Seit 33 Jahren gehört Bodo Przesdzing zum Dozententeam der Deutschen Streicherphilharmonie (DSP). Als Geiger im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) war er schon vor dem Fall der Mauer dabei und hat den Wandel vom Rundfunk-Musikschulorchester zum Deutschen Musikschulorchester zur Deutschen Streicherphilharmonie erlebt. Nun verabschiedet sich der engagierte Musiker und Dozent von seiner aktiven Mitarbeit – mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wie er selber sagt. Brigitte Baldes, seit acht Jahren Projektleiterin der DSP im Verband deutscher Musikschulen, sprach zum Abschied mit ihm über seine Erfahrungen, Erinnerungen und Zukunftswünsche für das Orchester.
Brigitte Baldes: Seit 1988 engagierst du dich mit unermüdlichem Engagement für den Streichernachwuchs der DSP beziehungsweise RMO und DMO und warst bis auf ganz wenige Ausnahmen bei allen Arbeitsphasen und Konzerten mit dabei. Gab es ein Ereignis in diesen vielen Jahren, das dich in besondere Aufregung versetzt hat?
Bodo Przesdzing: Ich hatte eigentlich nie Angst vor einem Konzert. Die Kinder waren immer sehr gut vorbereitet. Aber es gab ein Erlebnis, das mir tatsächlich große Bauchschmerzen bereitet hat. Wir waren in Cottbus und haben dort geprobt, damals noch mit Jörg-Peter Weigle als Dirigent. Zwei oder drei Tage später sollte das Konzert stattfinden. Die Kinder wohnten in einer Schule. Nach den Proben haben einige Jungen Karten gespielt und dabei Selterswasser getrunken. Es wurde gerade dunkel, da kamen sie auf die Idee, mit den Flaschen ein Zielwerfen in einen Papierkorb unten auf der Straße zu veranstalten. Ausgerechnet da war der Hausmeister ganz in der Nähe des Papierkorbs – eine Flasche hätte ihn beinahe getroffen. Das war ein Riesenschreck für uns alle.
Weigle war sehr aufgebracht und alle vier mussten am nächsten Morgen nach Hause fahren. Das Problem: Das waren ausgerechnet der Konzertmeister, der Stimmführer der zweiten Geigen, der Solo-Bratscher und der Solo-Cellist. Die Situation in Cottbus war dann sehr schwierig: In allen Stimmen mussten jetzt andere in die Bresche springen. Aber es hat funktioniert! Den „Flaschenwerfern“ haben wir eine zweite Chance gegeben und gesagt: Wenn ihr weiter in der DSP spielen wollt, nehmen wir euch gerne wieder auf, aber nur über ein Probespiel. Alle vier waren dann tatsächlich beim nächsten Probespiel wieder dabei – und haben dieses natürlich bestanden.
Baldes: War ein Konzert der DSP jemals aus einem solchen oder aus anderen Gründen ernsthaft in Gefahr?
Przesdzing: Das ist nie passiert. Die Konzerte haben immer stattgefunden. Es geht in solchen Fällen eine Art Ruck durch das Orchester: Alle brennen ja für die Musik und für das Konzert und mobilisieren dann alles, was möglich ist.
Baldes: Dies habe ich in meinen bisher acht Jahren mit dem Orchester tatsächlich auch so wahrgenommen. Das Publikum war immer hingerissen, ein mittelmäßiges Konzert habe ich nie erlebt. Kannst du das für die gesamten 33 Jahre, in denen du dabei warst, bestätigen?
Przesdzing: Unbedingt! Diese jungen Menschen haben eine Kraft, die man selten findet. Diese Kinder und Jugendlichen sind so konzentriert und motiviert, das Zusammenmusizieren ist für sie etwas ganz Besonderes. Ich habe immer gesagt: Wenn nur zwei Leute unten sitzen, haben diese dasselbe Recht, ein tolles Konzert zu erleben, wie tausend Menschen im Publikum. Ihr müsst die Leute und euch selbst belohnen. Ihr müsst von der Bühne gehen und das Gefühl haben: Unsere Freude ist beim Publikum angekommen.
Baldes: Die Anforderungen an die Orchestermitglieder sind in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. War das musikalische Niveau früher niedriger?
Przesdzing: Wir hatten damals auch ein sehr hohes Niveau. Aber die Kinder waren technisch und musikalisch noch nicht so gut ausgebildet wie heute. Der Standard wurde mit der Zeit höher. Dadurch konnte man die Qualität steigern und auch andere Stücke spielen, als die, die wir damals gespielt haben.
Baldes: Du hast die DSP ja noch als Orchester der damaligen DDR kennengelernt. Wie hast du das Zusammenwachsen nach der Wende erlebt?
Przesdzing: Beim ersten gesamtdeutschen Probespiel gab es bereits einige Bewerberinnen und Bewerber aus dem Westen. Wir Dozenten waren sehr gespannt auf das neue gemeinsame Orchester. Nach anfänglichen kleinen Stolpersteinen wurde dann ganz schnell eine Gemeinschaft daraus! Einen Bruch gab es nicht, alle sind ohne große Vorurteile zusammengekommen und waren dann ganz schnell ein Orchester, das DMO.
Baldes: Nach so vielen intensiven Jahren Abschied zu nehmen, ist sicherlich nicht leicht. Wie geht es dir damit?
Przesdzing: Ich gehe mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Ich habe in den 33 Jahren viele tolle Menschen kennengelernt, die alle auf höchstem künstlerischen Niveau Musik machen wollten. Bei allen CD-Aufnahmen des Orchesters – inzwischen sind es schon 14! – habe ich immer neben dem Tonmeister gesessen. Daher das lachende Auge: Ich muss mir nur die CDs anhören, dann sind die Kinder für mich gegenwärtig. Ich habe ihnen jetzt beim Abschied gesagt: Ihr lebt in mir weiter.
Baldes: Unter diesen tollen Menschen gab es ja auch viele renommierte Solistinnen und Solisten, die mit der DSP konzertiert haben. Hast du an eine oder einen besonders gute Erinnerungen?
Przesdzing: Das ist auf jeden Fall Julia Fischer! Julia hat fantastische Konzerte mit der DSP gegeben. Aber sie war auch außerhalb der Proben und Konzerte für die Kinder da. Sie ist ein echtes, großartiges Vorbild!
Baldes: Auch solche Begegnungen verstärken ja den Wunsch vieler Orches-termitglieder, die Musik zum Beruf werden zu lassen. Aber wo sollen sie alle hin angesichts der immer knapper werdenden Stellen im Profibereich?
Przesdzing: Das ist eine ganz wichtige Frage! Für eine Reihe von Orchestermitgliedern war die Zeit in der DSP zwar ein wichtiger Lebensabschnitt, aber beruflich haben sie dann etwas anderes gemacht. Aber für die anderen, geschätzt etwa 70 bis 80 Prozent der DSPlerinnen und DSPler, wird es auf jeden Fall immer schwieriger. Ich hoffe, nein, ich gehe fest davon aus, dass die Musiklehrerinnen und Musiklehrer so viel Verantwortung haben, dass sie mit ihren Schützlingen ganz offen sowohl über ihre persönliche als auch über die allgemeine Berufsperspektive sprechen. Bei denen, bei denen man weiß, dass sie sich durchsetzen werden, ist die Sache klar. Sie brennen für die Musik – und dann werden sie ihren Weg machen. Aber es gibt auch Grenzfälle, für die der Rat sinnvoll ist, sich nicht gleich festzulegen. Die Aufnahmeprüfung für das Studium ist ein erster, wichtiger Regulator. Und dann ist es ganz wichtig, die Bewerber/-innen vorher so vorzubereiten, dass bei ihnen nicht alles zusammenbricht, wenn diese nicht geschafft wird; dass sie andere Optionen für ihre Berufswahl haben.
Baldes: Angesichts der immer knapper werdenden Kulturetats sollten wir uns also darauf vorbereiten, dass ein größer werdender Anteil der Orchestermitglieder während seiner Ausbildungszeit bei der DSP seine Talente entwickeln soll und kann, aber dies nicht unbedingt mit dem Ziel, Profimusiker oder Profimusikerin zu werden?
Przesdzing: Das Wichtige ist ja, dass diese hochbegabten jungen Menschen in der DSP aus allen Teilen des Landes zusammenkommen und gemeinsam musizieren. Die Förderung dieses Orchesters muss unbedingt beibehalten werden! Wir haben hier eine große soziale und eine Bildungsaufgabe. An dieser Bildung darf man nicht sparen, auch wenn vielleicht in Zukunft „nur“ noch die Hälfte unserer Mitglieder später Musik studiert. 50 Prozent dieser hochbegabten jungen Menschen, die als Kulturbotschafter in Deutschland und der Welt wirken, sind aus meiner Sicht immer noch unschätzbar viele.
Baldes: Was möchtest du deinen Kolleginnen und Kollegen im DSP-Dozententeam mit auf den Weg geben? Und was den Kindern?
Przesdzing: Meinen Kolleginnen und Kollegen kann ich nur noch einmal das bestätigen, worüber wir uns in all den vielen gemeinsamen Jahren einig waren: Wir haben eine ganz wichtige Aufgabe! Wir müssen die jungen Menschen heranführen an die Kultur, wir müssen und wollen ihnen die Möglichkeit geben, tiefer hineinzuschauen. Wir geben ihnen auch das Handwerk mit, wir fördern das Zusammenspiel. Und ganz wichtig ist auch der zwischenmenschliche Kontakt außerhalb von den Proben! Die DSP als große Familie bedeutet musikalische Arbeit auf hohem Niveau, verbunden mit liebevollem Beisammensein und großem Respekt.
Den Kindern möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen: Ihr dürft heute im Konzerthaus Berlin oder im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins spielen. Aber dies ist nur möglich, weil eure Vorgänger dies für euch mit ihrer ganzen Leidenschaft, ihrem Engagement, ihrem Können ermöglicht haben. Gebt diesen Staffelstab weiter! Sorgt mit eurem Einsatz und eurer Qualifikation dafür, dass auch die Generation nach euch hier wieder willkommen ist. Und dabei vernachlässigt es nicht, unsere große DSP-Familie zu genießen. Nicht verbissen, sondern mit Freude und Ernsthaftigkeit. Es lohnt sich!