Berlin. Gleich zwei hochambitionierte Dirigenten waren in die Hauptstadt angereist, um hier mit den jungen Musikerinnen und Musikern der Deutschen Streicherphilharmonie (DSP) für den Konzertauftakt ihrer diesjährigen Sommertournee zu proben. Die eindrucksvolle Anzahl von fast 90 Streichertalenten war allerdings nicht der Grund für die außergewöhnliche Doppelbesetzung. Vielmehr war die Zeit gekommen, einen von langer Hand geplanten Tausch umzusetzen: Taktstock gegen Geigenbogen – oder umgekehrt. Welche Perspektive man auch einnahm, der Tausch stellte sich als Glücksfall für alle Beteiligten heraus: für den brillanten Geigenvirtuosen, für den langjährigen Chefdirigenten, für das beeindruckte Publikum und für die gleichfalls beeindruckten Orchestermitglieder.
Als aus Mecklenburg-Vorpommern die neuerliche Einladung zur Mitwirkung bei den Festspielen kam, war die Freude bei der Deutschen Streicherphilharmonie groß. Umso mehr, als für diesen Sommer die Zusammenarbeit mit Emmanuel Tjeknavorian in Aussicht gestellt wurde, war doch bereits einige Monate zuvor bei den Dresdner Musikfestspielen eine ganz besondere musikalische wie zwischenmenschliche Symbiose zwischen dem österreichischen Shootingstar an der Violine, den nur wenig jüngeren Orchestermitgliedern und ihrem Chefdirigenten Wolfgang Hentrich entstanden. Und dann die Überraschung: Der bereits auf den Bühnen der Welt gefeierte Solist würde nicht mit Geigenbogen, sondern mit Dirigentenstab die bundesdeutsche Streicherelite in der Rostocker Halle 207 zu musikalischen Höchstleistungen mitreißen. Bei dem geplanten Violinkonzert Distant Light von Peteris Vasks sollte also ein anderer Solist brillieren. Mit dem Ersten Konzertmeister der Dresdner Philharmonie, dem lettischen Komponisten und seiner Musik sehr verbunden, konnte so ein spannender Rollentausch vereinbart werden, der sich in der Konzertankündigung dann wie folgt las: Deutsche Streicherphilharmonie — Dirigent: Emmanuel Tjeknavorian, Solist: Wolfgang Hentrich. Der Erfolg gab ihnen allen, die an diesem Deal beteiligt waren, Recht und die Wehmut über Tjeknavorians Abschied von der großen Solokarriere wich dem Enthusiasmus über sein sicht- und hörbares Talent als Dirigent. Der Solist des Abends indes wurde nicht nur vom Publikum begeistert gefeiert: Auch seine langjährigen Schützlinge waren beeindruckt von ihrem Maestro, den sie bei den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern erstmals als Solisten begleiten durften. Die Sorge, er könne ihnen nun als Chefdirigent abhandenkommen, wurde von Hentrich gleich zerstreut – ist ihm doch die Arbeit als künstlerischer Leiter des Orchesters eine große Herzensangelegenheit. Der Wunsch, Tjeknavorian würde den Taktstock bald wieder für die DSP schwingen, wurde von diesem gleich bekräftigt – hat ihn doch das Proben- und Konzerterlebnis mit den gerade mal 11- bis 20-jährigen Musikerinnen und Musikern so sehr „geflasht“ (O-Ton Tjeknavorian), dass er sich sogar schon nach einem alternativen Betätigungsfeld bei der Deutschen Streicherphilharmonie umgeschaut hat.
Es war ein Sommer der Superlative für das junge Spitzenensemble der Musikschulen, von denen hier zumindest noch ein zweiter erwähnt werden soll: das Wiedersehen des Streichernachwuchses mit Alexej Gerassimez, dem ersten Artist of Residence der Deutschen Streicherphilharmonie. Im vergangenen Herbst hatten sie erstmalig gemeinsam auf der Bühne gestanden und das Publikum im Konzerthaus Berlin und im Kieler Schloss mit Ney Rosauros Marimbaphonkonzert Nr. 1 bezaubert. Nun holten sie mit dem jungen Starpercussionisten gleich im Anschluss an das Gastspiel in Rostock die abgesagten Konzerte des Sommers 2020 nach: im ausverkauften und dank eines speziellen Schutzkonzeptes tatsächlich vollbesetzten Brandenburger Dom bei den dortigen Sommerkonzerten sowie am Folgetag bei den ostfriesischen Gezeitenkonzerten in der Stadthalle Aurich, wo die Auflagen zwei aufeinanderfolgende Konzerte ohne Pause erforderlich machten. Ein wahrlich anspruchsvolles Programm, das Orchester, Solist und (jetzt wieder der Chef-)Dirigent absolvierten und eine gewaltige logistische Herausforderung für den Staff. Nach vier Konzerten an drei Tagen und jeder Menge Transporterstunden war allerdings noch kein Durchschnaufen angesagt. Der langjährige Rundfunkpartner Deutschlandfunk Kultur hatte für zwei Tage den Sendesaal von Radio Bremen reservieren können, Alexej Gerassimez hatte Zeit (ein Glücksfall angesichts seines prall gefüllten Kalenders), sodass mit dem Tonmeister des Labels GENUIN der erste Teil der neuen, 15. CD der Deutschen Streicherphilharmonie aufgenommen werden konnte. Neben den vier Sätzen des Marimbaphonkonzertes blieb da noch Zeit für Dietrich Zöllners „Poco Insanimus“, eine im Januar 2020 im Dresdner Kulturpalast für die DSP uraufgeführte Komposition.
Der anschließend notwendige Abschied von ihrem verehrten Artist in Residence fiel den jungen Musikerinnen und Musikern nicht allzu schwer, war doch die nächste Begegnung bereits für den 19. September vereinbart, wenn Orchester und Solist unter Leitung des weltweit renommierten Dirigenten Marek Janowski in der Historischen Stadthalle Wuppertal konzertieren würden.
Viele Orchesterbusstunden später und nach einem atmosphärischen Freilichtkonzert beim Palais Sommer Dresden mit nicht enden wollendem Jubel bildete das (bereits dritte) Konzert der Deutschen Streicherphilharmonie im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins einen fulminanten Abschluss der 18-tägigen Tournee. Mit Werken wie Chopins Klavierkonzert Nr. 2, Brittens Simple Symphony, Griegs Holberg-Suite oder Barbers Adagio und gemeinsam mit der Pianistin SoRyang, die inzwischen bereits Teil der DSP-„Familie“ geworden ist, rissen das Orchester und sein Chefdirigent das Publikum von den Stühlen. Über solche Euphorie staunten sogar die gestrengen Wächter des Goldenen Saals.
Was sich Emmanuel Tjeknavorian als alternatives Betätigungsfeld bei der DSP überlegt hat, wollen Sie noch wissen? „Wenn Wolfgang dirigiert, komme ich halt als Betreuer mit.“