Das Netzwerk Inklusion im Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen e. V. setzt sich seit vielen Jahren intensiv mit den Gelingensbedingungen einer inklusiven Entwicklung der öffentlichen Musikschulen in Bayern auseinander. Die Erkenntnis: Die Umsetzung des Menschenrechtes auf Teil-Habe am Lernen und Leben in der Gemeinschaft steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bereitschaft jedes Menschen, aktiv an Entwicklungsprozessen teil zu nehmen und mit der Verantwortungsübernahme des Systems Musikschule, Menschen zu einer individuellen Teil-Gabe zu befähigen.
Können teilen, dazu gehören
In der Musikschule treffen verschiedene Menschen aufeinander, mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Instrumenten und musikalischen Vorlieben. Gerade diese Mischung fordert jede Lehrkraft heraus, Vielfalt kreativ zu gestalten und neue Erfahrungen zu ermöglichen. Im Bereich des gemeinsamen Musizierens ist jeder musikalisch passende (kompatible) Beitrag zur Gestaltung eines musikalischen Werkes eine willkommene Bereicherung des Ganzen. „Das kompatible Eigene“ fügt sich ein in „das Andere“ der Mitmusiker*innen. Jede Teil-Gabe, ob groß oder klein, addiert sich und schafft so einen emotionalen Mehrwert, an dem jede*r gleichberechtigt teil-haben kann. So ist es nur folgerichtig, dass die gelebte Pädagogik einer öffentlichen Musikschule die kompatible Teil-Gabe nicht nur als wichtigstes Erziehungs- und Unterrichtsziel gemeinsam mit ihren Schüler*innen verfolgt, sondern ihnen gleichzeitig auch Erfahrungsräume zur Anwendung des Erlernten anbietet. Dies können Vorspiele im kleinen Kreis oder Konzerte vor großem Publikum sein: Können teilen zu können – mit den Mitmusiker*innen und dem Publikum – macht das Erleben des Eigenen intensiver.
Es ist gute Tradition öffentlicher Musikschulen, die eigene Entwicklung öffentlich zu reflektieren. Eine Tradition, die einlädt, mitzudenken, mitzugestalten und Mitverantwortung zu übernehmen. Eine Tradition, die eine ständige Weiterentwicklung als notwendig erachtet, die fordert, die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen und zu nutzen sowie auf den eigenen Stärken aufzubauen. Das Lernen und Musizieren in kleinen und auch in größeren Gruppen ist der Markenkern, die Identität unserer Musikschulen. Die Grundlagen eines harmonischen Gesamtklanges entsprechen exakt den Werten, die auch unsere demokratische Gesellschaft braucht, um zu funktionieren: die größtmögliche Teil-Gabe jedes*r Einzelnen, die Wertschätzung der Vielfalt der unterschiedlichen Teil-Gaben anderer, ein soziales und solidarisches Verhalten sowie Disziplin, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Vertrauen, Ausdauer, Durchhaltevermögen, Geduld, Resilienz, Kreativität und so weiter.
Freilich: Musikschüler*innen gehen nicht in die Musikschule, um die Demokratie zu stützen, sondern um Musik zu machen. Gelingt es ihnen jedoch, in der und durch die Musikschule gemeinsam gute Musik zu machen, leben sie automatisch und gleichzeitig die Werte, die das Fundament demokratisch verfasster Gesellschaften bilden. Deshalb ist eine Herausforderung, der wir uns künftig noch verstärkter stellen wollen, den Aspekt der musikalischen Teil-Gabe-Fähigkeit nachhaltiger in das Blickfeld unserer inklusiven Musikschulentwicklung zu nehmen und als Zielvorgabe aller Lehrkräfte zu benennen. Unser Anspruch dabei ist es, Erfahrungen zu ermöglichen, die den Mehrwert gemeinsamen Schaffens für die eigene Teil-Habe individuell erkennen lassen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten wir das externe Musizieren unserer Schüler*innen noch mehr unterstützen (also auch in unserem Unterricht etwa auf die extern gebrauchte Literatur eingehen) und intern noch mehr Gelegenheiten des gemeinsamen Musizierens suchen und nutzen. Gemeinsame Musiziererfahrungen sind Ergebnis jeder guten Musikpädagogik auch in fähigkeitsgemischten Gruppen und unabhängig von bestimmten Instrumenten oder dem Alter der Mitspielenden und lassen sich mit geringem organisatorischen Mehraufwand initiieren. Denn: Gemeinsame Musiziererfahrungen finden ihren Ursprung bereits im Einzelunterricht, wenn sich die Lehrkraft als Spielpartner*in und Gruppenmitglied begreift.
Im Rahmen einer inklusiven Musizierpraxis werden, zusätzlich zur Bedeutung der individuellen Aspekte der Teil-Gabe, immer wieder auch Bezüge zu aktuellen Herausforderungen für unsere Gesellschaft und für die Zukunft öffentlicher Musikschulen sichtbar. Die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft notwendige Bereitschaft und Fähigkeit jedes*r Einzelnen, Verantwortung zu übernehmen, gründet auf konkreten Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und auf einem subjektiven Gefühl der Zugehörigkeit. Die Fähigkeit zur Teil-Gabe weckt und stärkt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer musizierenden Gemeinschaft und weist weit darüber hinaus. Für jeden Menschen finden sich individuelle Teil-Gabe-Möglichkeiten. Diese gemeinsam mit den Schüler*innen zu erkennen, zu entwickeln und zu nutzen, ist ein zentraler Baustein ihrer individuellen Entwicklung. Unverhandelbare Gelingensbedingung einer inklusiven Musikschulentwicklung ist zugleich, dass der Qualitätsanspruch der Musikschulen nicht nur individuell in der Unterrichtspraxis erfahrbar, sondern auch als Ergebnis von Lernprozessen öffentlich präsentiert wird. Das Konzertieren in fähigkeitsgemischten Gruppen ist Bestandteil des Angebotes öffentlicher Musikschulen und zugleich ein öffentlicher Prüfstein ihres pädagogischen Konzeptes. Das Eigene als Potential in das Gemeinsame einbringen zu können, ermöglicht es, sich als wichtigen Teil der musizierenden Gemeinschaft zu erleben (Teil-Sein). Hervorgehend aus einem inklusiven Selbst- und Weltverständnis leitet sich für alle in der und für die Musikschule Handelnden der Auftrag ab, im Rahmen der eigenen Zuständigkeit eine inklusive Schulentwicklung zu unterstützen: Diese weckt und stärkt mit attraktiven Angeboten den Willen zur Teil-Nahme, setzt das Menschenrecht auf Teil-Habe um, fördert die Möglichkeit einer individuellen Teil-Gabe und begründet deren Notwendigkeit. So wird das subjektive Gefühl der Zugehörigkeit (Sense of Belonging) unterstützt, was sich im Selbst- und Weltverständnis der Inklusion wiederfindet, denn jeder Mensch ist ein Teil der Summe aller Menschen.
Dieses Verständnis fordert uns heraus, das Ganze im Blick zu behalten, weil es um jeden einzelnen Menschen geht – und jeden einzelnen Menschen im Blick zu haben, weil es um das Ganze geht. Es fordert uns heraus, Mitverantwortung für das Machbare im Bereich der eigenen Zuständigkeit zu übernehmen und Widersprüche sowie Grenzen persönlicher Leistungsfähigkeit zu akzeptieren. Musikschulen folgen einer inklusiven Funktionslogik. Das Angebot der Bildungseinrichtung Musikschule ist derart gestaltet, dass Jede*r teil-haben kann. Attraktive Angebote sorgen dafür, dass viele wollen – niemand muss. Damit heben sich öffentliche Musikschulen deutlich von der exkludierenden Funktionslogik der Regelschulen ab. Der Wert der Musikschulen für jede*n Einzelne*n ist objektiv nicht wirklich messbar; ebenso nicht ihr Wert für den Erhalt und die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Doch sprechen die langjährigen, oft jahrzehntelangen Bindungen unserer Schüler*innen an ihren Lern- und Lebensraum Musikschule für sich und damit für die Stärkung und den Ausbau des Musikschulwesens in Bayern.
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