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Artistic Citizenship

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Wolfgang Lessing im Gespräch mit Barbara Haack
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Wolfgang Lessing, Professor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik Freiburg und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden Musikpädagogischer Studiengänge (ALMS), wird beim Bundeskongress des VdM (28. bis 30. April) in Kassel den Eröffnungsvortrag über „Artistic Citizenship“ halten. Im Vorgespräch gibt er über einige grundsätzliche Aspekte des Themas Auskunft. In seinem Vortrag wird er detaillierter auf die Begrifflichkeit, auf die Bedeutung für die Musikpädagogik und speziell für die Musikschulen eingehen.

neue musikzeitung: Wie definieren Sie Artistic Citizenship im Zusammenhang mit der musikalischen Bildung?
Wolfgang Lessing: Das Thema kommt aus dem angelsächsischen Raum, vor allem aus Amerika. Einer der Protagonisten war der Musikpädagoge David Elliott. Er hat den Begriff des „musicing“ geprägt. Er sagte: Musik ist immer etwas Aktives, das Menschen miteinander tun, etwas Gemeinschaftliches.
Elliott begründet das mit der Praxislehre von Aristoteles: Musik ist eine Praxis, in der Menschen sich zusammenfinden, und es entsteht etwas, das über das Einzelne hinausgeht. Das setzt voraus, dass man nicht einfach nebeneinander her musiziert, sondern dass man immer im Blick hat, was der jeweils andere tun wird. Bei der Improvisation wird das besonders deutlich: Man hat immer den anderen mit im Blick, und es entsteht eine ganz besondere Form von Sozialität, die etwas ganz spezifisch Musikalisches ist. Im Begriff der Artistic Citizenship denkt Elliott das einfach weiter: Wenn Musik wirklich diese Fähigkeit hat, wenn sie wirklich eine soziale Praxis ganz eigenen Charakters begründet, dann ist darin auch ein gesellschaftlicher Auftrag begründet, nämlich genau diese Qualität von Musik in den Dienst der Gesellschaft zu stellen.
nmz: Das Ganze hat also auch einen politischen Aspekt?
Lessing: Elliott sagt: Was in solchen gemeinschaftlichen Lernsituationen passiert, ist der Antriebsstoff unserer Gesellschaft. Demokratie ist nichts Fertiges, Demokratie ist nicht durch einen Gesetzgeber gegeben, sondern muss immer wieder neu von den Menschen ausformuliert und handelnd verwirklicht werden. Für Elliott war es ganz klar, dass Musik in diesem Sinne quasi kleine Gemeinschaften stiften kann, die das, was die große Gesellschaft noch nicht hat, antizipierend vorwegnehmen kann. Das ist der Begriff von Artistic Citizenship. Es geht nicht darum, dass man sich vordergründig politisch engagiert, sondern es geht ganz im Gegenteil darum, dass man eine bestimmte Qualität musikalischen Handelns dort einsetzt, wo in der Gesellschaft so etwas fehlt.

Das ist ein klassisch-republikanischer Begriff von Citizenship, der sich sehr unterscheidet von dem individualistisch-liberalistischen von Adam Smith. Dort ist Citizenship eigentlich nur ein formales Kriterium für Staatsbürgerschaft, und jeder Mensch ist ganz alleine seines eigenen Glückes Schmied und muss nur an seinen eigenen Vorteil denken. Dann kommt die unsichtbare Hand des Marktes, die daraus ein gemeinschaftliches Interesse erwachsen lässt. Das genau ist in diesem „Artistic Citizenship“-Begriff von Elliott nicht drin. Das ist eine US-amerikanische Tradition, die in Deutschland mit sehr viel mehr Fragezeichen und Schwierigkeiten verbunden ist, weil wir diesen klassisch-republikanischen Begriff von Citizenship in unserer Geschichte nie in dieser Form entwickelt haben.

Artistic Citizenship und Community Music

nmz: Wie verhält sich Artistic Citizenship zu dem heute auch sehr aktuellen Thema Community Music?
Lessing: Das Konzept steht neben dem der Community Music. Das Problem bei der Community Music, zumindest so, wie sie in Deutschland ausbuchstabiert wird, ist: Wir leben in Deutschland sehr stark in Sparten. Es gibt die Sparte Orchestermusik, Ins­trumentalpädagogik, EMP et cetera. Jetzt kommt mit der Community Music noch eine Sparte dazu. Es ist eine typisch deutsche Situation, dass man immer wieder neue Sparten dazu entwickelt. Eigentlich ist mit dem Begriff von Community Music etwas gemeint, das jede Sparte umfassen müsste. Insofern halte ich den Begriff Artistic Citizenship für sinnvoller, weil er die Verantwortung, der man sich nicht entziehen kann, deutlich macht. Da geht es an die Substanz unseres Musikbegriffes, und wenn uns das überzeugt, dann muss sich auch jede Disziplin in diese Richtung entwickeln.
nmz: Wenn wir von Verantwortung und Verpflichtung sprechen, heißt das dann im Umkehrschluss, dass Kunst, die sich nicht danach richtet, keine Berechtigung mehr hat?
Lessing: Von Berechtigung würde ich nicht sprechen. Kunst lässt sich nicht steuern. Wenn Menschen mit diesem Konzept nichts zu tun haben wollen, dann gibt es einen Begriff von Kunst und Kunstfreiheit, der alles trumpft. Ich stelle mir eher ein Kontinuum vor: Man hat auf der einen Seite eine rein artifiziell ausgerichtete Form von Kunst und Musik. Auf der anderen Seite des Kontinuums steht eine sozial engagierte Musik. Es wäre schon ein wichtiger Schritt, wenn wir alle lernen würden, dass wir uns innerhalb dieses Kontinuums befinden und dieses Kontinuum akzeptieren.

An Musikhochschulen aber zum Beispiel muss ich lernen, Räume zu gestalten, in denen das nicht nebeneinandersteht, sondern sich gegenseitig in Vibration versetzt. Es geht um die Idee eines offenen Lernraums, in dem diese Themen und Fragen nicht als Zusatzthemen in Erscheinung treten, sondern als ein Anspruch, zu dem sich jeder irgendwie verhalten muss. Es ist die Idee eines offenen Diskursraumes, in dem die jeweils anderen Seiten gehört werden und wo ein Drittes entstehen kann.  
nmz: Auf welchem Stand sind die Musikschulen? Was müssen sie gegebenenfalls verändern?
Lessing: Ich will den Musikschulen nicht sagen, was sie tun oder nicht tun müssen. Für die Musikschulen entstehen immer wieder neue Themen und neue Aufgaben, die zu einem etablierten Bereich, der nicht in Frage gestellt wird, dazukommen. Dadurch entsteht ein Gebilde mit Lehrkräften, die sich den neuen Themen widmen, und anderen, die das nicht tun. Artistic Citizenship ist aber gerade keine zusätzliche Aufgabe, sondern es ist die Einladung an alle, das eigene Tun einmal zu reflektieren: Wenn Musik diese Kraft hat, was tun wir dann eigentlich, um diese gesellschaftlich wirksam werden zu lassen? Das betrifft den Klavierlehrer im Einzelunterricht genauso wie die EMP-Kollegin, wobei die EMP-Kollegin wahrscheinlich leichter aktiv werden kann, weil sie von ihrem Fachzuschnitt näher dran ist.
nmz: Was ist in diesem Feld die Aufgabe der Musikhochschulen?
Lessing: Die Hochschulen lösen das auf eine ganz spezifische Art. Sie erkennen auch die gesellschaftlichen Veränderungen und die Ansprüche, die damit auf sie zukommen. Mein Eindruck ist, dass die Hochschulen alles, was mit Reform und Innovation zu tun hat, in die späteren Studienzyklen hineinpacken, vor allem in die Masterstudiengänge. Das grundständige Studium im Bachelor wird im Prinzip nicht angetastet. Dadurch kann man nach außen zeigen, dass man sich verändert, aber man muss sich eigentlich gar nicht sehr bewegen, weil die Grundstruktur unverändert bleibt.

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