So gut wie jeder Deutsche, der den Tag beziehungsweise die Nacht des Mauerfalls am 9. November vor 20 Jahren bewusst miterlebt hat, weiß noch, was er oder sie getan hat, als die Nachricht und die ersten Bilder von jubelnden Menschen auf der Mauer und an den Grenzübergängen im Fernsehen liefen. Der Volks-Ruf „Wir sind das Volk!“ symbolisierte Selbstbewusstsein und Handlungswillen und zeigte den Blick und die Hoffnung auf eine demokratische Zukunft. In den Nachbarländern mögen auch Erinnerungen und Ängste vor einem wieder erstarkenden Deutschland hinzugekommen sein. So verschieden die Reflexion der politischen Ereignisse, so notwendig wird ihre gemeinsame Aufarbeitung unter dem Gesichtspunkt der Stärkung von Demokratie im Europa der insgesamt 270 Regionen.
Die Bundes- und Landesmusikakademie Rheinsberg greift diesen Ausspruch auf, nimmt sich jedoch des Themas Mauerfall nicht mit einem nostalgischen Rückblick an, sondern reflektiert es in drei Szeni-schen Kammermusiken unter dem Titel „Wir sind das Volk“ von künstlerischer Seite. Ensembles aus Frankreich, Polen und Deutschland präsentieren ihre heutige Sicht auf die Wendezeit und den Fall der Mauer vor 20 Jahren.
Zahlreiche Gründe ließen sich anführen, warum gerade diese drei Nachbarländer einen gemeinsamen Weg gehen müssten – die Solidarnosc-Bewegung in Polen hat die Wende 1989 erst möglich gemacht, Ideale der Französischen Revolution von 1789 bewegten auch die Menschen auf den Straßen 1989. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können sich verschränken und den Blick aus Frankreich und Polen auf die Wende in Deutschland 1989 schärfen.
Drei von der Musikakademie Rheinsberg ausgewählte Ensembles wurden von Akademiedirektorin Dr. Ulrike Liedtke beauftragt, Stücke zu entwickeln, die mit einer Länge von je circa 15 Minuten gemeinsam aufführbar sind. Den Künstlern war freigestellt, ob sie eine Neukomposition, eine Collage oder ein elektroakustisches Stück auf die Bühne bringen, der Schwerpunkt eher bei Text, Musik oder Video liegt. Mit Hilfe von Kooperationspartnern in Polen und Frankreich wurden internationale Künstlergruppen gefunden, die das Thema einzigartig und spannend inszenieren.
Das Stück „high tide“ für Akkordeon, Bassklarinette, Kontrabass und live-Elektronik von der Komponistin Annette Schlünz vertritt die französische Sicht. Die im deutschen Kehl und in Strasbourg lebende Künstlerin begibt sich mit ihrer Komposition auf Spurensuche, fahndet nach Zeichen der Erinnerung, dem Innen und Außen, dem Eigenen und Fremden.
Aus Polen schrieb der junge Komponist Piotr Klimek ein Stück für Tenor und acht Instrumente und vertonte damit das Gedicht „Szczecin sponad“ seines Landsmannes Piotr Michalowski, der als einer der führenden Dichter Szczecins gilt. Die Verse reflektieren in poetischen Bildern die jüngste Geschichte ihrer Heimatstadt Szczecin.
Den deutschen Blick vertreten das Ensemble „Le Cordes Vocales“ und Instrumentalisten aus dem Jugendsinfonieorchester und vom Musikverein „Amici musicae“ aus Leipzig, der Stadt, die mit ihren Montagsdemonstrationen 1989 zur Schlüsselstadt der friedlichen Revolution geworden war. Die Text- und Musikcollage „Ein Montag im Herbst“ ist für vier Streicher, vier Sängerinnen und Sänger sowie Trompete und Schlagzeug konzipiert und lässt die Tage im Herbst 1989 lebendig werden. Der künstlerische Leiter des Leipziger Parts Ron-Dirk Entleutner ist ehemaliger Thomaner und derzeit Universitätsmusikdirektor in Koblenz. Als Gesangspädagoge, Dirigent und Chorleiter ist er der Musikakademie bereits durch Kooperationen für die Rheinsberger Pfingstwerkstatt Neue Musik bekannt.
Das Projekt entwickelte Ulrike Liedtke, die übergreifende Spielleitung für alle drei Stücke wurde Claudia Forner aus Leipzig übertragen, die in diesem Jahr bereits bei der Oster-Inszenierung der Komischen Oper „Doktor und Apotheker“ von Carl Ditters von Dittersdorf im Schlosstheater Rheinsberg Regie führte. Tänzer und Choreograph Uwe Czebulla aus Berlin verbindet die drei Szenischen Musiken miteinander und verstrickt die Werke zu einem ganzheitlichen Theatererlebnis. Die Musikakademie Rheinsberg steht den drei ausgewählten Ensembles dramaturgisch zur Seite und sorgt für Hintergrundwissen und geschichtliche Anregungen.
Die Musikakademie Rheinsberg, das Schlosstheater Rheinsberg, das Tucholsky-Literaturmuseum Rheinsberg und das Schlossmuseum Rheinsberg wären ohne die Wende undenkbar gewesen. Am Jahrestag des Mauerfalls, am Montag, dem 9. November 2009, bildet die Aufführung von „Wir sind das Volk“ im Schlosstheater Rheinsberg (Beginn: 16 Uhr) den Auftakt für einen Gedenktag an die politische Wende in der Prinzenstadt Rheinsberg. Anschließend rufen die Veranstalter, zu denen neben der Musikakademie die Stadt Rheinsberg und die evangelische Gemeinde der St. Laurentius-Kirche gehören, zu einem Kerzengang auf. Dieser erinnert an die leisen Demonstrationen, mit denen mutige Rheinsberger vor 20 Jahren auf ihre Unzufriedenheit mit der SED-Diktatur aufmerksam machten und die stets in einer Andacht in der hiesigen St. Laurentius-Kirche endeten. So wird es auch am 9. November 2009 sein, gegen 18.15 Uhr beginnt in der evangelischen St. Laurentius-Kirche am Marktplatz ein Gedenkgottesdienst.
Das Projekt wird gefördert von Kulturland Brandenburg 2009, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg, dem MWFK Brandenburg und dem Landkreis Ostprignitz-Ruppin.