Rückblick auf die XLV. Wissenschaftliche Arbeitstagung im Kloster Michaelstein zur Entwicklung des Konzertwesens seit dem 18. Jahrhundert
Einem Eintrag in Heinrich Christoph Kochs „Musikalisches Lexikon“ von 1802 zufolge ist ein Konzert „für das Publikum veranstaltet“. Und weil diese Definition bis heute ihre grundlegende Richtigkeit behalten hat, war das Zitat auch passenderweise Motto der viertägigen musikwissenschaftlichen Arbeitstagung Anfang Mai in Kloster Michaelstein/Blankenburg (Harz). Die dortige von der Kulturstiftung Sachsen-Anhalt getragene Musikakademie Sachsen-Anhalt für Bildung und Aufführungspraxis hatte zu einem umfangreichen Programm aus musikalischer Eröffnung, Impuls-Vorträgen, zwei Konzerten und Diskussion eingeladen, um sich intensiv dem Thema „Konzertwesen“ zu widmen, sowohl aus dem musikhistorischen Blickwinkel als auch mit dem Fokus auf die jüngsten Auseinandersetzungen. Schon in den Jahren vor Corona haben sich Veränderungen im Publikumszuspruch für das Klassische Konzert abgezeichnet, was sich 2022 in unserer postpandemischen Gesellschaft unerbittlich als Publikumsschwund niedergeschlagen hat. Umso nachdrücklicher wird gegenwärtig über die Zukunft der Kulturform „Konzert“ debattiert.
Wie die Gastgeberin der Tagung und Leiterin der Musikakademie Dr. Ute Omonsky in ihrer Einführung richtig herausstellte, sind die brancheninternen Debatten und all die Analysen und Überlegungen zum Konzertwesen in aller Regel positiv geprägt. Konstruktiv und von innovativem Geist erfüllt werde versucht, die Kunstform „Konzert“ zukunftsträchtig weiterzuentwickeln. Die Vorstellung, dass Musik ein Ereignis für die Vorführung vor anderen – also Nicht-Musizierenden – ist, war in der europäischen Musikgeschichte übrigens nicht von vornherein angelegt, wie Prof. Dr. Laurenz Lütteken von der Universität Zürich erörterte. Musik diente bis in die frühe Neuzeit hauptsächlich kultischen Ritualen und ein Konzertwesen entwickelte sich erst im 18. Jahrhundert. Wie daraus der Konzertbetrieb mit Kanonisierung bestimmter Werke entstand, wie sich in den Programmen zunehmend die Aufmerksamkeit auf die Gattung „Sinfonie“ verdichtete, führten weitere Referate vor.
Wissenschaftliche Ausführungen wie diese gehen in Tiefe und Detail. Erfreulich war, dass die Tagung dennoch den Bogen schlug, aus mancherlei wissenschaftlicher Erkenntnis Überlegungen für heutige Konzertideen anzustellen. Wenn etwa Prof. Dr. Andreas Eichhorn von der Universität zu Köln am Fallbeispiel Felix Mendelssohn Bartholdy über Improvisation im 19. Jahrhundert sprach, kam in der anschließenden Diskussion durchaus die Frage auf, inwiefern das an sich intim angelegte improvisierende Musizieren heute wieder bei öffentlichen Auftritten möglich sein könnte. Erneuerungspotenzial fürs Konzertwesen geht seit Jahren von Familienkonzerten und Musikvermittlungsformaten aus. Das thematisierte unter anderem Dr. Ulrike Schwanse von der Universität Münster mit einer seit 2005 laufenden empirischen Längsschnittstudie über insgesamt 134 semiprofessionelle Orchesterkonzerte in Essen und Mühlheim mit beteiligten Schulklassen. Erkenntnisse solcher Studien könnten in Zukunft konkrete, praxisdienliche Hinweise für die in den letzten Jahren mannigfaltig entstandenen neuen Konzertformate liefern.
Als gelungenen Brückenschlag von der akademischen Theorie zur praktisch angewandten Konzerterfahrung lieferte die Tagung mit ihren gut vier Dutzend Teilnehmenden auch zwei Live-Beispiele solch neuer Konzertformate. Zum einen gab der Rundfunk-Jugendchor Wernigerode unter Leitung von Robert Göstl das Konzert „Dein Leben in Musik“, bei welchem das Publikum spontan auf Handzeichen persönliche Begebenheiten erzählen darf und im Anschluss daran das Ensemble dazu inhaltlich und emotional passend ein Stück aus seinem Repertoire singt. Zum anderen gab es unter der Regie von Tristan Braun mit „Salz“ die Uraufführung einer Klang-Performance, die mit Texten, Gesang und Bewegung das Refektorium des Klosters mit seinen alten Steinmauern und schweren Pfeilern als musikalisch-szenischen Spielort einzurichten wusste. Ging das eine Format eher in eine volkstümliche Richtung, verortete sich das andere eher experimentell.
Mit Prognosen übrigens, welche neuen Konzerttypen sich in Zukunft durchsetzen könnten oder welche Konzertformate sich in Hinblick auf kulturelle Teilhabe für besondere Publikumskreise bewähren könnten – damit hält sich die Musikwissenschaft spürbar zurück. Da will keiner auf Kosten der exakten Wissenschaft vage Aussagen treffen. Ein deutliches Zeichen, dass es noch viel Forschungsbedarf gibt.