Auf seiner Hauptarbeitstagung im Oktober 2021 in Kassel beschloss der Verband deutscher Musikschulen, ein „Netzwerk Inklusion“ mit Inklusionsbeauftragten an den einzelnen Musikschulen, in den Landesverbänden, schließlich auch im Bundesverband zu etablieren (s. nmz 12/21). Das Netzwerk ist eine logische Folge der bisherigen Aktivitäten des Verbands in Sachen Inklusion. Mit der Potsdamer Erklärung (2014) hatten sich die Träger der öffentlichen Musikschulen gemeinsam mit ihren Trägerverbänden auf Landes- und Bundesebene dazu bekannt, die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ihrer Möglichkeiten durch eine inklusive Schul- und Verbandsentwicklung zu unterstützen. Um dies bundesweit zu befördern und umzusetzen, wurde nun die strukturelle Verankerung eines Netzwerkes Inklusion im VdM beschlossen. Die inklusive Entwicklung im Verband begann allerdings schon viel früher – erklärt Robert Wagner, Leiter der Musikschule Fürth und Vorsitzender des Fachausschusses Inklusion im VdM, im nmz-Gespräch mit Barbara Haack.
Robert Wagner: Werner Probst hat schon in den 1970er-Jahren ein Werkzeug des Monitoring benutzt. Er hat Daten erhoben und festgestellt: 0,08 Prozent der damaligen Schüler an Musikschulen waren Menschen mit Behinderung. Ungefähr vier Prozent einer Alterskohorte galten zu dieser Zeit als behindert und wurden in Förderschulen unterrichtet. Probst gab das Ziel vor, dass langfristig die Zahl der Menschen mit Behinderung an Musikschulen dem Anteil in der Bevölkerung entsprechen sollte.
neue musikzeitung: Was bedeutet das für die Inklusionsbeauftragten heute?
Wagner: Der oder die Inklusionsbeauftragte ist dafür zuständig, ein internes Monitoring auf den Weg zu bringen, das die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten berücksichtigt. Ziel ist es, allen Menschen im Zuständigkeitsbereich der Musikschule ein annehmbares musikalisches Angebot zu machen und so die von Probst und anderen im Handlungsfeld Menschen mit Behinderung initiierte inklusive Schulentwicklung fortzuschreiben.
nmz: Bei der Inklusion geht es aber doch nicht nur um Menschen mit Behinderung?
Wagner: Das Selbst- und Weltverständnis Inklusion schließt ausnahmslos alle Menschen ein. Es geht um die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am Leben in der Gemeinschaft und an Entscheidungsprozessen. Kulturelle Bildung ist hierfür ein entscheidender Schlüssel. Ausdrücklich benennt die UN-Behindertenrechtskonvention nicht nur die Teilhabe an der Rezeption von Kultur, sondern auch die aktive künstlerische Teilhabe und verweist damit auf die Bedeutung kultureller Bildungseinrichtungen.
nmz: Die Musikschulen stellen sich damit in den Dienst einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe?
Gesellschaftliche Relevanz
Wagner: In Musikschulen wird Musik gelehrt, gelernt und gemeinsam gemacht. Gesellschaftliche Relevanz erlangen Musikschulen, wenn sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit zu einer inklusiven gesellschaftlichen Entwicklung beitragen: wenn sie als Bildungseinrichtungen Verantwortung dafür übernehmen, die kulturelle Teilhabe aller Menschen zu gewährleisten, die individuelle Sinnfindung jedes Menschen durch konkrete Angebote unterstützen, Gemeinschaft stiftend wirken und den Sinn einer gemeinsamen Verantwortung Aller als persönlichen Mehrwert erfahrbar machen. Demokratische Systeme leben durch die Einrichtungen kultureller Bildung, in denen der Sinn eigener Anstrengungen unmittelbar erfahren werden kann, Selbstwirksamkeit spürbar und der Umgang mit Verantwortung gelernt wird. Inklusive Musikschulen sind Schulen in Bewegung.
Von den Schulleitungen benannte Inklusionsbeauftragte halten diese Bewegung im Blick, sind Ansprechpartner für Eltern und das Kollegium und geben wichtige Impulse für eine inklusive, alle mitnehmende Schul- und Verbandsentwicklung.
nmz: Wird es in irgendeiner Form sanktioniert, wenn Musikschulen diese Beauftragten nicht benennen? Und wer gibt ihnen die Legitimation, Dinge anzusprechen und durchzusetzen?
Wagner: Die strukturelle Verankerung eines Netzwerkes von Inklusionsbeauftragten durch die Bundesversammlung der Träger aller öffentlicher Musikschulen hat Gewicht und gibt die Richtung vor. Teilhabe in der Praxis zu gewährleisten kann nun nicht mehr nur eine von Einzelnen in einzelnen Musikschulen übernommene Aufgabe sein, sondern wird zur Gemeinschaftsaufgabe aller in der Musikschule handelnden Personen und zugleich zur Führungsaufgabe. Die Einbindung der Inklusions-Beauftragten in die Leitungsebene legitimiert diese gegenüber den Kollegien aber auch gegenüber den Leitungen selbst.
nmz: Ist überall so viel Kompetenz vorhanden, dass an jeder Musikschule jemand gefunden wird, der oder die diese Aufgabe übernehmen kann?
Wagner: Keine Musikschule startet ihre inklusive Entwicklung bei Null. Viele Schulen arbeiten bereits in Kooperationen mit Regelschulen, im Bereich der kulturellen Vielfalt, mit Hochbegabten und Hochbetagten. Auch im inklusiven Kontext bleibt die individuell bestmögliche musikalische Förderung das pädagogische Ziel aller Lehrkräfte der Musikschulen und des Systems Musikschule.
Im Januar 2022 startete der 41. Berufsbegleitende VdM-Lehrgang „Instrumentalspiel mit Menschen mit Behinderung“ an der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid. Analog zu den verschiedenen UN-Konventionen, die allgemeine Menschenrechte konkretisieren (für Kinder, Frauen, Kulturelle Vielfalt, …), geht es in diesem Lehrgang nicht um eine besondere Pädagogik für Menschen mit Behinderung, sondern es wird das Recht jedes Menschen auf Teilhabe an musikalischer Bildung, am Beispiel der Menschen mit Behinderung konkretisiert. Der Lehrgang führt in die inklusive Zukunft der Musikschulen ein und gibt Gelegenheit, Inklusion als Selbst- und Weltverständnis zu begreifen: Jeder Mensch ist Mitmensch – von Anfang an. Niemand muss also erst inkludiert werden, um dazu zu gehören. Es geht in der inklusiven Pädagogik darum, allen Menschen individuell passgenaue Förderangebote – konkret zum Beispiel in Bezug auf Musik – zu machen und darum, die Menschen zu ermutigen, Verantwortung für sich, andere und für die Gestaltung von Musik übernehmen zu wollen und zu können.
Stichwort Diversität
Kennzeichen einer inklusiven Pädagogik ist es, Barrieren zu beseitigen, die eine chancengerechte Teilhabe be- oder verhindern. Aktuell konkurrieren – auch in Musikschulkreisen – viele Ansätze, um die politisch korrekteste Art des mitmenschlichen Umgangs, zum Beispiel der Ansatz der Diversität. Wichtig ist es mir an dieser Stelle festzuhalten: Eine inklusive Pädagogik ist immer diskriminierungsfrei und immer geschlechter- und kultursensibel.
nmz: Ist das nicht lediglich eine Frage der Bezeichnung – oder auch eine inhaltliche Unterscheidung?
Wagner: Ich bin überzeugt, dass Diversität zwar den Finger in offene Wunden zu legen vermag, selbst aber keinen Beitrag leisten kann, diese zu schließen. Die Erkenntnis, dass die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen Teilhabe eher fördert oder eher behindert, überwindet allein noch keine Barrieren. Solange Menschen, wenngleich in bester Absicht, in Identitäts-Schubladen einsortiert werden – Weiße, Frauen, Alte… – wird es nicht möglich sein, sie aus eben diesen Schubladen zu befreien. Erst wenn das Schubladieren durch ein inklusives Selbst- und Weltverständnis überwunden und der Blick auf die Individualität jedes Menschen bezogen wird, kann dies gelingen. Der Umgang mit Vielfalt verlangt individuelle Antworten und passgenaue, auf den individuellen Menschen bezogene – von ihm annehmbare – Angebote. Genau darum werden sich die Inklusionsbeauftragten im VdM kümmern.