Digitalisierung und Musikschulen – das ist kein einfaches Thema. Sind Musikschulen und ihre Akteure bei allen Veränderungen einer eher langsameren Gangart verbunden, wird es bei den Themen der Digitalisierung erst recht gemischt: Einerseits suggeriert der momentane Hype um das Thema, dass sich auch Musikschulen dem Wandel nicht ganz entziehen können. Ein technologischer Quantensprung wird beschworen, etwa vergleichbar dem Wechsel vom Pferd zur Dampfmaschine oder von der Brieftaube zum Telefon. In Gesprächen verweisen Pädagogen aber schnell auf die Verwaltung, die sich anpassen sollte. Allenfalls die Website und Social Media, eventuell noch eine Unterstützung beim Lernen von Musiktheorie wird der Digitalisierung als Objekt zugestanden. Doch im Allerheiligsten der Musikschulen, dem Unterricht nach altväterlichem Meister-Schüler-Muster, wird in aller Regel und im Grunde des Herzens jegliche Digitalisierung verbannt. Hier müsse immer und ausschließlich die persönliche Präsenz eine notwendige Bedingung für jegliches Gelingen bilden.
Doch genau davon soll hier die Rede sein: Was kann Digitalisierung für den Unterricht der Musikschulen bedeuten? Ein Blick ins Internet zeigt, wie stark sich Videotutorials bereits im Kerngebiet der Musikschulen tummeln: Für jedes Musikins-trument gibt es gut gemachte Lern-Videos, die sehr überzeugend belegen, dass man eigentlich keine Musikschule braucht, um sein Lieblingsinstrument spielen zu lernen. Aber noch ist Zeit, die Musikschule so vorzubereiten, dass sie in einer digitalen Welt bestehen kann.
Allerdings ist vor einer Idealisierung zu warnen. Aktuell herrscht geradezu eine Verklärung des Digitalen bei gleichzeitiger Verflachung der Diskussion – als ob es schon genüge, ein WLAN einzurichten und jedem Kind ein Tablet in die Hand zu drücken, um digitale Segnungen zu ernten.
Nichts ist damit geholfen! Erst wenn die Lehrenden das Optimum an Unterstützungsmöglichkeiten aus digitalen Geräten und Verfahren gezogen haben, also nach einer intensiven Konzeptentwicklung, kann überhaupt auf einen Gewinn gehofft werden. Jedes digitale Verfahren muss erst beweisen, dass es Verbesserungen bringt. Also bleibt die Frage, wie digitale Verfahren dem Unterricht helfen können. Meine These: Digitale Verfahren eröffnen Perspektiven, die dabei helfen können, altbekannte Probleme des Instrumentalunterrichtes zu lösen oder zu vereinfachen.
Die nachfolgenden fünf Szenarien sollen zum Nachdenken und zum Ausprobieren anregen. Die technischen Voraussetzungen hat mittlerweile jeder Lehrende und Lernende in der Hosentasche; sie sind darüber hinaus innerhalb einer Musikschule relativ einfach zu schaffen.
Präsenz-, Tele- oder Hybrid-Unterricht
Müssen sich Lehrende und Lernende wirklich physisch gegenübersitzen oder stehen? Kann der Kontakt auch per Bildschirm, Skype oder ZOOM bestehen?
Mit „ja“ oder „nein“ zu antworten, ist zu einfach, denn es gibt viele graduelle Abstufungen: Anstatt „ganz oder gar nicht“, können sich die Beteiligten gelegentlich per Bildschirm treffen – oder jedes zweite Mal – oder es kann der Telekontakt relativ regelmäßig gestaltet sein, aber von einer intensiven Projektphase ergänzt werden. Man kann sich viele Ausprägungen vorstellen.
Es wäre nun zweifellos dümmlich, den Präsenzunterricht zugunsten eines Videounterrichts in Distanz abschaffen zu wollen. Aber an einigen Stellen, in einigen Situationen kann er durchaus helfen, Anfahrten, Reisezeiten und Raumprobleme zu mindern.
Der Gewinn ist umso größer, je schwieriger die physische Präsenz herzustellen ist. Unmittelbar einleuchtend ist dieser Gedanke für (Kreis-)Musikschulen, die große Flächen zu bedienen haben und wo die Anreise für Schülerinnen und Schüler sehr zeitraubend ist.
In Schleswig-Holstein begann gerade ein faszinierendes Projekt, das die Chancen der mobilen Arbeit der Musikschulen auf dem „platten Land“ auslotet. Unterstützt vom Landwirtschaftsministerium Schleswig-Holstein wird getestet, ob die Benachteiligung des ländlichen Raums auf dem Gebiet der kulturellen Bildung durch digitale mobile Angebotsformen und Strukturen vermindert werden kann. Die Ergebnisse werden im Herbst 2019 vorliegen (https://musikschulen-sh.de/momush/). Ganz anders liegt das Interesse bei den Musikschulen im Ruhrgebiet. Sie haben sich gerade zu einem Netzwerk zusammengeschlossen und arbeiten an digitalen Unterrichtsformen, die in großstädtischer Umgebung mit hohem Anteil an gemischtkultureller Bevölkerung funktionieren. https://www.ruhrmusikschulen.de
Ein sehr erfolgreicher Instrumentallehrer mit internationaler Ausstrahlung und großem Schülerkreis wurde durch eine Krankheit reiseunfähig. Er setzte jedoch seine Lehrtätigkeit fort und unterrichtet seither ausschließlich via Bildschirm. Er verteidigt diese Form mittlerweile vehement, unterstreicht die Vorteile und fühlt sich durch physische Distanz und technisch vermittelten Unterricht nicht behindert.
Hausaufgabenhilfe
„Man müsste die Lernenden öfter sehen“, lautet eine Klage, die sich wie ein roter Faden durch die Musikschulen zieht. Die Wochenfrist zwischen den Unterrichtsterminen wird als zu lang angesehen. Man müsste mindestens zweimal wöchentlich unterrichten, ideal wäre täglich. Dahinter steckt der Wunsch, den Lernenden jederzeit eine Hilfe geben zu wollen, das Vorgemachte nochmal zu sehen, eventuell auch das zu Hause Geübte in Augen- und/oder Ohrenschein nehmen zu wollen.
Dazu digitale Perspektiven:
- Die entscheidenden Teile der Hausaufgaben werden von den Lehrkräften audiovisuell festgehalten und den Schülern via Handy oder Streaming mit auf den Weg der Woche mitgegeben.
- Oder: Die Schüler machen mit dem eigenen Gerät ihre eigene Video-Sekundenaufnahme von der entscheidenden Haltung, der Melodie, der Interpretation. Diese „Sekundenvideos“ auf dem Smartphone des Schülers helfen der Erinnerung über die Woche und in der Übezeit.
Die Lehrenden legen kleine Sammlungen mit solchen Sekunden-Videoclips an, die sie selbst mit ihrem Smartphone/Tablet bei kleinstem Aufwand aufgenommen haben. Sie zeigen die entscheidenden Vorgänge und Haltungen im bewegten Bild, in kleinen Szenen. Die Schülerinnen und Schüler können diese kleine Bibliothek jederzeit, vor allem zu Hause, beim Üben einsehen und sich über die gewünschte Haltung oder Interpretation informieren. Eine solche Videobibliothek langsam aufzubauen, eignet sich auch gut als Thema einer kollegialen Zusammenarbeit im Musikschulkollegium.
Play-alongs online vorhalten und im Unterricht streamen
Wenn die Lehrenden einer Musikschule sich über Materialien, Stücke und Werke verständigen, die sie gemeinsam im Unterricht verwenden, kann ein solcher „Materialkanon“ dazu dienen, bei der Ensemblebildung auf ein gemeinsames musikalisches Repertoire zurückgreifen zu können. Zu solchen Stücken kann die Musikschule passende Playbacks für das Spielen im Unterricht und das häusliche Üben herstellen und zur Verfügung stellen. Die Schüler können sie zum Üben über das heimische WLAN unmittelbar vom Server der Musikschule streamen. Die urheberrechtlichen Voraussetzungen sind allerdings dabei zu beachten und sollten überregional vertraglich gelöst werden. Diese Aufgabe sollte vom Verband der Musikschulen angegangen werden.
Animation zum Musizieren
Was können die Musikschulen erwachsenen Interessenten anbieten? Viele haben sich noch nicht für ein bestimmtes Instrument entschieden und wollen doch „irgendwas mit Musik“ machen, sie scheuen die Konfrontation mit einem Instrument und würden gerne unmittelbar, ohne Übephase, eigene Erfahrungen mit der Musik machen. Hier gibt es bisher die bekannten Möglichkeiten wie Bodypercussion, Orff-Instrumentarium und Musikhören oder auch, begrenzt beliebt, das Singen. Es eröffnet sich nun die digitale Chance, es erstmal mit einer „App“ zu probieren. Das Musizieren mit dem Smartphone und Pad verspricht musikalische Erlebnisse in steiler Lernkurve. Allerdings ist auch der Endpunkt der klanglichen Begeisterung in der Regel bald erreicht, und der Wunsch nach der Beschäftigung mit einem konventionellen Musikinstrument wird wach. Und wer könnte diesen Lernweg besser organisieren und moderieren als Musiklehrkräfte mit der Lernumgebung, die eine Musikschule bietet!
Integrativ
Menschen mit Behinderung können mit den passenden Apps auf Tablets in faszinierende musikalische Prozesse eingebunden werden und komplexe Klänge erzeugen, die sie mit den „analogen“ Musikinstrumenten niemals würden erzeugen können. Faszinierend ist dabei zu beobachten, wie sich bei einigen dann das musikalische Talent als gänzlich unbehindert erweist, trotz massiver Mehrfachbehinderung. Überzeugende Beispiele zeigt ein Blick in die Videos von „Drake Music Scotland“ (https://drakemusicscotland.org/). An mehreren Stellen im deutschsprachigen Raum wird an diesem Thema gearbeitet. Die segensreiche Hilfe durch die digitalen Endgeräte ist in diesem Integrationsbereich unumstritten.
Soweit fünf Anregungen. Sie umfassen bei weitem nicht vollständig die Perspektiven, sprechen aber große Bereiche an, in denen digitale Verfahren eine Hilfe bieten können. Behutsam eingesetzt, können sie den umsichtigen Wandel der Musikschulen hin zu digitalen Verfahren begleiten.
Aber keine Angst: Zur Ablösung der physischen Instrumente wird es nicht kommen. Sie sind unverzichtbar und konkurrenzlos. Auch wenn digitale Verfahren massiv unterstützen und ergänzen. Die Unmittelbarkeit der Tonerzeugung, die haptische und taktile Wahrnehmung, die bei Kindern durch das Instrumentalspiel geschärft werden soll, und die hochdifferenzierte Interaktion zwischen Mensch und Musikinstrument wird die Basis der Musik bleiben.