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Ein großer Kinderchor mit grünen und roten Zwergenmützen und orangenen T-Shirts steht auf einer Bühne zum singen bereit.
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„Mehr Musik!“

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Spannende Vorträge, lebendige Diskussionen und Fortbildungen beim Bundeskongress in Kassel
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„Mehr Musik!“ lautete das Motto des diesjährigen großen Bundeskongresses des Verbands deutscher Musikschulen (VdM), der vom 28. bis 30. April 2023 in Kassel stattfand. Die documenta-Stadt sollte bereits zwei Jahre zuvor Gastgeber des Kongresses sein. Coronabedingt wurde 2021 daraus lediglich eine Hauptarbeitstagung. Jetzt aber öffnete das Kongress Palais seine Türen für etwa 1.500 Kongressbesucherinnen und -besucher. Das Tagungsmotto manifestierte sich in den zahlreichen Veranstaltungen, Workshops, Vorträgen, Diskussionen und Vorführungen, die die Teilnehmenden an diesen drei Tagen erleben konnten.

Eröffnungsvortrag

In seinem Vortrag zur Kongress-Eröffnung ging Wolfgang Lessing, Professor für Musikpädagogik an der Musikhochschule Freiburg, auf den Begriff der „Artistic Citizenship“ ein. Er nehme wahr, dass die derzeitige Generation der Studierenden sich ganz anders, als es noch vor wenigen Jahren der Fall gewesen sei, immer stärker mit der Frage nach der Relevanz ihres Tuns auseinandersetze, nach dem, was ihr Tun für die Gesellschaft leisten könne.

Lessing führt ein Begriffspaar von Aristoteles ein: einerseits „Poiesis“ als „Herstellen, um ein Ziel zu erreichen“; auf der anderen Seite „Praxis“, ein „Handeln“, im Moment zu realisieren, ein Handeln, das immer auf den Mitmenschen, auf Gemeinschaft bezogen sein muss. In der Musik könnte dies zum Beispiel eine gemeinsame Improvisation oder ein gemeinsames kammermusikalisches Agieren sein, etwas, was nicht nur für einen selbst, sondern immer auch für die Gruppe gut ist. Wer in der Musikpädagogik nur ans „Herstellen“ denkt, an das zielgerichtete Erlernen von Fertig- und Fähigkeiten, wird möglicherweise zu einer großen Perfektion gelangen, aber eben nie in den Handlungsmodus kommen. Umgekehrt kann es gelingen, mit Menschen, die wenige musikalische Voraussetzungen mitbringen, schnell in ein musikalisches Handeln zu gelangen. Dies, so Lessing könne im Musikschulbereich zum Beispiel in der EMP passieren, aber auch in der Ensemblearbeit oder in der „community music“.

Zum Ende seines Vortrags wendet Lessing den Begriff der „Artistic Citizenship“ auch und gerade auf den Bereich der Begabtenförderung an. Er spricht vom „Flaschenhals“ der Eignungsprüfung an Hochschulen, der durch die Studienvorbereitende Ausbildung (SVA) bereits 13- oder 14-Jährige betreffe. Besonders Begabte und später die Studierenden bewegten sich in einer Blase von Gleichgesinnten. Hier könnte man ansetzen und das Konzept der SVA erweitern, zum Beispiel auf partizipative Konzertformate, auf Improvisationsformate, in denen es um die Entwicklung „musikalisch-sozialer Intelligenz“ gehe, auf die Gewinnung von Multiplikator*innen innerhalb der SVA, die Gleichaltrigen ihr Instrument und dessen Möglichkeiten vermitteln, auf die Gestaltung von Konzerten für demenziell erkrankte Menschen und so weiter.

„Wäre es denkbar“, so fragt Lessing, „ein auf diese Weise erweitertes Verständnis von musikalischer Begabung nicht als Zusatzaufgabe, sondern als Basis einer Musikschularbeit zu begreifen, aus der ‚artistic citizens‘ hervorgehen?“ Dies zu erweitern auf alle Musikschüler*innen? Hier sieht er auch eine mögliche Antwort auf das Problem der Nachwuchsgewinnung in den musikpädagogischen Berufen. Jungen Musiker*innen sei es ein großes Bedürfnis, das, was sie musikalisch tun, nicht nur als etwas zu verstehen, das für sie selbst relevant ist, sondern auch für die Gesellschaft. Dies könne zur gelebten Praxis an Musikschulen werden.

Fachkräftemangel

Das zentrale Problem der Nachwuchsgewinnung war nicht nur Thema der Bundesversammlung sowie der Kasseler Erklärung, sondern auch Diskussionsstoff für unterschiedlich besetzte Gesprächsrunden.
In der Plenumsdiskussion zum Thema berichtete Theresa Pickavé, Referentin für Talentförderung und Personalentwicklung beim Landesverband NRW, über die Musikschul-Offensive NRW, die damit verbundene Aufstockung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse an Musikschulen und Freiräume für Themen wie Digitalisierung, Kooperationen, Diversität oder Talentförderung. Susanne Rode-Breymann, Vorsitzende der Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen, plädierte für Möglichkeiten, auch in späteren Lebensphasen in die Pädagogik einzusteigen. Nicht alle Studierenden hätten mit 23 Jahren schon ihren Beruf fürs Leben gefunden; nicht alle wollten zeitlebens den gleichen Beruf ausüben. Hierfür müssten dann passende Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten werden.

Natürlich war auch die angemessene Vergütung von Musikschullehrkräften Thema der Diskussion. Jörg Freese, Beigeordneter des Deutschen Landkreistags, wurde hier deutlich: Man werde mit diesem Thema keine offenen Türen einrennen, aber: „Wichtig ist, dass wir die Frage der Eingruppierung gemeinsam mit der VKA besprechen. Dass da etwas getan werden muss, liegt auf der Hand.“ Wenn man mit einem fertigen und guten Konzept komme, sei er durchaus optimis­tisch, dass sich etwas ändern könne. Ulrich Mädge, Präsident der Vereinigung Kommunaler Arbeitgeberverbände a.D., plädierte dafür, die wichtige Gruppe der Eltern nicht aus dem Blick zu verlieren. Diese seien, insbesondere vor Wahlen, eine interessante Gruppe für die Politik. Dass verstärkt bereits unter den Schüler*innen der Musikschulen für den Beruf des/der Musikpädagog*in geworben werden müsse, war allen Diskutanten klar. Insbesondere die SVA-Ausbildung sollte hier erweitert werden. Die entsprechende Richtlinie wurde bereits verabschiedet, so Friedrich-Koh Dolge. Nun muss sie noch in den Musikschulen verankert werden. Einig war man sich auch, dass die Musikschularbeit durchaus eine unverzichtbare und gesellschaftsrelevante sei, dass dies aber – auch im Verbund mit anderen Akteuren im Bereich der musikalischen Bildung – deutlicher und lauter gesagt werden müsse.

Im Themenforum am letzten Kongresstag konnten schließlich auch die Teilnehmenden ihre Perspektiven einbringen. Die angemessene Bezahlung und tarifliche Eingruppierung spielt eine wichtige Rolle, ebenso die Tatsache, dass es nach wie vor zu viele Honorarbeschäftigungen gibt. Die Schwarmintelligenz des Auditoriums brachte neben dieser Erkenntnis aber auch eine Fülle von Erfahrungen und Ideen. Der Wunsch nach einer Erweiterung der SVA-Richtlinien wurde auch hier geäußert, die Idee eines Mentor*innenprogramms an Musikschulen, Hospitationen für Berufsanfänger*innen oder EMP als Ergänzungsfach – nicht nur in den Hochschulen, sondern auch in den Musikschulen. Die Diskutanten auf dem Podium, Friedrich-Koh Dolge, Ulrich Rademacher, Wolfgang Lessing sowie Michael Dartsch, Professor für Musikpädagogik an der Musikhochschule Saar, kamen hier in einen fruchtbaren Austausch über Musikschule, Hochschule und die noch engere Zusammenarbeit der Institutionen. Damit wurden Ergebnisse des VdM-Herbstsymposiums weitergeführt – und dem Verband gleichzeitig wertvolle neue Anregungen zum Weiterdenken und -handeln gegeben.

Nachhaltigkeit

„Nachhaltige Musikschulen gestalten die Zukunft“ lautete der Vortrag von Stefan Theßenvitz, der seit vielen Jahren Musikschulen und den Verband berät und begleitet. Er ging auf die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung ein, die von den Vereinten Nationen entwickelt wurden. Einige dieser Ziele könnten eine besondere Bedeutung für die Musikschulen haben, wobei jede Musikschule entscheiden sollte, welches der 17 Ziele sich als Leitziel für sie eignet. Im Folgenden ging Theßenvitz auf Kennzahlen für nachhaltiges Wirtschaften der Global Reporting Initiative (GRI) ein. Diese Kennzahlen sind wiederum auf die 17 Nachhaltigkeitsziele anwendbar und umfassen sowohl ökonomische und ökologische Aspekte als auch zum Beispiel Arbeitsbedingungen, Aus- und Weiterbildung oder Diversität und Chancengleichheit.
Eine dritte Quelle, die wiederum mit den Nachhaltigkeitszielen und den Kennzahlen in Verbindung gebracht werden kann, ist der Leitfaden zum Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK). Der Nachhaltigkeitsbericht nach DNK-Kriterien erfüllt die Vorgaben der Europäischen Union zur Berichtspflicht. Seinen Vortrag beendete Theßenvitz, indem er Vorteile und Chancen einer „nachhaltigen Musikschule“ aufführte.

Workshops und Foren

Eine große Zahl von Workshops und Arbeitsgruppen bot sich den Teilnehmenden im Rahmen der Kongresstage. Das ging von praktischen pädagogischen Methoden über Berichte und Diskussionen zu Unterrichtsmodellen und Projekten bis hin zu neuen Entwicklungen im Verband. Digitalität spielte hier eine wichtige Rolle, aber auch Themen wie Gesundheit, Diversität und Inklusion. Das Stichwort „Community Music“ tauchte ebenso wie die im Vortrag von Wolfgang Lessing thematisierte „Artistic Citizenship“ mehrfach auf, so zum Beispiel im Vortrag von Renate Reitinger, Daniel Valeske und Tabea Bine Gebhardt aus Nürnberg, die über ein Projekt im soziokulturellen Ambiente berichteten sowie verschiedene Ansätze und Impulse für eine partizipative und diversitätssensible Elementare Musikpädagogik einbrachten. Wolfgang Rüdiger machte die „Community Music“ in seinem Workshop dann direkt erfahrbar. Und Matthias Fromageot, Musikschulleiter in Leverkusen sowie systemischer Berater und Supervisor, führte anhand eines „echten“ Falles mit den Teilnehmenden in das Konzept der Kollegialen Beratung ein: ein gutes Modell, um mit Gleich- oder Ähnlichgesinnten individuelle Herausforderungen ganz konkret zu besprechen und Lösungen zu finden.

Musikalische Begleitung

Natürlich gab es auch viel Musik in den Tagen von Kassel. Bereits am Vorabend der Kongresseröffnung traten Studierende der Musikakademie der Stadt Kassel „Louis Spohr“ in der Klassik-Lounge auf. Am Freitag wurden die Kongress-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer , durch Ensembles der Kasseler Musikschule auf dem Vorplatz des Kongress Palais begrüßt. Gleichzeitig sorgte im Kongress Palais bereits das Jazz/Pop-Ensemble der Musikakademie für gute Unterhaltung. Auch die Kongresseröffnung wurde von musikalischen Darbietungen umrahmt. Den Auftakt machten dabei etwa 200 kleine singende Zwerge, die im Rahmen des großen Kinderchorprojekts „Kassel SINGT!“ zauberhafte Märchen der Gebrüder Grimm in Liedern erzählten. Zum Schluss traten die „Musikschul-Allstars“ auf und spielten und sangen den Welthit „Music“ von John Miles. Ein Höhepunkt war das Konzert der Deutschen Streicherphilharmonie unter der bewährten Leitung ihres Dirigenten Wolfgang Hentrich. 

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