Die Entwicklung einer inklusiven Unterrichtspraxis, die Teilhabe Aller an den Angeboten der Musikschulen hat sich der Verband deutscher Musikschulen mit der Potsdamer Erklärung 2014 zum Ziel gesetzt. Musikschulen verstehen sich weitgehend als Teil der kommunalen Bildungslandschaft. Inklusion erfordert einen Perspektivwechsel, der Ressourcen und Lösungen in den Mittelpunkt des Denkens stellt, statt Probleme zu identifizieren.
Die Bundesfachtagung in Fürth schuf mit Vorträgen, Workshops und Praxispräsentationen sowie Konzerten inklusiver Bands einen spannenden Rahmen, darüber nachzudenken, welche Rolle kulturelle Bildung für die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft übernimmt und welchen (Mehr-)Wert besonders musikkulturelle Arbeit für den Einzelnen und die Gesellschaft bietet.
Auf der Basis der drei Dimensionen des Index für Inklusion „Inklusive Kulturen schaffen, Inklusive Strukturen etablieren und Inklusive Praktiken entwickeln“1 legten die Beiträge der Tagung den Fokus auf die Reflexion der eigenen Haltungen und der daraus sich ergebenden Veränderungen von Strukturen und Unterrichtspraxen. Musikschulen müssen sich entscheiden, ob sie sich als „selfish system“ (Vgl. Sloterdijk nach Oberschmidt, nmz 10/2018, S.18) verstehen oder sich öffnen für Veränderungen, die durch die heutigen gesellschaftlichen Anforderungen notwendig werden.
„Inklusion beginnt mit Herzen und Händen und endet in einer veränderten Gesellschaft“, so das Motiv von Klaus Wenzel, Ehrenpräsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV). Als Grundvoraussetzungen nannte er die vier K’s: Kommunikation, Kooperation – die ohne gute Kommunikation gar nicht denkbar ist – Kompetenz und Kapital. Wolfgang Stroh, Fachreferent für soziale Dienste der Diakonie Neuendettelsau, stellte den Anspruch auf Teilhabe und die Wege in die Teilhabegesellschaft in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er bezeichnete Inklusion als Formel für eine Gesellschaft, der auf Grund der Vielheit der erinnerte Zusammenhang verloren gegangen ist. Er rückte das ICH mit besonderen Qualitäten und überraschenden Fähigkeiten in den Blick und forderte eine Orientierung an Nichtperfektem. Es brauche offene Milieus des Zusammenlebens von „normal Verrückten“, die dazu fähig sind, sich auf variable Formen des Zusammenlebens einlassen zu können. Der Schlüssel dazu ist kulturelle Bildung, die statt Fürsorge zum Beispiel für Menschen mit Behinderung Selbstbestimmung zulässt. Dies bedarf der Reflexion der eigenen Haltung und der Möglichkeit, Erfahrungen zu sammeln.
Im Podiumsgespräch mit den beiden Referenten sowie Daniela Holweg, Fachberaterin für die Belange von Menschen mit Behinderung an Musikschulen in Fürth, und Stephan Birk, Musikschullehrer in Vaterstetten, wurde der Mehrwert vor allem musikkultureller Bildung für den Einzelnen unabhängig von allen Differenzkategorien vertieft: Identitätsbildung, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Stärkung des Selbstwertgefühls ebenso wie der Gemeinschaft und Erprobung experimenteller Freiräume. Musik und Musikmachen bieten größtmögliche Freiheit und vertreten alle Werte, die Menschsein überhaupt bedeuten: Wir sind alle gleich, wir gehören zusammen, es ist genug für alle da, wir sind verantwortlich für unser Handeln. Die Frage nach dem Mehrwert kultureller Bildung für die Gesellschaft blieb dagegen weitgehend unbeantwortet.
Den Wert kultureller Vielfalt stellte Rainer Buschmann, Abteilungsleiter der Musikschule Bochum und verantwortlich im Bochumer Modell, das seit 40 Jahren Menschen mit Behinderung Instrumentalunterricht ermöglicht, in den Mittelpunkt. Er hielt ein starkes Plädoyer für die Beschäftigung mit anderen Kulturen: Vielfalt ist eine unfassbare Chance und: „Wenn wir uns mit anderen befassen, lernen wir uns selber kennen.“ Er berichtete vom Auftritt seiner Gruppe Grenzenlos bei „Ruhr International“ in Bochum und dem Ensemble Alla Turca, das gemeinsam mit einer privaten türkischen Musikschule der Stadt gegründet wurde. Hier kommen unterschiedliche Musizierpraxen miteinander in Kontakt und treten professionell auf hohem Niveau auf. Buschmann forderte Strukturänderungen in Richtung Volksmusik und eine stärkere Verortung von Instrumentalfächern, die nicht den klassischen Kanon der Musikschulen bedienen, sowie die tarifliche Anstellung von Musikern nichtdeutscher Herkunft. Diese könnten zum Beispiel den Nachweis ihrer pädagogischen Qualifizierung durch die Teilnahme an der berufsbegleitenden Fortbildung BLIMBAM in Remscheid erhalten. Mit deutlichen Worten wandte er sich gegen Fremdenfeindlichkeit und erklärte den Begriff Rassismus für obsolet, da es keine unterschiedlichen menschlichen Rassen gebe.
Der Workshop „Gelingende Kooperationen / Teamarbeit im System Musikschule, Kooperations- statt Wettbewerbskultur“ stellte die Arbeit im Team als Wesensmerkmal öffentlicher Musikschularbeit und die Idee eines partizipativen Unterrichts zwischen Lernenden und Lehrenden in den Mittelpunkt. Es gibt eine Fülle von Untersuchungen über Kooperationen von Musikschulen mit außerschulischen Bildungspartnern, wenig Beachtung findet jedoch die Kooperation zwischen Lehrern und Schülern und solchen der Schüler beziehungsweise Kollegen untereinander innerhalb der Musikschulen. Inklusion lässt sich nur gestalten mit weitgehender Partizipation aller Beteiligten und der Beantwortung von Fragen wie: Wie werden Kinder und Jugendliche als Experten für ihr eigenes Lernen einbezogen, zum Beispiel in Bezug auf ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten, ihre Vorlieben, ihre Medienkompetenz, ihre eigenen Lernziele? Welche Rolle spielt eine offene Lernkultur? Wie tauschen sich Lehrer untereinander über ihre Erfahrungen und Unsicherheiten in Vermittlungskontexten aus? Wie nutzen sie ihre jeweils verschiedenen Kompetenzen? (vgl. Sodemann 2017, S. 74)2
Nach dem Motto „Musikschule gibt es nur im Plural“3 von Peter Röbke braucht es viele Kooperationen, um vor allem für die generationenübergreifende, selbstbestimmte Gestaltung musikalischer Lern-und Lebenswelten Formate zu ermöglichen.Im Alltag werden Kooperationen sehr oft negativ erfahren. Die Konzerte der verschiedenen Ensembles, die sich auf der Tagung präsentierten, zeigten deutlich, dass nur über eine ganz enge Kooperation der Musikschullehrer/-innen und der Schüler/-innen ein solches Klangergebnis zu erzielen ist. Für Kooperationen muss man sich kennen. Das ist nicht selbstverständlich im System Musikschule. In Bochum gibt es daher seit 2013 die Reihe „Live im Piccolo“, wo Musikschullehrer die Chance haben, sich als Künstler mit Kollegen zu treffen und gemeinsam zu musizieren.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung formulierten in kleinen Gruppen, was sie sich wünschten, damit Kooperation und Teamarbeit besser funktionieren. Dazu gehörte vor allem die Notwendigkeit, in langfristigen, nachhaltigen Projekten mit kompetenten Fachpartnern auf Augenhöhe zusammenarbeiten zu können. Gelingende Kooperation basiert auf einem guten Netzwerk. Die Teilnehmer brachten zum Ausdruck, dass sie sich mehr Ermutigung und Unterstützung von Seiten der Schulleitungen beim Aufbau von Netzwerken wünschen. Sie wünschen sich zudem, dass der Tagung Wirkungen auf den Musikschulalltag folgen.
Die Unterrichtsdemonstration „Vielfalt Live“ mit einer in vieler Hinsicht heterogenen Gruppe von Gitarristen nach der Methode „Max einfach“ von Robert Wagner übersetzte alle genannten Aspekte in die Praxis und überzeugte die Teilnehmer insbesondere in Bezug auf Differenzierungs- und Entscheidungsmöglichkeiten der Musikerinnen und Musiker.
Höhepunkte der Tagung waren auf jeden Fall die Konzerte der inklusiven Bands/Ensembles „Vollgas Connected“, „Werkstatt All Stars“, „Groove Inclusion“ und „BlimBamBand“, die mit Rock, Pop, Folk und Weltmusik abends die Bühne rockten.
Alle Bands setzen sich aus Schülern und Profimusikern mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen zusammen. Dennoch übernimmt jeder Verantwortung für sich und die Gruppe und steht mit großer Begeisterung, die sofort auf das Publikum überspringt, auf der Bühne.
Insgesamt wurde von den Teilnehmenden immer wieder hervorgehoben, dass die Organisation der Fachtagung mit der Mischung aus Referaten und Praxispräsentationen sowie einer guten Gesprächskultur hervorragend war, und dass die vielen kleinen Pausen inklusive der guten Verpflegung einen wohltuenden Rahmen bildeten. Also Kompliment an das ganze Team!
Anmerkungen
1 Booth,T./Ainscow, M. (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwicklen
Booth,T./Ainscow, M. (2017): Index für Inklusion. Ein Leitfaden für Schulentwicklung. Mit online-Materialien. Auch für Kindergärten, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen. Hrsg. von Achermann, B./ Amirpur,D./Braunsteiner, M-L/Plate, E./ Platte, A. Weinheim
2 Verband deutscher Musikschulen (Hrsg) (2017): Spektrum Inklusion. Wir sind dabei! – Wege zur Entwicklung inklusiver Musikschulen, Bonn
3 Röbke, P. (2015): Drei Musikschulen unter einem Dach? Zu den drei grundlegenden Arbeitsfeldern der Musikschule. In: Ardila-Mantilla, N./Röbke,P./Stekel,H. (Hrsg.) Musikschulen gibt es nur im Plural, Innsbruck
Veranstaltet wurde die Tagung vom Verband deutscher Musikschulen in Zusammenarbeit mit dem Verband Bayerischer Sing- und Musikschulen, der Musikschule Fürth e.V. und der Wilhelm Löhe Hochschule Fürth.