Wir als „Gesunde Musikschule“! Diese Einstimmung auf der Homepage der Musikschule Tettnang klingt selbstbewusst. In Verbindung mit ihrem bewährten Slogan „Musik macht Menschen“ wird deutlich, wie viel Ganzheitlichkeit Musikunterricht fordert, aber auch ermöglicht.
Seit 2010 darf die Musikschule Tettnang Titel und Siegel „Gesunde Musikschule“ führen. Sie ist damit eine von bisher sechs zertifizierten Musikschulen. Sechs weitere befinden sich auf dem Zertifizierungsweg. Initiatorin der Qualifizierung und zertifizierende Einrichtung ist die Internationale Musikschulakademie Schloss Kapfenburg im Zusammenwirken mit dem Landesverband der Musikschulen Baden-Württembergs e.V. und der Barmer GEK.
Tettnang – „So, und jetzt machen wir den rückwärtsfahrenden Schaufelraddampfer!“ Die Kinder springen auf, drehen die Schultern nach innen und bewegen sie durch die Luft wie ein Mississippi-Dampfer seine Schaufelräder durchs Wasser. Nein, er fährt nicht vorwärts, sondern rückwärts. Sonst müssten die Kinder die Arme nach hinten drehen und das ist genau die Bewegung, die sie sowieso beim Geigespielen einnehmen. Musikschulleiter Wolfram Lutz weiß, was seine Schülerinnen und Schüler brauchen: „Nach etwa zehn Minuten Spiel werden die Kinder müde in der ungewohnten Haltung. Dann machen wir ein paar Mal das Gegenmuskeltraining und schon fühlen sie sich wieder fit für Musik.“
„Fit mit Musik! an der Musikschule“ lautet das ehrgeizige Projekt, das zum Zertifikat „Gesunde Musikschule“ führt. 2004 wurde an der Internationalen Musikschulakademie Schloss Kapfenburg das „Zentrum für Musik, Gesundheit und Prävention“ (ZMGP) gegründet, das sich, unterstützt vom LvdM, dem Freiburger Institut für Musikermedizin und der heutigen BarmerGEK, die Vorbeugung von körperlichen Belastungen bei Musikern und damit ihre Gesundheitserhaltung als Ziel gesetzt hat. 2007 meldete sich auch die Tettnanger Musikschule als Partnerschule für das Pilotprojekt an.
Ganzheitlich und nachhaltig
„Es war uns schon immer ein Anliegen, unseren Schülerinnen und Schülern eine ganzheitliche Ausbildung zu bieten und nachhaltig zu unterrichten. Vor allem wollen wir präventiv darauf achten, dass sie entspannt und mit Freude ihr Instrument spielen können. Man klingt dann einfach besser. Ich weiß selbst, was Fehlhaltungen negativ bewirken können“, begründet Lutz die Entscheidung.
„Apfelpflücken“, „Pendel“ oder gar Balance-Kreisel gehören inzwischen zum Unterrichtsalltag. Das ganze Kollegium ist sehr interessiert an den gesunden Themen. Lehrer und Mentor Roy Spiller freut sich über die Aufgeschlossenheit: „Alle haben an dem Grundworkshop ‚Gesundes Musizieren‘ teilgenommen und wir bilden kontinuierlich weiter.“ Spiller wurde im ZMGP in fünf Pflichtmodulen zum Mentor ausgebildet, was Bestandteil des Zertifikats ist.
Spezialisierungsbausteine wie Auftrittstraining, Bewegungsprogramme mit Ergo- und Physiotherapeuten, Ensemblearbeit und Ergonomie werden darüber hinaus angeboten.
Spiller selbst gibt Saxophonunterricht und korrigiert immer wieder geduldig die Atemtechnik, um die Verkrampfung des gesamten Körpers zu vermeiden. Die kurzen Übungen fallen im Unterrichtsablauf zeitlich kaum ins Gewicht, bringen aber sehr viel Wohlbefinden. Ob es sich um physiologische Grundlagen handelt, Stressabbau vor einer Aufführung durch eine kurze Phantasiegeschichte oder die bewusste Körperwahrnehmung und die richtige Haltung am Instrument: Das Ergebnis merken die Musiker schnell.
Gesundheit im Leitbild
Auch wenn die Musikschule Tettnang sich mit dem Thema des gesunden Musizierens schon lange beschäftigt, stellt Roy Spiller eine Veränderung nach der Zertifizierung fest: „Wir haben jetzt alle eine bessere Wahrnehmung, ein größeres Bewusstsein und mehr Knowhow im Unterrichtsalltag.“ Schulleiter Lutz hat bereits ergonomisch optimierte Stühle für das Orchester bestellt: „Wir hätten sowieso welche gebraucht, da haben wir uns gleich für die besseren entschieden“, freut er sich. Auch für die Matten, Gymnastikbälle und anderen Hilfsmittel sowie die Kosten für die Weiterbildung der 37 Lehrkräfte hatte er die Finanzmittel bereitgestellt.
Und noch etwas zeichnet die Musikschule Tettnang aus: Das Leitbild „Gesundes Musizieren“, an dem sie sich im Unterrichtsalltag orientiert. Gesundheit kann dabei modellhaft als Balance zwischen den drei Bereichen „Ich/Musiklehrer und Schüler“, „Meine soziale Musikschule“ und „Musikschul-Umwelt“ gesehen werden, besagt eine schematische Darstellung des Leitbildes. Dabei spielen ein gutes Betriebsklima und soziale Anerkennung ebenso eine Rolle wie die Lage und Ausstattung der Probenräume oder persönliche Eigenschaften, Erfahrungen und das Selbstbild. Dass dieser Umstrukturierungsprozess noch eine Weile dauern wird, hinterfragt und aktualisiert werden muss, darüber sind sich auch Roy Spiller und Wolfram Lutz und allen anderen Beteiligten der „Gesunden Musikschule“ bewusst.