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Gesichter glühen, die Kirche brennt

Untertitel
„Souvenir“– ein inklusives Konzert mit Tanz in Hannover
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„Die Kirche ist voll mit Menschen. Ich stehe im Eingang und fühle die Erwartungen. Neugierde in der Luft. Es geht los! Ich gehe langsam durch die Kirche, an den Leuten vorbei, an den Säulen, den Bildern, Kreuzen, der Backsteinwand. Ich sehe mich um, als hätte ich diesen Raum noch nie gesehen. Das ist die Anweisung unseres Choreografen Alexander. Ich nehme wahr, wie die Menschen im Publikum sich umsehen und die Menschen beobachten, die mit mir in die Kirche laufen. Sonst hört man nichts. Das ist der Anfang unseres Konzertes.

Die Sponsoren werden begrüßt. Das macht man so. Die Orgel spielt. Das kennt man so. ‚Ein feste Burg ist unser Gott‘. Doch: Andere Melodien erklingen. Die Morgenstimmung. Ein Remix? Register werden wild gezogen, Kadenzen – völlig unkonventionell! Und eine Emotionalität … Elektronische Musik verdrängt die Orgeltöne. Geräusche. Eine Person fährt auf die Bühne, hinter ihr eine Schlange von Menschen. Jetzt mein Einsatz! Ich suche meine Gruppe. Wir sollen uns im Kreis drehen. Linus grinst. Keke kann nicht so schnell. Lichter, Geräusche, Orgel, dann Tschaikowsky, ein Gedicht, dann wieder elektronische Musik, Bewegung, ein Cello singt, ein Klavier erzählt, Harfe, Text, Schauspiel, Tanzen. Ein tosendes Finale, dann donnernder Applaus. Ich verbeuge mich. Die Gesichter gegenüber. Die Augen glühen, die Kirche brennt. Linus flüstert mir zu: ‚Nicht zu tief, sonst kommst du nicht mehr hoch!‘ Ich gluckse.“

Dies ist die studentische Innenperspektive von zwei besonderen Konzertabenden – ungewöhnlich, kreativ und vielseitig – mit dem Titel „Souvenir“. Christiane Joost-Plate hatte die Idee, ein Konzert mit Tanz anzubieten, bei dem das Streich-sextett d-Moll „Souvenir de Florence“ von Peter I. Tschaikowsky im Mittelpunkt stand. Gespielt wurde es vom „Orchester im Treppenhaus“ unter der Leitung von Thomas Posth, choreografiert von Alexander Hauer. Veranstalter war der Verein „InkluVision“ in Kooperation mit der Musikschule Hannover und der HMTM Hannover.

Beiträge einzelner Musikschülerinnen und -schüler (Orgel, Cello, Harfe, Gesang) kommentierten das Werk und eröffneten dem Zuhörer den Zugang zur Welt des Erinnerns. Als Gegengewicht zu Tschaikowsky wurden sie durch elektronische Klangcollagen (K. Rapoport) mit dem zentralen Werk verbunden. Vollständig wurde die Aufführung durch eine eindrucksvolle choreografische Darbietung, in der über 40 unterschiedliche Tänzerinnen und Tänzer einen erzählerischen Faden durch das musikalische Gewebe flochten. Die Stimmungen wurden durch Ton- und Lichttechnik verstärkt.

Das Projekt „Souvenir“ wurde im Rahmen des 3. Hannoverschen Inklusiven Soundfestivals (HIS 3) aufgeführt. Was es bedeutet, ein Projekt unter dem Vorzeichen „Inklusion“ durchzuführen, wird durch aktuelle Diskurse hinsichtlich der Einführung des inklusiven Unterrichts an Schulen immer wieder deutlich. Was also bedeutet der Begriff? Der Heterogenität einer Gruppe wird durch ein gleichberechtigtes Miteinander aller Individuen bei Anpassung der Struktur auf die jeweiligen Bedürfnisse Rechnung getragen. Soweit die Theorie ...

Wie steht es um die Bedeutung des Begriffs im Nachklang von „Souvenir“? Ob sie eine Behinderung hatten oder nicht, war bei den Mitwirkenden nicht entscheidend. Dies kennzeichnet den Begriff der „Inklusion“: Altersgruppe, Profis oder Laien, unterschiedliche geistige und körperliche Voraussetzungen – jegliche Individualität war willkommen. Auch die Komposition selbst kann im Nachhinein durch das Zusammenwirken der musikalischen Vielfalt als „inklusiv“ bezeichnet werden. Die musikalischen Komponenten des Projekts standen gleichberechtigt nebeneinander. Interdisziplinär wurden Bewegung, Schauspiel und Tanz als traditionelle Kunstformen durch Licht- und Tontechnik ergänzt. Die Bühne als zentraler Punkt bekam durch die Bewegung der Akteure Kontakt zum Kirchenraum und kann so in gewisser Weise auch als inkludiert betrachtet werden.

Durch diese Form der Vernetzung und Verzahnung fand schließlich eine Erweiterung des Verständnisses von Inklusion statt. Es handelt sich nun nicht mehr nur um einen sozial-ethischen Begriff, sondern vielmehr auch um die Beschreibung einer Kunstform. „Souvenir“ ist inklusive Kunst!

Dania Hollemann, Jola Isberner, Christian Lange (Studierende der HMTM, Hannover)

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