Das Nordkolleg in Rendsburg ist ein Anziehungspunkt für die internationale Chorwelt. Ab Ostermontag wird es zur Heimat des Europäischen Obertonchors, der unter der Leitung von Prof. Steffen Schreyer und dem Obertonsänger und Stimmforscher Wolfgang Saus mit etwa 40 experimentierfreudigen Sängerinnen und Sängern aus ganz Europa für eine Woche in die Welt der Obertöne abtaucht. Mitsingen kann jeder mit Chorerfahrung, soliden Notenkenntnissen und ohne Berührungsangst vor Neuer Musik. Auch Chorleiter sind herzlich willkommen. Oberton-Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Innerhalb einer Woche studiert Steffen Schreyer, der sonst professionelle Chöre leitet, ein Konzertprogramm ein, das neben klassischer Chorliteratur auch Uraufführungen umfasst, die speziell für diesen Chor geschrieben wurden. Die dazu nötige Obertongesangstechnik wird von erfahrenen Chorsängern in der Regel schnell erlernt. Nachmittags sind dazu Workshopphasen eingeplant. Neben der Einstudierung der Werke machen chorische Improvisationen und spezielle Hörschulungen einen Großteil der Chorwoche aus, aus der Chorleiter viele Übungen in ihre Chöre mitnehmen können. Seit der Chor am Rande des Festivals „Bohemia Cantat“ in Liberec gegründet wurde, trifft er sich in jeweils neuer Besetzung zwei mal im Jahr an verschiedenen Orten, meist in Tschechien und gelegentlich auch in Deutschland. Aus neun Nationen kamen die bisher knapp 260 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Es kommen Schweizer, Slovaken, Schweden, Deutsche ... Musiker, Polizisten, Therapeuten, Physiker ... alle fühlen sich verbunden durch das Singen, das eine Brücke zwischen den Kulturen, Nationen und Sprachen bildet. Als Chorsprache wurde Englisch gewählt. Die Obertöne sind in allen Klängen enthalten, nur hört man sie normalerweise nicht. Aber man kann so singen, dass sie gehört werden. Dann entsteht zusätzlich zur normalen Stimme ein glasklare Melodie, die im Raum zu schweben scheint und alle auf eine merkwürdig vertraute Weise berührt. Professionelle Obertonsänger, die sich auch in diesem Chorprojekt finden, sind sogar in der Lage, zweistimmig polyphone Melodieverläufe nach Noten zu singen.
Ein Obertonchor „ist ein Chor, dessen Mitglieder sich der Gesangstechnik des Obertongesangs bedienen“, sagt die Wikipedia. Obertonsingen, diese exotische Gesangstechnik, mittels derer ein einzelner Sänger zwei Töne gleichzeitig zu singen vermag, erlebt in den letzten 10 Jahren einen regelrechten Boom. Was in den experimentierfreudigen 60er Jahren mit der Avantgarde begann, als Komponisten wie Stockhausen, Rabe und Hamel begannen, das Innenleben des Klangs zu erforschen und dabei auf die Melodie der Klangfarbe stießen, findet aufgrund spektakulärer neuer Stimmklangeffekte den Weg in die neue Chormusik. Aber nicht nur Profis interessieren sich für diese neue Stimmerfahrung. Vor allem klassische Chöre, deren Sänger sich in Seminaren mit den Obertönen beschäftigt haben, setzen die Klangfarben ihrer Stimmen bewusster ein, die Intonation wird reiner, der Chor sinkt nicht mehr und die Homogenität wird verbessert .
Obwohl der komponierte westliche Obertongesang in Deutschland seinen Anfang nahm, sind es doch vor allem die professionellen Chöre aus dem Baltikum und aus Skandinavien, die Obertongesang in ihr Repertoire aufnehmen. Daran will der Europäische Obertonchor etwas ändern. Seit der Gründung 2006 sind viele Werke speziell für diesen Chor geschrieben und von ihm uraufgeführt worden, von sehr einfachen bis höheren Ansprüchen an den Obertongesang. Bei der Projektphase im Nordkolleg wird unter anderem ein neues Werk der schwedischen Komponistin Karin Höghielm gesungen.