Die Nachricht kam kurzfristig und überraschend: Kurz vor den niedersächsischen Herbstferien informierte der Bürgermeister der Stadt Wolfenbüttel Thomas Pink die Landesmusikakademie Niedersachsen, dass ihr das Jugendgäs-tehaus der Stadt schon zwei Arbeitstage später nicht mehr zur Verfügung stehen werde. Das Haus müsse kurzfristig in eine Notunterkunft für Flüchtlinge umgewandelt werden. Und diese Entscheidung der Stadt Wolfenbüttel bringt die Landesmusikakademie Niedersachsen nun in große Bedrängnis.
Das Jugendgästehauses und die Landesmusikakademie arbeiten seit 2009 unter einem Dach. Ebenso eng wie die Gebäude ist auch die Arbeit der beiden Häuser miteinander verbunden. Besucher fanden hier bislang sowohl hervorragende musikalische Bedingungen als auch ideale Unterbringungsmöglichkeiten. Für die musikalische Jugendarbeit eine nahezu perfekte Kombination, die sich auch deutlich in den Belegungs- und Veranstaltungszahlen widerspiegelt: Die einmalige Struktur der beiden Häuser wurde seit ihrer Gründung mit Begeisterung angenommen. Sowohl die Landesmusikakademie als auch das Jugendgästehaus sind stets nahezu ausgebucht.
Die Landesmusikakademie ist nicht nur Heimstätte der Landesauswahlensembles und Ausrichter von Projekten, Maßnahmen und Kursen, sondern zu einem überwiegenden Teil auch Servicehaus für die niedersächsische Musikkultur. Hier proben, arbeiten und konzertieren Schulklassen, Chöre, Orchester, Bands, Spielmannszüge und Big Bands aus ganz Niedersachsen.
Durch den vorläufigen Wegfall des Jugendgästehauses wird der Arbeitsablauf der Landesmusikakademie nun empfindlich gestört. Die Symbiose erweist sich als Achillesferse. Auch wenn die Räumlichkeiten der Landesmusikakademie nach wie vor vollumfänglich zur Verfügung stehen, können Gäste voraussichtlich auch im ganzen Jahr 2016 nicht beherbergt werden, heißt es vage von Seiten der Stadt Wolfenbüttel.
Seit Bekanntwerden der Entscheidung des Bürgermeisters arbeiten der Landesmusikrat und die Belegschaft der Landesmusikakademie Niedersachsen an Übergangslösungen, wie zum Beispiel alternativen Unterbringungsmöglichkeiten im Stadtgebiet. „Selbst eine Unterkunft aus Wohncontainern sowie Zelte in den warmen Monaten werden derzeit für unsere Besucher und Teilnehmer geprüft“, sagt der Geschäftsführer der Landesmusikakademie Niedersachsen Tom Ruhstorfer. Das Ziel: Möglichst viele Maßnahmen, Arbeitsphasen und Veranstaltungen weiterhin stattfinden zu lassen. Schulklassen, Spielmannszüge oder Orchester, die Räumlichkeiten in der Akademie und im Jugendgästehaus gebucht haben, werden bei der Suche nach neuen Unterbringungsmöglichkeiten unterstützt. Allerdings können sie ihre Buchungen auch ohne Kosten stornieren. Der finanzielle Schaden für die Landesmusikakademie sei dabei noch nicht absehbar, sagt Ruhstorfer.
Er geht davon aus, dass eine Vielzahl von Projekten der Situation zum Opfer fallen werde. So musste die Landesmusikakademie bereits aufgrund der Kurzfristigkeit eine neuntägige Arbeitsphase des renommierten Niedersächsischen Jugendsinfonieorchesters mit rund 80 jugendlichen Musikerinnen und Musikern in den Herbstferien absagen. Eine alternative adäquate Unterbringung für so viele, zum größten Teil minderjährige Teilnehmer war so kurzfristig nicht mehr zu organisieren.
Dennoch bekräftigen der Landesmusikrat Niedersachsen und seine Landesmusikakademie ihr Verständnis für die Entscheidung, Flüchtlinge im Jugendgästehaus unterzubringen. „Angesichts der großen humanitären Herausforderung ist eine sichere Unterkunft für die Menschen von großer Bedeutung“, so Ruhstorfer. Durch die direkte Nachbarschaft mit den Flüchtlingen ergeben sich auch immer wieder inspirierende Begegnungen. So organisierte die Landesmusikakademie einen musikalischen Begrüßungsabend für die vielen Familien, die zum größten Teil aus Syrien stammen. Dabei wurde – gleich nach der Ankunft –spontan gemeinsam musiziert.
Und unter anderem auch die Dozenten und Schüler des Meisterkurses epoche f mit dem Ensemble Modern suchten die Begegnung mit syrischen Musikern. Gemeinsam wurde geprobt und kurzfristig gaben die Musiker unterschiedlicher Herkunft ein kurzes anrührendes Konzert. Gelebtes musikalisches Miteinander in der Landesmusikakademie Niedersachsen.
Dennoch betont die Akademiegeschäftsführung, dass das Jugendgäs-tehaus nur kurzfristig als Flüchtlingsunterkunft genutzt werden dürfe. Die Auswirkungen würden sonst nicht nur die Arbeit der Landesmusikakademie schädigen, sondern langfristig auch die Musikkultur des Landes Niedersachsen beeinträchtigen.