„Singen ist kinderleicht!“, sagen die einen! Der Schlüssel zur Welt des Singens lag für sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort bereit. Menschen, für die Singen etwas Leichtes, Natürliches, Freudiges, Befreiendes und Lebensbegleitendes ist, hatten meist in ihrer frühen Kindheit Vorbilder in ihren Familien oder familiennahen Personenkreisen. Durch diese konnten sie sich die Welt des Singens in gleicher Weise erschließen wie die Welt des Sprechens. Und sie verfügen heute über ein emotionales Ausdrucksmittel, das ihr Leben bereichert.
„Singen – nichts für mich! Das kann ich nicht!“, sagen die anderen. Manch einer fügt noch ein bedauerliches „ich würde es ja gerne können“ an. Unüberwindbar hoch scheint jedoch die Hürde zur Kunst des Singens zu sein. Ungeübt, nie gelernt oder als „Brummer“ verlacht, mit Hemmungen befrachtet, die jeden Ton bereits in der Kehle ersticken, sind sie stumme Zuhörer geworden. Nur schwer ist der Schlüssel zur Welt des Singens im Erwachsenenalter zu finden.
Mittlerweile bestätigen zahlreiche Veröffentlichungen die positiven Auswirkungen des Singens auf die psychische wie physische Entwicklung des Kindes und weisen auf die Unverzichtbarkeit einer gleichwertigen rationalen wie emotionalen Bildung hin. Eltern und Erzieher sind gleichermaßen aufgerufen, die Tradition des Singens nicht zu vernachlässigen, sondern sie wieder aufzugreifen und in den Alltag zu integrieren. Wird die „scheinbar nutzloseste Leistung“ des Singens im Alltag gepflegt, kann sie ihren „größten Nutzeffekt für die Entwicklung von Kindergehirnen“ entfalten (Hüther 2007, zitiert in Blank/Adamek 2010, S. 13). Die Weichen hierfür werden in der frühesten Kindheit, ja sogar schon in der Schwangerschaft gestellt. Musik wird bereits im Mutterleib wahrgenommen. Nach dem mütterlichen Herzschlag ist die mütterliche Stimme eine der Hauptbestandteile der intrauterinen Geräuschkulisse, auf die das Kind nach der Geburt in besonderer Weise reagiert. Die vokale Mutter-Kind-Interaktion ist für die weitere Entwicklung des Kindes von zentraler Bedeutung. Ebenso kann die väterliche Stimme Wohlbehagen beim Säugling auslösen und maßgeblich zu einem guten Vater-Kind-Verhältnis beisteuern. Ohne wissenschaftliche Nachweise wussten dies bereits Generationen vor uns. Aus diesem natürlichen Gespür heraus und aus der Lust, sich musikalisch auszudrücken, entstand unter anderem ein reicher Liederschatz, der gerade auch in den letzten Jahren eine deutliche Erweiterung durch neues Liedgut erfahren hat. Die Lust am stimmlichen Ausdruck ist die angeborene Triebfeder für die Entwicklung von Singen und Sprechen im Kindesalter. Damit aber die Entwicklung, gerade der Singstimme, voranschreiten kann, bedarf es Vorbilder. Hermann Regner schreibt dazu treffend in „Musik lieben lernen“ (Mainz, 1988): „Lernen heißt, mit den Menschen, von denen es (das Kind) lernt, und mit den Inhalten, die es lernt, überein zu stimmen. Durch das Mitsingen, durchs Einstimmen in den Gesang des anderen stimmt sich das Kind ein, gelangt es zur Übereinstimmung. Das Kind ahmt dann nicht mehr nach, sondern es ist wie die anderen. In unserem Fall: Es singt.“ Das Vertrauen in die eigene Identität wird dadurch gestärkt und erweist sich als nachhaltige Zukunftsfähigkeit des Menschen (vgl. Blank/Adamek 2010).
Gemeinsam mit den 160 Kindergärten im Landkreis Biberach startet die Landesakademie Ochsenhausen das Projekt „Kinderleicht“. Das frühkindliche Singen soll damit in Kindergärten und Familien angeregt und gestärkt werden. Kinder erwerben sich durch das Singen Kompetenzen in den Bereichen der psychischen, sozialen und emotionalen Entwicklung. Sie gewinnen an Selbstvertrauen, aber auch Vertrauen in ihr Gegenüber. „Kinder, die gern singen, trauen sich auch später in anderen Zusammenhängen eher zu, selbstbewusst ihre Stimme zu erheben“, erklärt Professor Werner Deutsch, Leiter der Abteilung Entwicklungspsychologie am Institut für Psychologie der TU Braunschweig . Kinder, die singen, haben ein Ventil für emotionale Befindlichkeiten wie Freude, Trauer, Ärger. In den Melodien und der Bilderwelt vieler Lieder können Kinder Geborgenheit erfahren, ohne dass diese auch intellektuell verstanden sein müssen.
In der Sprachentwicklung beobachten Kinderärzte noch vor der Einschulung große Unterschiede zwischen Kindern, die häufig singen, und denen, die nicht singen. Rhythmus, Tonhöhe, Phonetik, Gehör sind die Bausteine für eine gesunde Sprachentwicklung, die später auch für Textverständnis und Rechtschreibung von großer Bedeutung sind. Häufiges Singen gibt Kindern in vielerlei Hinsicht Unterstützung in ihrer gesunden Entwicklung und in Bezug auf ihre Regelschulfähigkeit.
Angesichts manch signifikanter Defizite in der kindlichen Entwicklung, aber auch in Bezug auf die Neubelebung einer Alltagskultur des Singens erscheint es der Landesakademie dringend notwendig, das Singen in Kindertagesstätten und Familien im Sinne einer frühen Förderung zu unterstützen. Täglich sollte gesungen werden! Singen sollte wieder den Bezug zu Alltagssituationen bekommen! Väter und Mütter müssten wieder mehr mit ihren Kindern singen!
Impulse hierzu gibt die Landesakademie Ochsenhausen seit Jahren in ihren vielfältigen Kursangeboten zum Thema Singen. Aufgrund der Erfahrungen aus der Kursarbeit besteht ein hoher Fortbildungsbedarf sowohl bei Erzieherinnen als auch bei Lehrkräften unterschiedlicher Schularten.
Das Projekt „Kinderleicht“ startet mit 20 Liedern zu Alltagssituationen und wendet sich erstmals an Erzieherinnen und Erzieher sowie an Familien. Beim Aufstehen, Anziehen, Wickeln, auf dem Schoß, in der Küche, im Garten oder beim Schlafengehen können die Lieder vor- oder gemeinsam gesungen werden. Das Heft enthält viele farbige Illustrationen für die Kinder und unterschiedlichste Anregungen für Eltern. Unter fachkundiger Anleitung von Multiplikatoren wird das Projekt in den Kindertagesstätten initiiert und begleitet. Familien erhalten das Liederbüchlein kostenfrei über das Landratsamt. Gemeinsame „Kinderleicht“-Sing-Nachmittage stärken Freude am gemeinsamen Singen und dem wachsenden Repertoire.
Singen und Musizieren macht unser Leben reicher und bunter! Oder wie Roman Herzog einmal sagte: „Wer singt oder ein Instrument spielt, erlernt eine zweite Sprache. Die Sprache der Musik! Die-se Sprache der Musik ist unerschöpflich in ihrer Vielfalt, sie durchbricht Mauern der Vereinsamung, sie verbindet Menschen miteinander.“
Die Landesakademie Ochsenhausen stellt sich mit ihren Angeboten der zentralen musikpädagogischen Herausforderung unserer Tage, das Singen wieder neu in Familien zu etablieren.