Im Rahmen der diesjährigen Bundesversammlung des VdM wurde Ulrich Rademacher, Direktor der Westfälischen Schule für Musik der Stadt Müns- ter, als Nachfolger von Winfried Richter im Amt des Bundesvorsitzenden bestätigt. Über Chancen und Herausforderungen für den Verband standen er sowie der Bundesgeschäftsführer Matthias Pannes Rede und Antwort.
nmz: Herr Rademacher, seit 2005 engagieren Sie sich im Bundesvorstand des VdM, seit April 2013 sind Sie der Vorsitzende des Verbandes. Was ist Ihre persönliche Motivation, Herz und Hirn in diese Arbeit zu investieren?
Ulrich Rademacher: Irgendwann in einer Bundesversammlung der Neunziger habe ich mich mal bei einer Diskussion über den Strukturplan des VdM darüber aufgeregt, dass man genau das „Hauptfach“ nennt, was jeder Privatlehrer auch kann, nämlich Klavier- oder Flötenunterricht geben. Und dass man alles andere „Nebenfach“ nennt, was doch eigentlich die Kernkompetenzen der öffentlichen Musikschule sind. Da wurde ich direkt zur Mitarbeit zwangsverpflichtet – und habe schnell gemerkt, dass es viele Leute gibt, mit denen zu streiten, um anschließend neue Wege zu beschreiten, ausgesprochen fruchtbar ist. Seitdem macht mir diese Arbeit auf Bundesebene, besonders die Arbeit an den Grundsatzfragen, großen Spaß.
Gefordert: Festanstellungen
nmz: Wo sehen Sie aktuell Anforderungen an die Verbandsarbeit, wo haben Sie auch Forderungen an Politik und Gesellschaft?
Rademacher: Überall erleben wir, dass von der Wertschätzung der Musikpädagogik gesprochen wird, deren Steigerung mit jeder Studie noch deutlicher wird. Und die Politik nickt das immer dankbar ab. Diese Wertschätzung muss sich in den Musikschulen, aber auch ganz eindeutig in langfristigen Strukturen und Anstellungsverhältnissen für Mitarbeiter abbilden. Sonst stirbt unser Berufsstand aus. Dann können wir die tollsten Programme machen, haben aber in zehn Jahren kein Personal mehr. Langfris-tig können wir nur unsere Aufgaben erfüllen, wenn die Träger auch für die Rahmenbedingungen sorgen.
Matthias Pannes: Darüber hinaus können wir gegenüber den Kindern und Jugendlichen, denen wir ja mit Hilfe von Kunst und Kultur auch einen Weg zu mündigen, zur Differenzierung fähigen und kreativen Menschen eröffnen wollen, nicht gut ein pädagogisches Konzept und ein pädagogisches Ethos vertreten, wenn das durch Lehrkräfte geschieht, die Existenzangst und wenig Perspektiven für die berufliche Zukunft haben, und wenn unsere Strukturen als Bildungsorganismus nicht so gesichert und zukunftsfähig sind, dass den jungen Menschen diese musikpädagogische Leistung richtig vermittelt werden kann.
nmz: Was erwarten Sie denn von Ihren Mitgliedern, den Musikschulen in naher Zukunft? Muss sich dort auch etwas ändern?
Rademacher: Wenn wir in großem Maß die Forderung nach dem TVöD stellen, dann müssen wir zeigen – und dafür brauchen wir die Unterstützung unserer Mitgliedsschulen –, dass fest angestellte Lehrkräfte viel mehr können als freie Mitarbeiter. Ich erwarte von meinen Kollegen, dass sie diesen Schatz der Zusammenhangstätigkeit der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch wirklich heben. Dieser Schatz wird nicht in allen Musikschulen gleich gut genutzt. Wenn es für unsere Träger so aussieht, dass junge, hoch motivierte freie Mitarbeiter, die gerade aus der Hochschule kommen und sich noch profilieren wollen, möglicherweise den besseren Job machen, flexibel sind und auch noch geeignet für die neuen Projekte und Aufgaben – was könnte einen Träger dann motivieren zu sagen: „Wir brauchen den TVöD?“ Ich bin fest davon überzeugt, dass wir sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse brauchen. Mit Angst um die berufliche Zukunft ist kein Staat zu machen, keine Zukunft der musikalischen Bildung zu gestalten. Aber eine solche Struktur der Festanstellungen, wenn es sie denn gibt, müssen wir dann auch optimal nutzen.
nmz: Wo sehen Sie die besonderen Chancen dieser von Ihnen geforderten Struktur?
Rademacher: Die Musikschule kann ja ein fantastisches Labor für pädagogische Ideen sein, die sich im Team verwirklichen, rückkoppeln, evaluieren lassen, die sich besprechen, kritisieren, umwerfen und wieder neu aufstellen lassen. Das aber geht nur in Musikschulen, in denen die Lehrkräfte noch über ihren eigenen Unterricht hinaus in der Lage sind mitzudenken, wenn ein kollegialer Kontakt da ist und man offen ist für neue Experimente, Projekte und Programme. Und zwar keine Programme, die von der Politik „diktiert“ werden und die man dann abarbeiten muss, sondern solche, die direkt an der Musikschule oder auch an einer allgemeinbildenden Schule entstehen. Solche kreativen Situationen lassen sich nur schaffen, wenn man mit Leuten arbeitet, die nicht nach ihrer Unterrichtsstunde die Tür schließen und nach Hause gehen oder zur nächsten Musikschule fah-ren, um möglichst viele Unterrichtsstunden geben zu können.
Pannes: Musikschule ist mehr als Unterrichtserteilung. Sie ist Teil eines Verbundsystems, in dem vor allem die Ensemblearbeit essentieller Bestandteil ist, aber auch beispielsweise die Beschäftigung mit Neuer Musik, mit kultureller Vielfalt und mit kreativen Freiräumen Dimensionen über den Unterricht hinaus eröffnen. Dabei leistet die Musikschule die Vernetzung mit anderen musikalischen Akteuren innerhalb der Kommune im Sinne eines Kompetenzzentrums planvoll und strukturiert. Insofern bedarf unsere Arbeit der Langfristigkeit und der Planbarkeit. Das geht beim Personal eben nur dadurch, dass wir kein Vertrags- und kein Projekthopping haben.
Kooperation mit den Musikhochschulen
nmz: Wenn sich Musikschulen und ihre Lehrkräfte immer wieder auf neue Projekte, Strukturen und Aufgaben einstellen müssen, sind auch die Hochschulen gefragt. Hat sich an der Zusammenarbeit etwas getan? Muss sich noch mehr tun, damit genau die Qualität und Kompetenz, die Sie brauchen, auch bei den Musikschulen ankommen?
Rademacher: Ich glaube, an den Hochschulen brodelt es – vor neuen, jungen Ideen von jungen Professoren und Rektoren, die ganz andere und aufregende Visionen von Musikschule haben. Alle musikalischen Themen, die wir haben, zum Beispiel die Arbeit mit Behinderten, mit Menschen aus anderen Kulturen, mit Erwachsenen, mit Alten, mit ganz Jungen, mit sogenannten Bildungsbenachteiligten, aber auch Lehren und Lernen unter ganz neuen Rahmenbedingungen: Das sind Themen, die in der Hochschule mehr und mehr bearbeitet werden. Aber was haben wir davon, wenn all das keine Struktur hat, wenn es in den Diploma-Supplements nicht richtig nachzulesen ist? Jedenfalls nicht so, dass wir, wenn wir für eine bestimmte Aufgabe bestimmte Kompetenzen benötigen, wissen, wo wir diese finden. Vielleicht ist das in der derzeitigen Umbruchphase nicht anders möglich, aber für uns ist es noch recht kompliziert. Die Starre und die überhebliche Haltung der Hochschulen aber sind gewichen, die gibt es nicht mehr. Wenn wir jetzt zusammensitzen, dann sprechen wir über spannende Themen, die uns beide interessieren, und über die Frage, wie wir da gemeinsam weiterkommen. Es gibt keine unnötige Distanz, Abschottung, Überheblichkeit – auch keinen Minderwertigkeitskomplex mehr. Aber es ist noch nicht so, wie wir uns das wünschen: dass sich Leute mit einer klar beschriebenen Kompetenz bei uns bewerben und wir genau wissen, wo wir sie einsetzen können.
Veränderte Bildungslandschaft
nmz: Viel diskutiert wird im Verband und darüber hinaus die veränderte Bildungslandschaft, die die musikpädagogische Arbeit wesentlich beeinflusst und auch beeinträchtigt …
Rademacher: Im Zusammenhang mit der Ganztagsschule bleibt im Moment immer weniger Zeit für individuelle musikalische Bildung. Die glühenden Verfechter von Ganztagsunterricht sagen allerdings: Wir haben zum ersten Mal die Chance, bildungsbenachteiligte Kinder im Ganztag mitzunehmen, auch im Bereich der musikalischen Bildung. Das dürfen wir nicht von der Hand weisen.
Ich werde mich nicht dafür einspannen lassen, gegen den Ganztag zu sein. Das ist für mich erst einmal eine neutrale Frage. Wenn es uns gelingt, diese Chance zu nutzen, haben wir einen Schritt nach vorne gemacht. Wenn der Ganztag aber die Kinder ganz und gar in kognitive und MINT-Fächer einspannt,
dann haben Politik und Gesellschaft die Chance vertan. Wir dürfen Bildung nicht mit Ausbildung verwechseln. Wir wollen den ganzen Menschen bilden und ihn nicht nur passend machen für wirtschaftliche Zusammenhänge. Im Ganztag brauchen wir das, was wir unter der Forderung nach „Zeiten und Räumen“ zusammenfassen. Und wir nehmen den Begriff „Ganztag“ wörtlich, meinen also auch den Vormittag. Es müssen Überäume, Unterrichtsräume, Instrumente eingerichtet beziehungsweise angeschafft und die Zeitstrukturen den Erfordernissen angepasst werden, um die Musikschulen in die Situation zu versetzen, vor Ort in den Schulen musikalische Bildung zu veranstalten.
Auf der anderen Seite wissen wir aus unserem Umgang mit Kindern, dass diese auch Sehnsucht danach haben, den Raum Schule einmal zu verlassen. Das Außerschulische hat einen ganz großen Charme, sowohl der Instrumentalunterricht als auch das Orchesterspielen oder die Band. Eine Musikschule, ein Haus der Musik, für Musik gebaut und ausgestattet, voll von Gleichgesinnten kann schon ganz schön inspirierend sein. Und bei aller Wertschätzung für den sozialen Lerneffekt des Musizierens: Für die Kinder ist es eine sensationelle Unterrichtssituation, einmal in der Woche ein Gegenüber für sich ganz alleine zu haben – 100 Prozent, ungeteilt.
Pannes: Kinder und Jugendliche können aus ihrem angestammten Rollendasein in der Schule in eine andere Position wechseln, in der Gruppe Gleichinteressierter ihre Stärken ausbauen. Kinder und Jugendliche können sich da entwickeln, wo man ihnen diese Freiräume ermöglicht und wo sie nicht in der formellen Hierarchie der Schule oder in informellen Hierarchien der schulischen Peergroup immer wieder den gleichen Platz zugewiesen bekommen.
Der Ganztag ist aber nur eine Teilbetrachtung. Drängender ist das Problem der Schulzeitverkürzung und Schulzeitverdichtung. Die Aufgabe, dieser neuen Belastung von Kindern und Jugendlichen durch die Schaffung von Entfaltungskorridoren gezielt entgegenzu- wirken, muss politisch mit geeigneten Maßnahmen von Seiten der Kultusministerkonferenz begleitet werden. Wir müssen diese MINT-Vereinnahmung, die von der Schule betrieben wird, auflösen. Hier haben wir keine Zeit zu verlieren.
Rademacher: In der Tat ist die Verdichtung das eigentliche Problem. Am leichtesten ließe sich das lösen, indem man Entspannung reinbringt und sagt: Die Kinder haben wieder neun Jahre Zeit. Ich glaube aber, wenn wir uns nur auf diese Rahmenbedingungen fokussieren, vergeben wir die Chance, dort wo G8 nicht zu verhindern ist, den Stall auszumisten mit allem, was da nicht hingehört.
nmz: Wer soll denn aber darüber entscheiden, was „ausgemistet“ wird? Aus der Sicht der Lehrer in den Naturwissenschaften kann „ausmisten“ ja auch bedeuten, dass zuallererst der Musikunterricht entfällt …
Rademacher: Da sind auch Kooperationen mit anderen musikpädagogischen Verbänden und Kooperationen vor Ort gefragt. Wir führen gerade eine Umfrage zu dem Thema in unseren Mitgliedsschulen durch: An welchen Schulen gibt es zum Beispiel schon Drehtürmodelle, die es den Kindern ermöglichen, den Schulunterricht in welchem Fach auch immer zu verlassen, um ihre Klavierstunde zu nehmen? Wie man ausmisten kann, wollen wir auch durch die Frage herausfinden: Wo hat das schon mal funktioniert?
nmz: Wird alles besser, wenn wir die Kultur im Grundgesetz verankern – oder sogar die musikalische Bildung, wie in der Schweiz geschehen?
Rademacher: Zum VdM-Kongress hatten wir Hector Herzig eingeladen, der über die Entwicklung in der Schweiz berichtet hat. Dort haben die Bürger entschieden, nicht nur die Verpflichtung des Staates zur musikalischen Bildung in die Verfassung zu schreiben, sondern auch die Qualität und die drei Punkte „Musikalische Bildung für alle“, „Musik im Schulunterricht“ und „Begabtenförderung“ aufzunehmen. Das ist wesentlich konkreter als „Kultur als Staatsziel“. Wichtig ist doch, die Politik jeden Tag neu davon zu überzeugen, welche Bedeutung die musikalische Bildung hat, und unsere kontinuierliche Arbeit mindestens so glänzend erscheinen zu lassen wie die Projektarbeit. Das fände ich viel wichtiger als sich darauf zu verlassen, dass wenn eines Tages Kultur im Grundgesetz steht, wir nichts mehr tun müssen. Wenn die Kultur im Grundgesetz verankert wird, dann sagt das noch lange nichts über die Akteure und auch nichts über Qualität und Ressourcen aus.
Pannes: Kultur im Grundgesetz ist nicht durch einen Leistungsbestandteil abgesichert oder unterlegt, genauso wenig wie das in der Verfassung einzelner Länder der Fall ist.
Rademacher: Andererseits dürfen wir uns auch nicht so klein machen, dass wir die Kultur im Grundgesetz nicht lautstark fordern. Immerhin ist Deutschland eine Kulturnation. Das ist so wichtig, dass wir uns eigentlich doch anstrengen sollten, dies in Landesgesetzen und im Grundgesetz zu verankern. Das würde dann natürlich Konsequenzen nach sich ziehen, aus einer solchen Verpflichtung muss sich auch zivilgesellschaftliche Verantwortung konstituieren.
Pannes: Kultur im Grundgesetz wird ja vom Deutschen Kulturrat schon seit einigen Jahren bei jeder Legislaturperiode erneut und vertieft gefordert, auch zum Beispiel von der Kulturenquete-Kommission. Wir würden also mit der musikalischen Bildung im Verfassungskontext nur ein Teilsegment abdecken.
nmz: Vielleicht ginge es mehr um die kulturelle Bildung …
Rademacher: Das wäre wieder ein eigener Aspekt, der eine ganz andere Bedeutung hat als der Begriff „Kultur“. Bei der kulturellen Bildung weiß jeder: Das ist eine Verpflichtung, das ist die Zukunft … Wir wollen gerne lernen von den Erfahrungen, die die Schweizer damit machen. Nur gibt es schon jetzt einen großen Streit in der Schweiz über die gesetzliche Umsetzung und um Fragen wie: Ist die schulische Bildung wichtiger oder die individuelle Förderung oder die Begabtenförderung? Für uns heißt das: Wenn wir diesen Weg gehen, müssen wir sehr aufpassen. Unser Verhältnis zu den anderen musikpädagogischen Verbänden muss dann so abgesichert sein, dass das nicht der Anlass dafür ist, das mühsam erarbeitete Miteinander wieder auseinanderzudividieren.
Das Gespräch führten Theo Geißler und Barbara Haack