im Wechselbass-Verfahren erlernen, ein geübterer Spieler schafft normalerweise auch den Refrain des Liedes auf der Basis der angegebenen Akkordsymbole problemlos. Sollte es das Zeitkontingent erlauben, kann auch noch ein einfacher Backbeat auf dem Schlagzeug oder der Cajon hinzugefügt werden. Da die Melodie den meisten Schülern bekannt sein dürfte, sollten Sie etwas Zeit auf die korrekte italienische Aussprache verwenden und diese mit den Schülerinnen und Schülern einstudieren.
Modul 2 (Liedvergleich):
Der folgende Vergleich orientiert sich an den Kategorien zum Vergleich von Coverversion und Original, die sich im Oberstufenbuch „TONART“ (Helbling Verlag) auf S. 189 finden. Falls die darin beschriebenen Möglichkeiten Imitation, Paraphrase und Kontrast schon bekannt sind, beschleunigt dies das Vorgehen. Zwingend notwendig ist dies allerdings nicht, da diese auch mit einer kurzen Erläuterung während des Vergleichs vorgestellt werden können.
Verglichen wird die Aufnahme von Adriano Celentano mit der Version des Komponisten Paolo Conte, die etwa zwanzig Jahre später entstanden ist. Hier stichpunktartig vorgestellt, werden folgende Ergebnisse hörend via Höranalyse erarbeitet:
Gesang: Beide Künstler singen nicht im herkömmlichen Stil. Celentanos Stimme wirkt durchgehend rau, teilweise ungeübt und gegen Ende des Liedes auch brüchig. Conte pflegt einen parlando-artigen Stil, der häufig mehr an „Sprechen-auf-Tonhöhe“ erinnert als an tatsächlichen Gesang; er wirkt insgesamt hektisch und häufig kurzatmig.
Begleitung: Celentanos Version wird von einem kleinen Orchester sowie einer Band mit Schlagzeug, E-Bass und Gitarre begleitet, bei dem besonders die Posaunen das Klangbild dominieren. Deren charakteristische Zwischenspiel-Melodie sollte unbedingt thematisiert werden, da diese in der Version von Trio ELF auf interessante Art und Weise adaptiert wird. Contes Version hingegen stützt sich nur auf ein Klavier und ist deutlich schneller als Celentanos Aufnahme.
Als Fazit des Versionsvergleichs stehen folgende Erkenntnisse: Conte wählt einen alternativen Interpretationsansatz bei seiner Version, der am ehesten zur Kategorie Paraphrase passt. Es ist zu vermuten, dass die reduzierte Vortragsart Contes eher zu dessen Auftreten als Liedermacher gepasst hat und dass er als Komponist des Lieds offensichtlich wichtige inhaltliche Aspekte in Celentanos Version nicht verwirklicht sah. Spätestens hier muss kurz auf den Inhalt des Songtextes eingegangen werden. Auf eine ausführliche Liedtextbetrachtung sollte aber aus Zeitgründen verzichtet werden. Auch wenn der Textanteil für Modul 2 an dieser Stelle gegenüber dem von Modul 1 deutlich überwiegt, sollte im Rahmen der ersten Unterrichtsstunde viel gesungen und musiziert und deutlich weniger über Musik gesprochen werden. Da der Songablauf bei beiden Version grundsätzlich gleich bleibt (Celentano wiederholt den letzten Refrain öfter) empfiehlt es sich, von beiden Versionen nur Ausschnitte zu betrachten. Da die Liedeinstudierung das zentrale Ziel der ersten Stunde ist, kann auf eine schriftliche Ergebnissicherung verzichtet werden.
Die zweite Stunde sollte mit einer Anknüpfung an die Liedeinstudierung eröffnet werden – entweder als Wiederholung des Erübten oder als Fortführung.
Modul 3 (Trio ELF: Azzurro):
Interessant an der Interpretation von Trio ELF ist die komplett unterschiedliche Herangehensweise im Vergleich zu den beiden davor betrachteten Versionen. Die Musiker sehen Azzurro nicht als Song an sich, sondern verwenden die Komposition mit ihren Bauteilen als „offenen Baukasten“. Daraus suchen sie sich bestimmte Bestandteile heraus, die sie neu anordnen und ergänzen. Deutlich wird dies schon beim Ablauf: Intro – Strophe – Klavierimprovisation 1 (ca. 30 Sek.) – Refrain – Zwischenspiel (Bass und Drums) – Klavierimprovisation 2 mit verzerrtem Klaviersound (ca. 2 Min.) – Refrain – zunehmend gesteigertes Intro als Outro mit Fade out.
Die Songbestandteile werden hier ihrer ursprünglichen Funktion beraubt: Als Intro fungiert die Posaunenmelodie aus der Celentano-Version, allerdings rhythmisch leicht modifiziert und in hohem Tempo auf dem Kontrabass gespielt. Dieses Ostinato (oder in diesem Zusammenhang besser: Riff) läuft durch die Strophe und alle Klavierimprovisationen als modale Grundlage. Die ursprüngliche Strophenmelodie taucht nur kurz zu Beginn der gut sechsminütigen Interpretation auf, im Sinne einer auskomponierten Themenphase, wie sie im Modern-Jazz üblich ist. Der Refrain lässt durchweg die Aufhellung vermissen, die in den beiden Versionen von Celentano und Conte zu hören ist. Stattdessen vollzieht die Gruppe einen Tempobruch, bei dem die peitschenden Drum’n’Bass-Rhythmen richtiggehend abreißen und die Refrain-Melodie mit nüchternen, teilweise stark alterierten Akkorden begleitet wird. Aus dem extrovertiertesten Formteil des Originals wird hier das introvertierteste, dessen einzige Funktion es zu sein scheint, einen Kontrast zu den anderen Teilen zu bieten.
Für eine schulische Betrachtung des Songs reicht es, diesen bis zum Zwischenspiel (ca. 2:10) vorzuspielen. Die Schüler erarbeiten sich die Eigenheiten dieser Interpretation mit Hilfe von Stützfragen, die die Lehrkraft z.B. via Overhead-Folie präsentiert:
Der Songverlauf von Azzurro bei Trio ELF unterscheidet sich klar vom Original. Beschreibe die Unterschiede. Lies dabei in Deinem Notenblatt mit und versuche, ggf. einzelne Teile einander zuzuordnen.
Wie treu halten sich die Musiker an die Melodie des Originals?
Beschreibe die „Kräfteverhältnisse“ bzw. die Gruppendynamik von Trio ELF in der Strophe von Azzurro.
Die Ergebnisse, die im folgenden Unterrichtsgespräch gesammelt werden, können stichpunktartig beispielsweise so aussehen:
- Intro und Strophe wie im Original, dann aber Klavierimprovisation über das Begleitmuster der Strophe; dann Refrain, allerdings im p
- Melodie der Strophe wird fast identisch übernommen, nur der vierte Ton des zweiten Taktes (hier: g) wird um einen Halbtonschritt erhöht -> orientalische Wirkung
- Klavier und Kontrabass/Schlagzeug musizieren scheinbar getrennt voneinander – unterschiedliche Tempoebenen; Klaviermelodie wird nicht durch die ursprünglichen Akkorde gestützt, stattdessen läuft das Anfangsthema als Ostinato weiter
Es bietet sich an, diese Ergebnisse in einem tabellarischen Tafelbild zu sichern. Am Ende dieser Betrachtung sollte ein abschließendes Fazit stehen, das sich beispielsweise wie folgt lesen könnte:
Der Formation Trio ELF geht es bei ihrer Neuinterpretation von Azzurro nicht darum, eine herkömmliche Coverversion des Stücks zu erstellen. Stattdessen verwenden sie einzelne Bauteile des Originals, lösen diese aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang und setzen sie neu zusammen. Eine besondere Bedeutung erhält dabei die Posaunenmelodie des Intros, die in weiten Teilen der Version von Trio ELF zum Einsatz kommt.
Als hilfreich bei der Erarbeitung dieses Fazits hat sich die Analogiebildung zu Skulpturen des Künstlers Arman erwiesen. Dieser zerlegt häufig Violinen, deren Einzelteile er dann zu Skulpturen neu arrangiert. Ein kurze Google-Suche mit den Wörtern „arman“ und „violin“ wird Sie schnell zu Bildern führen, die Sie Ihren Schülern als Hilfestellung für diese Abrundung präsentieren können.