Vom 2. bis 4. November 2022 veranstaltete der Landesverband der Musikschulen Hessen seine Jahrestagung in Oberorke. Wie so viele Veranstaltungen in den letzten zwei Jahren musste auch diese mehrfach ausfallen und konnte nun zum ersten Mal seit 2019 wieder stattfinden. Eingeladen waren Musikschulleiterinnen und -leiter aus dem Land Hessen, erfreulicherweise nahmen mehr als 90 Prozent der Musikschulen das Angebot wahr. Die Freude darüber, dass man sich wieder in Präsenz treffen konnte, war sicherlich Motivation zur Teilnahme.
Aber auch das Thema der Tagung lockte: „Öffentliche Musikschule: Digitale Lebenswelten – gelingende Musikpädagogik“. Ganz bewusst hatte man die Veranstaltung so konzipiert, dass ein Blick über den Tellerrand der Musikschularbeit, auch der Musikpädagogik hinaus geworfen, dann aber auch in die Praxis der Musikpädagogik und des Lernorts Musikschule hineingeleitet wurde.
Wolfgang Schneider, Professor an der Universität Hildesheim, leitete die Tagung mit seinem Vortrag über „Die öffentliche Musikschule in der musikalischen Kulturlandschaft“ ein. Hier ging es darum, die Breite der Musikausübung wahrzunehmen, in der die öffentliche Musikschule eine wesentliche Rolle spielt, aber durchaus nicht der einzige „player“ ist. Natürlich gibt es unterschiedliche, teils niederschwellige Musizierpraxen. „Wenn man den kulturellen Bildungsauftrag ernst nimmt, dann ist die Musikschule ein Motor für etwas, das weit über sie hinausreicht“, erklärt Hans-Joachim Rieß, Geschäftsführer des Landesverbands, der die Konzeption der Tagung weitgehend verantwortete: „Das Ganze gepusht durch die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation im weitesten Sinne.“
Musiklandschaft braucht Kulturpolitik
Schneider bezog sich in seinem Vortrag unter anderem auf die Forderungen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestags aus dem Jahr 2007. Hier war der öffentliche Auftrag zur Gewährleistung der kulturellen Infrastruktur formuliert worden. Im Abschlussbericht der Kommission wurden unter anderem die Stärkung schulischer Fächer der kulturellen Bildung wie Kunst, Musik, Tanz und Darstellendes Spiel, die Sicherung von Musikschulen als Orte der außerschulischen kulturellen Bildung durch Landesgesetze sowie die Stärkung der musikalischen Bildung in kommunalen Kooperationen mit dem breiten Netz an Vereinen der Laienmusik aufgelistet. Schneider ging dann konkret auf die hessische Musiklandschaft ein, nannte auch den ländlichen Raum als wichtigen Ort der musikalischen Bildung und bilanzierte schließlich: „Musiklandschaft braucht Kulturpolitik!“.
Humanitärer Imperativ
Ulrich Hemel, Direktor des Weltethos Instituts, sprach in seinem – auch per Zoom zu verfolgenden – Beitrag über „Humanität als Maßstab in der digitalen Welt der Musikpädagogik“. Hier ging es darum, so Rieß, mit dem Gefühl, von der digitalen Lebenswelt überrollt zu werden, umzugehen und es zu überwinden. Notmaßnahmen, die während der Pandemie ergriffen worden waren, um irgendeine Form des Unterrichts aufrecht zu erhalten, wurden so schnell genutzt, dass die Frage: „Was macht das mit uns?“ oft nicht mehr im Blick der Handelnden stand. Es gehe nicht darum, digitale Unterrichtsformate zu verteufeln, erklärt Rieß, aber es gelte einen Schritt zurück zu tun und zu fragen: „Was heißt Digitalität vor dem Hintergrund der Humanität?“.
Die digitale Welt sei ein Epochenbruch, lautete die einleitende Feststellung Hemels. Und: „Die digitale Welt ist nicht weniger real, aber anders real als die analoge Welt.“ Ziel sei die Selbststeuerung auch in der digitalen Welt. Wir haben neben unserer bekannten Identität auch eine digitale Identität; eine hybride, digital-analoge Identität wird zur Regel. Auch die Musik und die Musikpädagogik können das „Identitätslernen“ befördern, die Entfaltung des inneren Selbst, dieses wiederum treibt die Kompetenzentwicklung an. Hemel spricht vom „offenen Identitätslernen“: das Recht auf die eigene Perspektive und die Pflicht auf Anerkennung anderer. Es gilt sich die Frage zu stellen: Wer bin ich in der digitalen Welt? Und wie handle ich in der digitalen Welt? Dabei geht es durchaus auch um ein digitales Ethos. Hier kommt die Grundregel der Humanität, oder der „humanitäre Imperativ“ ins Spiel, wie Hemel sagt und schlägt dabei wieder die Brücke zu den Möglichkeiten, die die Musikpädagogik in diesem Sinne bereithält.
Die digitale Praxis
Franz-Michael Deimling und Gerhard Wolters schließlich führten die Teilnehmenden in die Musikschulpraxis, sprachen über mögliche Tools und deren Anwendung sowie über die Frage, welche Unterrichtsinhalte auf der digitalen Ebene sogar besser zu vermitteln sind als im klassischen Präsenzunterricht. Eine fishbowl-Diskussion ermöglichte am Ende der ersten beiden Veranstaltungstage eine Reflexion der Teilnehmenden auf das Gehörte und auf die sich daraus ergebenden Diskussionen und Fragen. Am dritten Tag schließlich rundete Wolfgang Lessing, Professor an der Hochschule für Musik Freiburg, den Themenkomplex durch einen Vortrag mit dem Titel „(Digitale) musikpädagogische Lernwelten: Was uns motiviert“ ab. Hierbei zeigte er aufschlussreiche Beispiele zur didaktischen Erweiterung einer gelingenden Musikerziehung mit digitalen Methoden auf.
Auf jeden Fall soll auch die nächste Tagung weitere Möglichkeiten der hybriden Teilnahme bieten, so Hans-Joachim Rieß. Und: „Wichtig ist das Mutmachen, sich nicht von dem, was an Digitalität über uns rollt, erdrücken zu lassen, sondern zu wissen, wo man in der Musikpädagogik, verstanden als kulturelle Bildung, steht. Wenn man da das entsprechende Rüstzeug hat, dann kann man in einer konstruktiven Weise mit den Möglichkeiten und Risiken der Digitalität umgehen. Wenn wir Musikschule als kulturelle Bildungseinrichtung verstehen, dann muss sie souverän agieren und das auch überzeugend vorleben.