Hans-Joachim Rieß, Geschäftsführer des Landesverbands Hessen des VdM, hat ein Grundlagenwerk über „Die öffentliche Musikschule in Deutschland im Begründungszusammenhang kultureller Bildung“ geschrieben. Das Werk ist die Dissertation des Autors an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst im Doppelstudiengang Pädagogik und Musikpädagogik. Doktorvater war Peter Röbke. Erschienen ist es im Bärenreiter Verlag. Die nmz sprach mit dem Autor über die Publikation.
neue musikzeitung: Wie kamen Sie auf die Idee zum Thema des Buchs?
Rieß: Ich bin ein Musikschulkind im wahrsten Sinne des Wortes. Als einer der ersten Schüler an der Musikschule in Lampertheim habe ich dort die Entwicklung miterlebt. Nach dem Musikstudium war ich 25 Jahre lang Lehrer, Fachbereichsleiter, dann Musikschulleiter. An der PH in Ludwigsburg habe ich dann noch Kulturmanagement studiert und wurde schließlich Geschäftsführer des Landesverbands der Musikschulen in Hessen.
Mein Impuls für das Thema: In den vielen Diskursen, die sich durch die berufliche Tätigkeit ergeben, habe ich festgestellt, dass die Begrifflichkeiten sehr unscharf sind. Was verstehen wir unter Musikschule? Welche Rolle spielt der VdM? Wie verstehen wir in diesem Kontext musikalische Bildung? Hier wollte ich zur Klärung beitragen.
nmz: Was genau galt es zu klären?
Rieß: Ein Beispiel: Der VdM ist der Fachverband der Träger öffentlicher Musikschulen und versteht sich unter vielem anderem als Vermittler qualifizierten Fachunterrichts für alle Altersgruppen und für die vielfältige Auseinandersetzung mit Musik. Dem gegenüber steht eine Sichtweise des Kulturmanagements, wie ich sie in Ludwigsburg kennengelernt habe. Dort versteht man Musikschule nur als Kultur-, nicht als Bildungseinrichtung. Daraus ergibt sich die Frage: Warum gibt eine Kommune überhaupt Geld für eine Musikschule aus? Bildung ist nach diesem Modell nur im schulischen Kontext verortet, und alles, was wir als außerschulische Bildung bezeichnen, gilt als Luxus. Ich wollte mit der Arbeit zeigen, dass die Musikschule eine Geschichte hat, und zwar eine, die mit unserem demokratischen Denken eng verbunden ist. Ich bin dann auf einen möglichen Denkweg mit Hilfe der Prinzipien kultureller Bildung gestoßen, die die BKJ entwickelt hat. Diese Definition von Prinzipien habe ich als Rahmen genommen und daran die öffentliche Musikschule und ihre Geschichte gespiegelt.
nmz: Sie sprachen von unscharfen Begrifflichkeiten. Wie genau definieren Sie Musikschule?
Rieß: Mir wurde schnell klar, dass wir nicht einfach von „den Musikschulen“ reden sollten. Wir haben zum einen die öffentlich getragenen, meistens im VdM verorteten Musikschulen, die primär bildungs- und kulturpolitische Ziele umzusetzen haben. Es gibt auf der anderen Seite kommerzielle Unterrichtsanbieter.
Die öffentlichen Musikschulen haben eine Geschichte, die mit der Entwicklung unserer Demokratie seit der Weimarer Zeit zusammenhängt. Der VdM hat in seinem Strukturplan ein anerkanntes Modell für die öffentliche Musikschule beschrieben. Die Grundlagen öffentlicher Musikschularbeit sind aber übergreifender. Es gibt bestimmte Dinge, die eine öffentliche Musikschule in öffentliche Verantwortung stellen und dadurch förderungswürdig machen. Da hat der VdM mit seinem Modell wesentliche Vorarbeit geleistet. Aber theoretisch könnte man sich auch einen anderen Strukturplan denken.
nmz: Würden Sie sagen, dass eine private Musikschule, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllt, auch eine öffentliche Förderung bekommen müsste?
Rieß: Nein, der Fehler ist, dass hier dann nur vom Inhalt auf die Förderungswürdigkeit geschlossen wird. Es gibt aber eine andere Grundlage für die öffentliche Förderung: Wir haben in unserem Bildungssystem die allgemeinbildende Schule. Wenn wir aber von einer vollständigen humanistischen Bildung ausgehen wollen, gibt es Bereiche, die in der Schule nicht angemessen untergebracht werden können. Beispiel: Musik oder auch Sport. Gesellschaftlich geht es aber um die Erfüllung eines umfassenderen kulturellen Bildungsanspruchs, zu dem auch die musikalische Bildung gehört. Daher fördert der Staat ebenso den ergänzenden außerschulischen Bildungsbereich für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Hierfür stellt er zusätzliche Fördergelder bereit. Dies geschieht aber nicht nach dem Gießkannenprinzip. Vielmehr weist der Staat diese Mittel primär öffentlich verantworteten also gemeinwohlorientieren Einrichtungen zu, um auch hier seiner bildungspolitischen Steuerungsverantwortung gerecht werden zu können.
Ein Beispiel: Jede Stadt hat Stadtwerke, die für die Energie- und Wasserversorgung zuständig sind. Es käme kein Installateur auf die Idee zu sagen: Ich mache doch das gleiche und möchte deshalb auch gefördert werden. Es bleibt jedem überlassen, ob er sich auf dem freien Markt bewegt mit der ganzen wirtschaftlichen Freiheit oder ob er sich in einen staatlichen Rahmen hineinbegibt. Da ist die Demarkationslinie auch zwischen privaten und öffentlichen Musikschulen. Wenn ich als Musikschule einen gemeinnützigen Verein gründe oder eine gemeinnützige GmbH, kann ich keine privatwirtschaftlichen Interessen mehr verfolgen.
nmz: Gab es während Ihrer Arbeit andere zentrale oder überraschende Erkenntnisse?
Rieß: Ja: Wenn man sich die Geschichte der öffentlichen Musikschule anschaut, dann ist diese direkt verbunden mit der Elementaren Musikpädagogik (EMP). Anfang des 20. Jahrhunderts fand insofern eine Zeitenwende statt. Man sprach von einer neuartigen Musikerziehung, die sich dadurch vom klassischen Meister-Schüler-Verhältnis unterschied, dass man, inspiriert von der Reformpädagogik, den Menschen in den Mittelpunkt stellte.
Die Ideengeber der öffentlichen Musikschularbeit wie Jöde und ihm voraus noch Kretzschmar und Kestenberg haben mit der Etablierung dieser Institution auch die EMP vorangetrieben. Und es gibt eine gemeinsame Wurzel mit dem schulischen Musikunterricht. Die Qualität des schulischen Musikunterrichts wurde dadurch verbessert, dass man sich zumindest in den Unterstufen an dieser elementaren Musikerziehung orientiert hat. Die Entwicklung der öffentlichen Musikschule und die Entwicklung des schulischen Musikunterrichts nach der Wende zum 20. Jahrhundert haben mit der elementaren Musikerziehung einen gemeinsamen Nenner, der bis heute gültig ist.
nmz: Die heutigen Kooperationen zwischen Schule und Musikschule haben also einen historischen Nukleus?
Rieß: Ja. Zudem befasste sich der erste Musikschulkongress 1971 in Berlin schon mit der Ganztagsschule. Das damalige Thema ist heute sehr aktuell: Es ging um die Einbindung der öffentlichen Musikschule in das Bildungssystem in Deutschland. Das Thema gehört also tatsächlich zu den ursprünglichen Aufgaben der öffentlichen Musikschularbeit.
Heute verstehen die Musikschulen die EMP oftmals als Propädeutikum für alles, was danach kommt. Vor zirka zehn Jahren hat der VdM den neuen Bildungsplan zur EMP herausgegeben. Das war und ist ein ganz zentraler Moment, weil er da das gewürdigt hat, worum es eigentlich geht. Die EMP, wie wir sie heute haben, hängt ganz fest mit den Grundfesten der öffentlichen Musikschulidee zusammen. Wichtig ist es, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass wir bei den öffentlichen Musikschulen im VdM noch viel mehr in den Bereich der EMP investieren müssten. Wir brauchen hier auch viel mehr Professuren an den Musikhochschulen.
nmz: Eine solche Entwicklung ist aber doch an den Musikschulen schon zu beobachten.
Rieß: An den öffentlichen Musikschulen ist der Bedarf an qualifizierten Lehrkräften im Bereich der EMP sehr groß. Trotzdem sind hierfür beispielsweise in Hessen kaum Stellen vorhanden. Dabei ist die EMP die zentrale Schnittstelle, mit der die Musikschulen in ihren Kooperationsprojekten arbeiten können. Sie ist der Ort, an dem die Musikschule die Prinzipien kultureller Bildung, von denen ich eingangs gesprochen habe, umsetzen kann. Wenn man diese ernst nimmt, dann ist auch der Schritt zur Inklusion schon getan. Denn da geht es um die Ermöglichung eines stimmigen Musikunterrichts für jeden Menschen mit allen seinen Bedürfnissen und Begabungen. Eine öffentliche Musikschule kann nichts anderes als eine inklusive Musikschule sein. Das ist nicht neu. In ihrem Ursprung war die öffentliche Musikschule inklusiv, weil sie sich für alle öffnen sollte.