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Freiräume für Kinder und Jugendliche schaffen

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In Baden-Württemberg kündigt sich die gebundene Ganztagsgrundschule an
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Soeben ist der 49. Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ zu Ende gegangen: ein Erfolgsmodell der musikalischen Bildung, das sowohl Breitenarbeit betreibt wie auch Spitzenleistungen herausstellt und fördert. Austragungsort war in diesem Jahr die baden-würt-tembergische Landeshauptstadt Stuttgart. In mehr als einer der öffentlichen Reden wurde betont, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Baden-Württemberg seit vielen Jahren den Preis-Rekord halten: Immer wieder sind es die Musikerinnen und Musiker aus dem „Ländle“, die mehr erste, zweite und dritte Preise gewinnen als die Schüler aus anderen Bundesländern. Auch in diesem Jahr reicht ein kurzer Blick auf die Statistik für die Erkenntnis, dass die jungen Musiker aus dem Südwesten der Republik wieder einmal „abgesahnt“ haben.

Allerdings läuft Baden-Württemberg mit seiner aktuellen Schul- und Bildungspolitik Gefahr, die Rolle des „Muschterländle“ in Sachen musikalischer Bildung leichtfertig zu verspielen. Das befürchtet jedenfalls Friedrich-Koh Dolge, Leiter der Stuttgarter Musikschule und Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Musikschulen. Das Stichwort lautet „gebundene Ganztagsgrundschule“. Nicht nur in Baden-Württemberg steht die Frage, wie eine flächendeckende, gezielte und qualitätvolle musikalische Bildungsarbeit mit der Idee der Ganztagsschule in Einklang gebracht werden kann, ganz oben auf der Agenda der Musikpädagogen. In Stuttgart gewinnt diese Frage aber derzeit an Aktualität. Bis spätes-tens 2020 müssen sich alle Stuttgarter Grundschulen verbindlich entschieden haben, ob sie eine Betreuung der Kinder bis 14, 16 oder 17 Uhr anbieten. Das ist zunächst ein auf die Landeshauptstadt begrenzter Modellversuch, aber die Ausdehnung ins Land wird wohl nicht lange auf sich warten lassen. Etwa 80 Prozent der Eltern haben bereits den Wunsch geäußert, ihre Kinder bis 16 Uhr in der Obhut der Schule zu belassen. Das Wörtchen „gebunden“ bedeutet dabei, dass dies dann keine freiwillige Option mehr, sondern für alle Kinder verpflichtend ist. Hinzu kommt, dass derzeit viele Grundschulen zu größeren Einheiten zusammengelegt werden, die dann auch größere Betreuungseinheiten mit sich bringen.

Natürlich bedeutet diese gebundene Ganztagsschule nicht nur Nachteile. Kinder aus schwierigen Verhältnissen können von einer umfassenderen Schul-Betreuung durchaus profitieren. Die Probleme beginnen aber schon, so Dolge, bei der derzeit geltenden Lernmittelfreiheit. Die besagt, dass Eltern zum Beispiel für Schulbücher nicht zur Kasse gebeten werden dürfen; gleiches gilt natürlich auch für musikalische Bildungsangebote, die zusätzlich Geld kosten. Andererseits gestaltet sich der Instrumentalunterricht außerhalb der Schulmauern immer schwieriger: Frühestens ab 16.30 Uhr können die Kinder die Musikschule besuchen; abgesehen von den zeitlichen Engpässen sind sie mit ihrem täglichen Programm ohnehin schon oft an der Kapazitätsgrenze. Wer sich den Wochenplan eines normalen Jugendlichen mit Schule, Hausaufgaben, An- und Abfahrt sowie einem außerschulischen Hobby einmal durchrechnet, kommt leicht auf eine 50-Stundenwoche (oder mehr). Einmal wöchentlich Geigen- oder Flötenunterricht und tägliches Üben sind da nicht so leicht einzubauen. Also muss der Instrumentalunterricht zumindest teilweise in der Schule stattfinden – und, wenn es bei der Lernmittelfreiheit bleibt – von der Kommune und/oder dem Land finanziert werden.  

„Man kann den Instrumentalunterricht nicht allein mit der Methode des Klassenmusizierens abdecken“, so Dolge. Es gilt schließlich auch, besondere Begabungen zu entdecken und zu entwickeln. „Und was wird beim Klassenmusizieren aus den Pianisten?“, lautet eine weitere Frage. Die überall sprießenden Bildungskooperationsprojekte sind sicher hilfreich, allerdings laufen sie in der Regel maximal zwei Jahre. Und was dann? Das Problem setzt sich in den weiterführenden Schulen in gleicher, vielleicht noch verschärfter Form fort. Das Problem macht im Übrigen bei der Musik nicht halt, auch der Sport und die Vereinsarbeit haben unter den schulpolitischen Veränderungen zu leiden. 

Nötig, so Dolge, sind Freiräume für Kinder mit besonderen Interessen und Begabungen innerhalb der Schulstunden. Nötig ist auch eine ausreichende Finanzierung von Musik- und Instrumentalunterricht in der Schule. Nötig ist vor allem ein bildungspolitisches Konzept, in welchem die Einbindung der Musikschulen in die kommunale Bildungslandschaft eine wesentliche Rolle spielt, damit die Musikschulen auch weiterhin ihren Aufgaben nachkommen können. Die Stuttgarter Musikschule zum Beispiel setzt sich derzeit vier Arbeits-Schwerpunkte: 1. Die Betreuung des Klassenmusizierens, speziell auch an Brennpunktschulen; 2. Das Klassenmusizieren in Kleingruppen; 3. Begabtenfindung und -förderung aus dem Klassenmusizieren heraus; 4. Ausweitung des Bereichs „Dreieckskooperationen“, also die Zusammenarbeit von Schulen und Musikschulen mit weiteren Partnern wie Musikvereinen, Hochschulen etcetera.  

Nur ein durchdachtes Konzept der Bildungslandschaft wird es auch zukünftig erlauben, Kinder und Jugendliche mit Musik vertraut zu machen und ihnen den Musikunterricht zukommen zu lassen, der ihren Bedürfnissen entspricht. Und dies längst nicht nur mit dem Ziel, auch weiterhin bei „Jugend musiziert“ ganz oben zu stehen.  

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