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Prozentuale Verteilung der Angaben zur Hilfsbereitschaft, Gelerntes an Mitschüler weiterzugeben, getrennt nach Schülern, die angeben ein bzw. kein Musikinstrument zu spielen. Quelle: Groß & Schwippert, 2016, S. 95.
Prozentuale Verteilung der Angaben zur Hilfsbereitschaft, Gelerntes an Mitschüler weiterzugeben, getrennt nach Schülern, die angeben ein bzw. kein Musikinstrument zu spielen. Quelle: Groß & Schwippert, 2016, S. 95.
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Wie „wirkt“ Klassenmusizieren?

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Ergebnisse empirischer Bildungsforschung zu „Jedem Kind ein Instrument“
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„Kinder, die ein Musikinstrument erlernen, nehmen nachweislich auch schulisches Wissen leichter auf. Die motorischen, kreativen und sozialen Fähigkeiten der Mädchen und Buben werden deutlich positiv beeinflusst. […] Der spielerische Umgang mit der Musik, schult die Wahrnehmung, Konzentrations- und Koordinationsfähigkeit.“ (1)

Mit solchen und ähnlichen gesellschaftlichen Erwartungen ist das kulturelle Bildungsprogramm „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) verbunden; von Beginn an ebenso ambitioniert wie umstritten, läuft es mit dem Schuljahr 2017/18 aus und wird in Nordrhein-Westfalen durch das Nachfolgeprojekt „Jedem Kind Ins-trumente, Tanzen, Singen“ (JeKits) abgelöst. Ursprünglich für Grundschulen im Ruhrgebiet konzipiert, wurde das Projekt rasch auf Schulen in Hessen und Hamburg ausgeweitet; ähnliche Initiativen gibt es mittlerweile in zahlreichen weiteren Bundesländern.

Seit 2007 investierten verschiedene Stiftungen sowie das Land Nordrhein-Westfalen jährlich jeweils gut 10 Millionen Euro in JeKi. Finanziert wird damit ein mehrstufiges Ausbildungskonzept, das sich über die gesamte Grundschulzeit erstreckt. Im ersten Schuljahr nehmen alle Kinder der beteiligten Grundschulen kostenlos am Programm teil, erfahren eine „musikalische Grundausbildung“ und lernen eine Vielzahl an Musikinstrumenten kennen, aus denen sie schließlich eines für den folgenden Instrumentalunterricht auswählen. Verfügbar sind Streich- und Blasinstrumente, Tasteninstrumente, Schlag- und Zupfinstrumente – je nach örtlichen Gegebenheiten und Kompetenzen der beteiligten Lehrkräfte allerdings in recht unterschiedlicher Anzahl und Zusammenstellung. Ab dem zweiten Schuljahr erhalten die Kinder einmal wöchentlich Instrumentalunterricht in Gruppen zu durchschnittlich fünf Kindern, die Teilnahme kostet monatlich 20 Euro. Jedes Kind bekommt „sein“ Musikinstrument als kostenlose Leihgabe auch zum Üben mit nach Hause. In den Jahrgangsstufen drei und vier wird der Ins-trumentalunterricht durch das Spiel in einem jahrgangsübergreifenden Schulensemble ergänzt, die Teilnahmekosten steigen auf 35 Euro pro Jahr. Am Ende jedes Schuljahrs findet ein Abschlusskonzert statt.

2009 startete ein wissenschaftliches Begleitprojekt zu „Jedem Kind ein Instrument“, finanziert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Über 30 Forscherinnen und Forscher aus Erziehungswissenschaften, Musikpädagogik, Musikpsychologie und Neurowissenschaften arbeiteten sieben Jahre lang in interdisziplinären Verbünden zusammen. In 16 Teilprojekten befassten sie sich einerseits mit Prozessqualitäten des JeKi-Unterrichts, andererseits mit dessen Wirkungen auf musikalischem und außermusikalischem Gebiet. Im Sommer 2016 fand an der TU Dortmund die Abschlusstagung dieser Begleitforschung statt – Anlass für eine Zusammenfassung ausgewählter Ergebnisse zu Wirkungen von JeKi.

JeKi kann kulturelle Zugangsgerechtigkeit herstellen – aber nur vorübergehend

Ein wichtiger Anspruch von JeKi ist das Ermöglichen kultureller Teilhabe für jedes Kind – ungeachtet seiner Herkunft und sozioökonomischen Lage. Entsprechend hohe Bedeutung kam der Forschungsfrage „Wer nimmt an JeKi teil – und warum?“ zu. In den Teilstudien BEGIn, TIAMu und WILMa – Kulturelle Teilhabe konnte gezeigt werden, dass zu Beginn des Projekts tatsächlich Zugangsgerechtigkeit für alle Kinder hergestellt war. Die Teilnahme erfolgte unabhängig von Geschlecht, Migrationshintergrund oder sozioökonomischem Status des Elternhauses. Über die gesamte JeKi-Laufzeit sowie die ersten drei Jahre in der weiterführenden Schule hinweg spielten vor allem zwei Faktoren eine Rolle für die weitere Teilnahme eines Kindes am Programm beziehungsweise das Weiterlernen am Instrument: sein musikalisches Selbstkonzept und die Relevanz, die die Eltern der musikalischen Ausbildung zumaßen. Nachteile, die aus einer schwierigen sozioökonomischen Lage der Familie resultieren, konnte JeKi am Beginn der Grundschulzeit offenbar tatsächlich gut auffangen; ab der dritten Klasse und insbesondere nach dem Übergang in weiterführende Schulen machten sie sich aber wieder deutlich bemerkbar (Koal, Busch & Kranefeld, 2016, S. 46). Dennoch: 202 Sechst- und Siebtklässler hatten im Rahmen der Studie WILMa – Kulturelle Teilhabe angegeben, in der Grundschule am JeKi-Unterricht teilgenommen zu haben. Von ihnen nahmen immerhin 54,8 Prozent nach der Grundschulzeit weiterhin Unterricht auf ihrem JeKi-Instrument (24,6 %) oder auf einem anderen Musikinstrument (30,2 %) (Krupp-Schleußner & Lehmann-Wermser, 2016, S. 61).

Förderung kultureller Integration, aber kein Ausgleich kumulierter Risikofaktoren

Die Forscherteams des Projekts MEKKA (Musikerziehung, kindliche Kognitionen und Affekt) interessierten sich unter anderem für die Frage, inwieweit kulturelle Anpassungsprozesse von Kindern mit Migrationshintergrund (Akkulturation) durch JeKi gefördert werden. Insbesondere bei Jungen und für das dritte und vierte JeKi-Jahr konnte tatsächlich eine stärkere Orientierung an der Aufnahmekultur festgestellt werden – ohne dass dies mit einer Abwendung oder gar Entfremdung von der Herkunftskultur verbunden gewesen wäre (Bongard et al., 2015, S. 179 f.).

Dagegen konnten für Kinder mit kumulierten Risikofaktoren (geringe kognitive Grundfähigkeiten, niedriger sozioökonomischer Status des Elternhauses) nicht die erhofften positiven Auswirkungen einer Teilnahme an JeKi festgestellt werden: Sie wiesen eine deutlich geringere Teilnahmequote in den JeKi-Jahren drei und vier auf als JeKi-Kinder, die nicht zur Risikogruppe gezählt wurden. Im Bereich der sozialen Integration in die Klasse wiesen solche „Risiko-Kinder“ allerdings bis zum Ende der Projektlaufzeit eine kontinuierliche Zunahme auf – anders als die Kinder der beiden Kontrollgruppen  (Nonte & Schwippert, 2015, S. 229 ff).

Keine Auswirkungen auf Schulerleben und Klassenklima – positive Effekte auf Stressbewältigung
Die Studie WILMa – Transfer befasste sich mit den Auswirkungen des Musizierens in JeKi auf ausgewählte Aspekte des Schulerlebens von Kindern, also auf emotionale Ressourcen, die der erfolgreichen Bewältigung des Schulalltags förderlich sein könnten. Erwartet wurde ein positiver Effekt des Musizierens, untersucht wurden hierzu das Selbstkonzept in Bezug auf die Schulfähigkeit, die grundsätzliche Einstellung zu Schule und die Lernfreude. Entgegen den Erwartungen zeigten sich bei den JeKi-Kindern im Vergleich zu nichtmusizierenden Kindern zwar durchgängig schwache, aber statistisch signifikante negative Effekte (Groß & Schwippert, 2016, S. 96 f.). Das Musizieren in Jeki-Klassen schien also sogar leicht negative Auswirkungen auf das Schulerleben der untersuchten Kinder zu haben.

Im Unterschied dazu konnten die Wissenschaftler des Teilprojekts MEKKA bei JeKi-Kindern im Vergleich zur nicht-musizierenden Kontrollgruppe positive Auswirkungen auf die individuelle Stressregulation messen. Entsprechende Persönlichkeitsmerkmale werden langfristig mit psychischer und physischer Gesundheit in Zusammenhang gebracht (Bongard et al., 2015, S. 174 ff).

Zudem gingen die Forscher der Frage nach, ob das regelmäßige gemeinsame Musizieren die Kinder hilfsbereiter mache. So wurde beispielsweise ein Transfer gegebener oder erfahrener Hilfestellung im Instrumentalunterricht auf das Miteinander im sonstigen schulischen Alltag angenommen. JeKi-Kinder und Kontrollgruppe wurden unter anderem dazu befragt, wie regelmäßig sie Mitschülerinnen und Mitschüler im Unterricht unterstützten; wie oft sie versuchten, anderen bei einer Aufgabe zu helfen, die sie selbst schon gelöst hatten, et cetera. Insgesamt ließen sich die erhofften Effekte empirisch nicht belegen, teilweise ergab sich sogar ein schwacher negativer Zusammenhang (vgl. Abb. und Groß & Schwippert, 2016, S. 93 ff).

Effekte intensiven Musizierens auf Gehirnstruktur und kognitive Fähigkeiten

Im Rahmen der Projekte AMSeL I und II (Audio- und Neuroplastizität des Musikalischen Lernens) wurden Zusammenhänge zwischen Musizierpraxis und neuronaler Entwicklung untersucht. Dabei wurden bildgebende neurologische Verfahren eingesetzt: Kernspintomographie(MRT) zur Erfassung der anatomischen Struktur des Gehirns und Magnetencephalographie (MEG) zur Messung der Gehirnströme beim Hören von Klängen. Es ergab sich ein eindeutiges Bild: Die neuronale Verarbeitung im Hörkortex erfolgte umso schneller und besser synchronisiert, je mehr die untersuchten Kinder musizierten; dieser Effekt hielt auch über die Grundschulzeit hinaus an (Schneider et al., 2016, S. 76 f.). Beobachtbare Auswirkungen waren bessere perzeptive und kognitive Fähigkeiten der Kinder, insbesondere im Bereich der Hörfähigkeit, der  Aufmerksamkeitsleistungen, der Leistungen beim Lesen und Rechtschreiben und der Impulskontrolle. Auch die Forscher des MEKKA-Teilprojekts der Uni Oldenburg fanden positive Auswirkungen intensiven Musizierens auf sprachnahe kognitive Leistungen (Roden et al., 2015).
Allerdings ist zu betonen, dass die eben aufgeführten positiven Wirkungen nicht bei Kindern messbar waren, die ausschließlich im Rahmen von JeKi musizierten. Effekte ließen sich nur für die „intensiv musizierenden“ Kontrollgruppe aus Kindern mit zusätzlichem Instrumentalunterricht und regelmäßigem Üben nachweisen.

Die AMSeL-Forschergruppe verglich außerdem „unauffällige“ Kinder mit solchen, die unter Lese-Rechtschreib-Schwäche oder AD(H)S litten. Perzeptive und kognitive Fähigkeiten verbesserten sich bei allen intensiv musizierenden Kindern, auch bei den LRS-, ADS- und ADHS-Kindern, die gerade in diesen Bereichen funktionale (und anatomisch lokalisierbare) Defizite aufwiesen. Solche Kinder könnten nach Einschätzung der Forscher besonders von intensivem Musizieren profitieren, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt wären: JeKi-Angebote (und vergleichbare Klassenmusizier-Konzepte) müssten grundsätzlich so beschaffen sein, dass Kinder mit spezifischem Förderbedarf auch daran teilnehmen können und der Unterricht ihren speziellen Bedürfnissen angepasst ist. Um die angestrebten therapeutischen Wirkungen zu erzielen, müsste zudem instrumentalem Üben im JeKi-Kontext ein erheblich höherer Stellenwert eingeräumt werden als bislang üblich (vgl. Schneider & Seither-Preisler, 2015, S. 39 ff).

Fazit

Wirkungen gemeinsamen Musizierens, die über rein musikpraktische Aspekte hinausgehen, konnten für die an JeKi teilnehmenden Kinder überwiegend nicht nachgewiesen werden, für eine Kontrollgruppe intensiver musizierender Kinder mit zusätzlichem Instrumentalunterricht dagegen sehr wohl. Immerhin ließen sich im Rahmen der JeKi-Begleitforschung aber auch keine negativen Transfereffekte von schulischem Klassenmusizieren feststellen. Vermutlich wird im Rahmen von Projekten wie JeKi eine Mindest-Intensität zielgerichteten instrumentalen Übens schlicht nicht erreicht, die notwendig wäre, um eindeutig messbare Effekte zu erzielen.

Vor diesem Hintergrund sollte einerseits die inhaltliche Ausgestaltung solcher und ähnlicher musikalischer Förderprogramme überarbeitet werden, etwa durch das Hinzunehmen betreuter Übezeiten im Rahmen von Ganztagsunterricht. Andererseits bieten die empirischen Forschungsergebnisse zu JeKi begründeten Anlass, bei Argumentationslinien für kulturelle Bildungsprogramme künftig deutlicher von einer einseitigen Orientierung an „außermusikalischen“ Heilsversprechen abzusehen. Die oft pauschalisierend geführte Diskussion um Effekte musikalischer Bildungsangebote ließe sich deutlich differenzierter führen.

1     http://www.jeki-bayern.de/index.php/jeki/Programm/Die-Vorteile [12.10.16]

Literatur und Links

  • Bongard, S., Frankenberg, E., Friedrich, K. E., Kreutz, G. & Roden, I. (2015): MEKKA – Musikerziehung, kindliche Kognition und Affekt. In Kranefeld, U. (Hrsg.)(2015), S. 167–194.
  • Bonsen, M.; Cloppenburg, M.; Heberle, K.; Kranefeld, U.; Naacke, S. & Niessen, A. (2015). GeiGe – Gelingensbedingungen individueller Förderung an Grundschulen im ersten JeKi-Jahr. In Kranefeld, U.  (Hrsg.)(2015), S. 111–166.
  • Groß, N. & Schwippert, K. (2016): Untersuchungen von Transfereffekten musikalischer Angebote. Ergebnisse aus der Studie Wirkungen und langfristige Effekte musikalischer Angebote (WilmA_Teilprojekt Transfer). In: Kranefeld, U. (Hrsg.) (2016), S. 83–101.
  • Koal, S.; Busch, T.; Kranefeld, U.: Teilhabe am Instrumentallernen und Selbstregulation des Übens. In: Kranefeld, U. (Hrsg.)(2016), S. 40–54.
  • Kranefeld, U. (Hg.)(2013): Empirische Bildungsforschung zu Jedem Kind ein Instrument. Ergebnisse des BMBF-Forschungsschwerpunkts zu den Aspekten Kooperation, Teilhabe und Teilnahme, Wirkung und Unterrichtsqualität. Bielefeld: Universität Bielefeld, Koordinierungsstelle des BMBF-Forschungsschwerpunkts zu Jedem Kind ein Instrument. Online verfügbar unter http://www.jeki-forschungsprogramm.de/wp-content/uploads/2009/03/Brosch…
  • Kranefeld, U. (Hrsg.) (2015): Instrumentalunterricht in der Grundschule. Prozess- und Wirkungsanalysen zum Programm Jedem Kind ein Instrument. Bildungsforschung: Bd. 41 (S. 111–166). Berlin: BMBF. Online verfügbar unter https://www.bmbf.de/pub/Instrumentalunterricht_in_der_Grundschule.pdf
  • Kranefeld, U. (Hrsg.)(2016): Musikalische Bildungsverläufe nach der Grundschulzeit. Ausgewählte Ergebnisse des BMBF-Forschungsschwerpunkts zu den Aspekten Adaptivität, Teilhabe und Wirkung. Dortmund: Technische Universität, Koordinierungsstelle des BMBF-Forschungsschwerpunkts „Musikalische Bildungsverläufe“. Online verfügbar unter http://www.jeki-forschungsprogramm.de/wp-content/uploads/2016/07/Abschl…
  • Krupp-Schleußner, V. & Lehmann-Wermser, A.: Kulturelle Teilhabe aus einer Befähigungsperspektive. Ergebnisse aus der Studie Wirkungen und langfristige Effekte musikalischer Angebote (WilmA_Kulturelle Teilhabe). In: Kranefeld, U. (Hrsg.) (2016), S. 55–69.
  • Nonte, S. & Schwippert, K.: Teilprojekt „Transfer“ – Effekte von JeKi-Programmen auf die Entwicklung sozialer und motivationaler Aspekte von Kindern mit kumulierten Risikofaktoren. In: Kranefeld, U. (Hrsg.)(2015), S. 221–241.
  • Roden, I.; Kreutz, G.; Friedrich, E. K.; Frankenberg, E.; Bongard, S.: Auswirkungen von JeKi-Instrumentalunterricht auf Aufmerksamkeits- und Gedächtnisleistung bei Grundschulkindern. In: Kranefeld, U. (Hrsg.)(2015), S. 182–194.
  • Schneider, P.; Engelmann, D.; Seither-Preisler, A.: Audio- und Neuroplastizität des musikalischen Lernens bei musizierenden unauffälligen und entwicklungs- bzw. lernauffälligen Kindern. In: Kranefeld, U. (Hrsg.)(2016), S. 71–82.
  • Schneider, P.; Seither-Preisler, A.: AMSeL – Neurokognitive Korrelate von JeKi-bezogenem und außerschulischem Musizieren. In: Kranefeld, U. (Hrsg.) (2015), S. 19–48.

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