Im Jahr 1985 folgt Leonard Bernstein, der im August dieses Jahres 100 Jahre alt geworden wäre, einer Einladung des Altkanzlers Helmut Schmidt nach Lübeck und begeistert sich vor Ort für die Idee eines Musikfestivals mit herausragenden Künstlern an ungewöhnlichem Orte. Ein Jahr später findet im Sommer das erste Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) mit Musikerinnen und Musikern von Rang und Namen statt. Leonard Bernstein wirkt im Gründungsjahr nicht nur als Dirigent mit, sondern zeigt sich in einem Dirigierkurs als herausragender Pädagoge.
So ist es folgerichtig, dass im Jahr 1987 nach dem Vorbild des Tanglewood Music Center im US-Bundesstaat Massachusetts unter seiner Leitung ein internationales Jugendorchester entsteht, das Schleswig-Holstein Festival Orchestra. „Ich versuche etwas in Europa zu tun, wie Europa einst für mich etwas tat“, wird Bernstein heute in Bezug auf diese Idee zitiert. Hochqualifizierte junge Musikerinnen und Musiker kommen seitdem in jedem Jahr für zwei knappe Sommermonate aus aller Welt nach Schleswig-Holstein, wachsen beim gemeinsamen Proben zu einem Orchester zusammen, geben im ganzen Bundesland und auf Reisen Konzerte und musizieren – ganz im Sinne Leonard Bernsteins – als Freunde.
Umzug nach Rendsburg
Bis es so weit ist, liegt hinter dem Orchesterakademie-Team des SHMF eine logistische Meisterleistung, denn jede der im aktuellen Jahr 1.800 Bewerbungen aus aller Welt wird ernst genommen. Eine Jury ermittelt an insgesamt rund 45 Probespieltagen in rund 30 Städten, wie etwa in Paris, Wien, New York, Boston, Tokio oder Buenos Aires aus jeweils zehnminütigen Vorspielen diejenigen Musikerinnen und Musiker, die nach Schleswig-Holstein eingeladen werden. Versehen mit Visa und Flugtickets kommen die jungen Menschen zwischen 16 und 26 Jahren dann aus aller Welt ins schleswig-holsteinische Städtchen Rendsburg, in dem mit dem Nordkolleg die Musikakademie des Landes Schleswig-Holstein zur Heimat auf Zeit wird. Der Wechsel vom 1987 gewählten und im Kreis Plön gelegenen Schloss Salzau mit rustikal ausgebauter Konzertscheune nach Rendsburg am Nord-Ostsee-Kanal wurde 2011 nach dem Verkauf des im Landesbesitz stehenden Gutes nötig. Die Region Rendsburg nutze die Chance. Das Nordkolleg, Anbieter eines eigenen umfangreichen Kursprogramms der kulturellen Bildung und auch Probenstätte für viele Chöre und Orchester des Landes, baute das ehemalige Direktorenwohnhaus mit weiteren Zimmern für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Orchesterakademie aus und rüstete sich für den Aufenthalt von 120 Musizierenden aus aller Welt.
Festival Hotspot
Mit der ACO Thormannhalle entstand in 15 Fahrminuten Entfernung dank unternehmerischer Initiative ein Proben- und Konzertsaal mit 1.200 Plätzen inmitten des Kunstwerks Carlshütte. Dort finden über den gesamten Sommer alle öffentlichen Proben und die regelmäßig ausverkauften Generalproben statt, sowie weitere Konzerte im Rahmen des SHMF. Ausgelöst durch den Umzug des Festivalorchesters hat sich die gesamte Region zu einem Festival-Hotspot entwickelt. Nach vormals drei Konzerten in der Rendsburger Christkirche sind es im aktuellen Jahr 16 Konzerte mit insgesamt über 20.000 verkauften Tickets gewesen, die zahlreiche Menschen ins geographische Zentrum Schleswig-Holsteins gelockt haben. Darin sind die öffentlichen Proben und Generalproben noch nicht einmal enthalten.
Mit einem Festivaltag in der Rendsburger Altstadt richtet die Stadt zu Beginn des Festivals eigens eine Begrüßung der internationalen Gäste aus, die sich dort musikalisch vorstellen. So viel Aufmerksamkeit braucht aber auch Rückzugsorte und Regenerationsmöglichkeiten. Im Nordkolleg erfahren die geforderten jungen Musikerinnen und Musiker, was es heißt, mit Menschen aus über fünfundzwanzig Nationen gemeinsam für acht Wochen auf einem Campus zu leben.
Durch die intensive Arbeit in den Stimmgruppen-Proben der ersten Woche entstehen früh die ersten Freundschaften. Man lernt sich gründlich kennen und verstehen und findet gemeinsam Zeit für unterschiedlichste Freizeitaktivitäten. Schnell verteilt sich die große Gruppe auf die vielen auf dem 8.000 Quadratmeter fassenden Areal rund um einen parkähnlichen Garten gelegenen Gebäude.
Man kommt zu Gesellschaftsspielen, zum Sport oder zum Feiern zusammen und nimmt sich viel Zeit für Kammermusik. Es klingt aus allen Ecken und selbst aus dem an das Nordkolleg angrenzenden Gerhardshain. Nach acht Wochen, wenn der Abschied naht, hat sich nicht nur ein Klangkörper gebildet, der den Vergleich mit anderen namhaften Orchestern nicht zu scheuen braucht, sondern es sind junge Menschen musizierend zu Freunden geworden, ganz wie es Leonard Bernsteins Idee entspricht.