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Die Freiheit der musikalischen Petrischale

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Interview mit dem nmz-Herausgeber und Chefredakteur Theo Geißler zum 60. Geburtstag
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Der Herausgeber und Chefredakteur der nmz, Theo Geißler, ist vor der Küste der Musiklandschaft Deutschland ein Fels in der Brandung. Zum 60. Geburtstag sprach der Vorsitzende des VdM, Winfried Richter, mit ihm und stellte für jedes Jahrzehnt eine Frage:

: Wer seit Jahrzehnten die nmz herausgibt und damit das Musikleben publizistisch ablichtet, der muss ein Gespür für dessen Tendenzen entwickeln. Gab es im Laufe der Zeit Impulse, Veränderungen oder Neuerungen, die einen Fahrensmann wie Theo Geißler besonders erfreut oder beunruhigt haben?

Theo Geißler: Fangen wir mit dem Beunruhigenden an: Die Tendenz, dass an die Stelle einer möglichst breiten, kreativ orientierten, wert- und kulturhaltigen Bildung zunehmend funktions- oder gar platt funktionalitätsgesteuerte Markt-Orientierung trat und tritt, erfüllt mit Sorge. Das ging Hand in Hand mit dem Verfall des öffentlich-rechtlichen Mediensystems, der Abwertung unserer Kirchen, dem ersatzlosen Schreddern teils vielleicht auch überkommener Werte-Vorstellungen, an deren Stelle eine Mischung aus „Geiz ist geil“ und „Jung, aber reich ist schön“ privat-medial gehievt wurde. Ein Hartz entwickelt kanzlerbeauftragt Sozialmodelle und stattet flankierend sein privates Luxus-Bordell aus.
Tröstlich hingegen: Bei schätzungsweise bald zehn Prozent unserer Bevölkerung setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass ein von der Leine gelassener Kapitalismus gesamtgesellschaftlich betrachtet mehr Schaden anrichtet, als er je erwirtschaften könnte. Es besteht Hoffnung, dass diese Minderheit ein wenig wächst. Und in diesem Zirkel nehmen Berührungsängste und Eitelkeiten ab. Verbände, die vor Jahren nicht miteinander gesprochen hätten, erkennen gemeinsame Ziele und ziehen an einem Strang. Haltbare Wertvorstellungen entwickeln und präzisieren sich, gewinnen Konsens. Es gibt Visionen. Daran mitzuarbeiten, macht Sinn und Spaß.

: Die Neue Musik hat in der neuen musikzeitung zu Recht einen hohen Stellenwert. Dennoch ist sie gemessen am musikalischen Mainstream ein Mauerblümchen. Wie sehen Sie in diesem Kontext die Arbeit der Musikschulen?

Theo Geißler: Wie lieb und teuer ist uns die Pharma-Forschung? Wie viel Kohle stecken wir in die Weiterentwicklung erneuerbarer oder altbekannter Energieformen? Was kosten Konstruktion und Produktion eines Euro-Fighters, eines neuen Airbus? Und wie wenig Energie, sprich auch Geld, investieren wir vergleichsweise, um unsere kulturellen Grundlagen weiterzubringen oder auch nur zu erhalten. Das Experiment hat gerade in der Musik hohe Priorität, wenn es eine musikalische Zukunft geben soll. Dabei ist nicht nach gängigen Verständnis- oder Verwertungskriterien zu urteilen. Es lebe die Freiheit der musikalischen Petrischale. Und die braucht, gewissermaßen als Nährlösung möglicher und unmöglicher Entwicklungen, natürlich ein musikalisch gut gebildetes Umfeld. Dafür sorgen Musikschulen, eben nicht nur als soziale Grundlagen vermittelnde Institutionen, sondern gerade als maßgeblich gestaltende Elemente einer kreativ orientierten Zukunftsgesellschaft. Da haben wir doch die Chance, der etwas papierenen UNESCO-Forderung nach Musikausbildung als menschlichem Grundrecht wirklich Leben einzuhauchen. Da können wir weltweit Spitzenreiter sein.

: Sie sind ein gefragter Moderator. Gab es Gesprächsrunden, die jenseits von pauschalen Aussagen auch die Grundlage der Musikkultur, die musikalische Ausbildung von Menschen als ein Daseinsrecht – wie es die UNESCO sieht – thematisiert haben und in der Musikschulförderung auch eine soziale Verpflichtung gesehen haben?

Theo Geißler: Nach gut zweihundert Gesprächsrunden mit Politikern, Wirtschaftsbossen, Kulturschaffenden spüre ich eine klare Entwicklung: Das Verständnis füreinander wächst. Kunst, Kultur und Bildung werden auch von groben Hardcore-Rechnern nicht mehr nur als Spinnwebengebilde in fernen Nebenhöhlen gesehen. Ausgeprägte Künstlerpersönlichkeiten erinnern sich, dass auch sie mal gelernt haben. Solches Verständnis ist Grundlage dafür, dass die oft als „freiwillige Leistung“ abgespeiste Institution Musikschule als bedeutsamer gesellschaftsformender Faktor Anerkennung findet. An diesem Prozess haben wir im eigenen Land noch ordentlich zu arbeiten. Allerdings hat diese Arbeit grenzüberblickend – siehe oben – auch heute schon Beispiel-Charakter.

: Die Diskussion um die Dichotomie von elitärer Musikkultur mit intellektuellem Anspruch und musikalischer Alltagskultur existiert wohl seit der Vertreibung aus dem Musikparadies. Die Breitenarbeit der Musikschulen leistet doch gerade im Hinblick auf die Integration von jungen Menschen mit Migrationshintergrund, im kulturellen Austausch und in der Vielfalt der Musikstile – von Rock bis zum klassischen Repertoire – ein konstruktives Bindeglied. Wird dieser auf Kontinuität setzende Ansatz der Musikschulen zu wenig beachtet?

Theo Geißler: Gab es je das Musikparadies? Von einem, der in den Apfel der Erkenntnis biss und sich dann – oft heftig angefeindet – in die Schlangengrube unserer gesellschaftspolitischen Realität begab mit dem Ziel, den Musikschulen ein solides Fundament zu schaffen, habe ich viel gelernt: Es war Diethard Wucher, langjähriger Vorsitzender des VdM. Er brannte für die Idee einer besseren, weil der Musik verbundenen Gesellschaft. Er sah – in den 70er-Jahren fast schon prophetisch – heraufziehende Bedrohungen, aber auch sehr klar die Chancen. Seine Bandbreite, teils Kulturpolitiker, teils Chorleiter, teils Pädagoge, teils Pragmatiker, teils Funktionär, teils Visionär, bewundere ich im Verbund mit seiner Hartnäckigkeit noch heute. Ich bin überzeugt, dass er, gemeinsam mit seinen Nachfolgern im Amt und seinem langjährigen Bundesgeschäftsführer und stets kritischen Partner Rainer Mehlig, die Grundlage für eine gleichermaßen qualitätsbewusste wie politisch und ästhetisch breitbeinige, offene Positionierung der Musikschulen vorgeformt hat. Allein: Es ist ein dorniger, langwieriger Prozess, bis sich Qualität auch in der Breite durchsetzt. Da sind wir – hoffentlich auch in Zukunft gemeinsam – immer noch auf dem Weg.

: Heute zählen wir mehr Menschen denn je in unserer Gesellschaft, die ein Instrument lernen, erlernt haben und aktiv musizieren. Spielt das in der Diskussion um die Kulturförderung eigentlich eine gebührend große Rolle?

Theo Geißler: Sie haben es sicher schon gemerkt: Quantitative Argumente sind es nicht allein, die ich für überzeugend halte. Unsere Statistik-Hörigkeit, unser im Grunde grunzdummes DAX-Geglotze wird uns keiner Erkenntnis näher bringen. Insofern möchte ich den erfolgreichen Abverkauf von Blockflöten in Relation zum Bevölkerungsschwund nicht als Maßstab für eine Musikalisierung der Gesellschaft werten. Erfreulich finde ich es allerdings, dass sich (von einigen Ausnahmen abgesehen) neuerdings auch die Musikwirtschaft, gar die Musikindustrie oder die Orchestergewerkschaft im Kreis derer eingefunden haben, die Geld und Kraft in musikalische Bildung investieren. Der Chor wächst. Die Motivation bleibt jeweils prüfbedürftig. Das ist eine unserer journalistischen Aufgaben. Denn an dieser Stelle sind keine Strohfeuer, sondern Kontinuität gefragt.

: Die Basisarbeit von Musikschulen rückt fast nie in den Fokus eines Feuilletons. Wurde die Veränderung hin zum aktiven kulturellen Leben noch nicht in den Redaktionen wahrgenommen, die aus Gewohnheit lieber vom neuen Star am Himmel der Musik berichten wollen?

Theo Geißler: Gegen diese alte Krankheit habe ich bis hin zur namentlichen Kollegenschelte einiges zu unternehmen versucht. War es in früheren Jahren die blanke Feuilletonisten-Arroganz staubig studierter historischer Musikwissenschaftler in den Redaktionen, die den Blick in die „Niederungen“ der Pädagogik verstellte, so ist es heute vorwiegend die mit Ignoranz gepaarte blanke Sensationsgeilheit im Verbund mit zweifelhaften Studien über Rezeptionsgewohnheiten und deren wirtschaftliche Konsequenzen, die eine angemessene Beschäftigung mit der Arbeit unserer Musikschulen verhindert. Da hilft es nur begrenzt, wenn die „Braut“ sich hübsch macht im Sinne einer bulimischen Mannequin-Figur. Aber auch hier ändern sich die Dinge. Wie gesagt: Der Chor ist gewachsen, vor allem aber hat sich seine Qualität verbessert. Bald sind wir unüberhörbar, auch weil man uns gern hört.

: Herr Geißler, vielen Dank für das Gespräch, und wir wünschen uns noch viele Jahre mit einem fortissimo-wortkreativen nmz-Herausgeber, bei dem auch Sätze im dezenten Pianissimo aufhorchen lassen.

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