Erwartungsvoll einerseits, vorsichtig abwartend andererseits schauten sie, die neun Klavierschüler der Studienvorbereitenden Ausbildung der Rheinischen Musikschule Köln, die sich unter der Leitung des Dozenten Philip Scharnberg vier Stunden lang auf das Abenteuer „Improvisation“ einlassen wollten. Die Jugendlichen – 13 bis 17 Jahre alt – sind exzellente Pianistinnen und Pianisten, sie haben eine brillante Technik und sind hoch musikalisch. Alle haben Wettbewerbserfahrung und sind es gewohnt, klassische Werke in hoher Qualität zu interpretieren.
In der Kunst der freien Improvisation aber sind sie unerfahren; das – oft sehr dichte und strenge – Netz der vorgegebenen Komposition entfällt. Die Freiheit ist verlockend und macht gleichzeitig Angst. Entsprechend vorsichtig geraten die ersten Versuche: ohne Pedal, zurückhaltend in der Dynamik, gehemmt in der Bewegung, eng an der Aufgabe „klebend“, noch ohne Mut zur Interaktion.
Umso erstaunlicher die explosive Entwicklung, die man in den folgenden vier Stunden beobachten konnte: Solo, im Duo und zu dritt an ein und zwei Klavieren erklangen Improvisationen, die originell in den Ideen, dicht in der Aussage, mit überraschenden Wendungen, im aufregenden Dialog der Hände und der Spieler an Liszt, Rachmaninoff, Debussy, Bartók oder Prokofieff erinnerten. Was war geschehen?
Geschickt verstand es der junge Dozent Philip Scharnberg, den Jugendlichen Mut zum Ausdruck zu machen, ihre Lust am Experiment zu wecken, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Dabei führte er behutsam, lobte, spornte an, gab Tipps, wurde aber immer wieder auch einfach Teil der Gruppe, selbst ein Suchender und Fragender. So spannend wie die Ergebnisse war der Prozess ihrer Entstehung. Im Plenum und in kleinen Arbeitsgruppen zu zweit und zu dritt wurden aus abstrakten Aufgaben faszinierende Musikstücke. Und immer wieder stellte sich die Frage: „Was hat sie/er gemacht, was habt ihr erlebt und empfunden?“
Aus der Beobachtung der einzelnen Improvisationen entsprangen Erkenntnisse über Musik allgemein: Jede Musik hat einen Puls. Es gibt keine „falschen“, nur „interessante“ Töne: Etwas zufällig Gefundenes, scheinbar Wertloses wird unter den Händen des Spielers zur Kostbarkeit. Man muss nicht immer alle Farben benutzen – auch ein Musiker wählt wie ein Maler seine Farbpalette, das kann im Extremfall ein einziger Ton sein. Erlebte und gemessene Zeit können extrem unterschiedlich sein. Die Grenzen zwischen Komposition und Improvisation sind fließend. Musik in unserer Notenschrift darzustellen ist nur eine von zahllosen Möglichkeiten. Etwas gemeinsam zu erfinden, aufeinander zu reagieren, gemeinsam ein Musikstück hörend zu genießen, kann glücklich machen.
Scheinbar aus dem Moment geboren, waren die Phasen des Workshops gut durchdacht und bauten methodisch logisch aufeinander auf: Einer ersten Kontaktaufnahme im kurzen Eingangsgespräch folgte in gemeinsamer Bewegung eine rhythmische Gruppen-Improvisation: Die Gruppe findet swingend den gemeinsamen Puls, auf den die improvisierten Rhythmen als farbige Gestalten „aufgesetzt“ werden. Die Erfahrung, einen musikalischen Parameter einfach zu halten, um für andere frei zu sein und diese spontan zu entwickeln, wird zur Grunderfahrung des folgenden Teils.
Jeder musikalische Parameter kann zum Thema werden: Taktart, Rhythmus, Tempo/Agogik, Tonvorrat (Pentatonik, Modi, selbst definierte Tonräume), Harmonik, Dynamik, Artikulation, Form. Anfangs gemeinsam mit dem Dozenten, dann auch in Zweiergruppen wählten die Jugendlichen einen Parameter aus, den die Gruppe erraten musste.
Diese Form des „Ratespiels“ – in Wirklichkeit viel mehr als das, wie die Diskussionen zeigten – erwies sich als besonders fruchtbar. Später wurden auf diese Weise auch Grafiken und Bilder aus einem Angebot, das die Gruppe kannte, von einzelnen Spielern in geheimer Absprache ausgewählt und vertont. Spannend waren dann die unterschiedlichen Meinungen darüber, welches Bild gemeint sein könnte und vor allem die Begründungen.
Besondere Spannung entstand immer dann, wenn die Spieler (meistens Zweier-, aber auch einmal eine Dreier-Gruppe) aus den Proberäumen nach ca. 15 Minuten zurück kamen, um ihre „Ergebnisse“ im Plenum vorzustellen. Verblüffend war die Vielfalt der Umsetzung auch bei scheinbar eng umgrenzten Aufgaben. Das Thema „Kirchentonarten“ reichte von der extatisch-diabolischen Feier des Tritonus im Teufelstanz (lydisch) über eine entgleiste Dudelsack-Episode (mixolydisch) zum kriminalistischen Ostinato der kleinen Sekunde (phrygisch) bis zur endlosen Unterwasser-Musik im Stil von Satie (dorisch).
Zu einem besonderen Höhepunkt am Schluss des Workshops geriet die – verbale und musikalische – Interpretation des berühmten Bildes „Nighthawks“ von Edward Hopper. Die dargestellte nächtliche Szene berührt in ihrer Atmosphäre von Kälte und Einsamkeit unmittelbar. In vier Gruppen erfanden die Schüler Geschichten zum Bild und stellten sie improvisatorisch dar. Dabei wurde zunächst gespielt, dann erzählt. Hier die Versionen:
- Die Bar war ursprünglich gut besucht, alle genießen den Abend und sind guter Stimmung. Allmählich leert sich die Bar. Zurück bleibt – außer dem Barkeeper und einem weiteren Mann – ein Paar, das sich nach langer gemeinsamer Zeit nichts mehr zu sagen hat.
- Die Frau hat ihren Mann mit dem anderen Gast betrogen, der Ehemann weiß nichts davon, vielleicht ahnt er etwas
- Der zweite Gast ist gar kein anderer Mann, sondern das andere Ich, der Doppelgänger des ersten. Was ist Identität?
- Das Paar streitet sich, zunächst leise und beherrscht, dann immer heftiger. Der Streit eskaliert, es geschieht ein Mord…
Zum „Nach-Hause-Tragen“ gab es ein Skript und Ton-Aufnahmen der Improvisationen. Hätten wir nicht am Ende den Flügel behutsam geschlossen, aus dem Workshop wäre eine unendliche Geschichte geworden.