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Unsicherheit als Normalzustand

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Über interkulturelle Elternarbeit in der Musikpädagogik
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Musik, Spiel und Tanz können Menschen aus unterschiedlichen Kulturen verbinden. Im Kontakt mit Kindern aus Migrationsfamilien begegnen uns gleichzeitig Verhaltensmuster, die wir als „fremd“ empfinden. Unsere Bemühungen, die frühkindliche Bildung und Erziehung der betreffenden Kinder positiv zu beeinflussen, ist jedoch nur möglich, wenn wir die Eltern mit Migrationshintergrund in ihren jeweiligen Erwartungen als Bildungspartner gewinnen – eine in der Praxis spannende Herausforderung.

Elternarbeit im klassischen Sinne ist kein neues Feld der (musik-) pädagogischen Praxis. Wer im erzieherischen Kontext die Förderung von Kindern und Jugendlichen als Ziel vor Augen hat, weiß, welche Bedeutung der Beziehung zwischen Eltern, Kind und ErzieherIn/LehrerIn zukommt. Wir ErzieherInnen/LehrerInnen kennen verschiedene Typologien von Eltern: beginnend bei den teilnahmslosen über die ehrgeizigen bis hin zu den systematischen Eltern. Unsere Erfahrung zeigt, dass die Entwicklung der Kinder in musikalischen Fel-dern, teilweise aufgrund der Freiwilligkeit der Angebote, sehr stark von den Erwartungen und Möglichkeiten der Eltern im häuslichen Kontext abhängt. Dabei wird die angestrebte Bildungspartnerschaft umso interessanter, wenn wir (an)erkennen, dass Menschen migrationsbedingt unterschiedliche, teilweise unserem Verständnis widerstrebende, Erziehungs- und Bildungsziele verfolgen.

In der Praxis begegnen wir Herrn Meyzini, der die kleine Hyrisha sehr unregelmäßig zum Musikunterricht bringt. Wir kennen Frau Tekin, die trotz der sich im Flötenunterricht zeigenden Begabung ihrer Tochter Lina darauf besteht, dass Lina doch lieber ein Zupfinstrument lernen soll. Mit Frau Li haben wir unendliche „Zwischen-Tür-und-Angel“-Gespräche hinsichtlich ihres Sohnes Tai Ning, weil sie verärgert mitteilt, dass ihr zu wenig Informationen zukommen. Aber: Machen wir diese Erfahrungen nur, weil unsere Bildungspartner aus anderen Ländern migriert sind?

Warum eigentlich interkulturelle Elternarbeit?

Gerade die Frage nach der Bedeutung des Migrationshintergrunds ist wichtig, wenn wir bedenken, dass wir mit manchen einheimischen Eltern doch ähnliche Erfahrungen machen. Was bewegt uns nun in den oben geschilderten Fällen, die Elternarbeit interkulturell, das heißt zwischen den Kulturen, ausrichten zu wollen beziehungsweise zu müssen?

Die Tatsache, dass Hyrisha, Lina und Tai Ning einen Migrationshintergrund haben, ist für unsere Alltagspsychologie leitend. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie selbst über eine eigene Zuwanderungsgeschichte verfügen oder nicht. Auch Kinder, die bereits in Deutschland geboren sind, haben, so ist es gegenwärtig statistisch definiert, einen Migrationshintergrund.

Für unsere pädagogische Arbeit bedeutet dieses Merkmal der Migration, dass wir eine Zuschreibung vornehmen: andere Sprache, andere Werte, andere Religion. Die Assoziationen sind vielfältig und eben anders. Was anders ist, ist zunächst unbekannt, und Unbekanntes macht bekanntlich unsicher. Unsere Unsicherheit verstärken wir zudem dadurch, dass wir den Migrationsaspekt mit Kultur und diese wiederum mit Nation/Ethnie gleichsetzen.

Die Vorstellung, dass beispielsweise Linas Mutter aufgrund ihrer Migration aus der Türkei „die“ türkische Kultur mit ihren jeweiligen Erziehungs- und Bildungszielen wiedergibt, ist gänzlich falsch. Allzu oft lassen wir außer Acht, dass Kultur (ungleich Nation/Ethnie!) und Migration unterschiedliche Faktoren im Erziehungsprozess sind. Die Erfahrung zeigt, dass die individuellen Migrationsgeschichten teilweise viel mehr Aufschluss über jeweilige Erziehungs- und Bildungsziele geben als die „allgemeinen“ kulturellen Wertorientierungen wie beispielsweise in unseren Fällen der albanischen, türkischen oder chinesischen Mitbürger. Migrationsbiografien und allgemeine kulturelle Wert- und Normvorstellungen müssen differenziert und in ihren Wechselwirkungen betrachtet werden. Aufgrund der hochindividuellen Einzelgeschichten setzt diese eine intensive Beziehungsarbeit voraus.

Damit kommen wir auch zu einer grundsätzlichen Definition, die sich in der Praxis als sinnvoll erwiesen hat: Unter „interkultureller Elternarbeit“ ist die Bildungskooperation mit Eltern mit Migrationshintergrund zu verstehen, die deren Erziehungsverhalten vor dem Hintergrund der individuellen Migrationsbiografien sowie der kulturellen Einflüsse auf einer zwischenmenschlichen Ebene reflektiert und berücksichtigt.

Wer sind die Migrationseltern?

Erfreulicherweise steigt gegenwärtig die Anzahl der Studien, die nachweisen, wie wichtig Bildung und gerade die kulturelle Bildung der Kinder und Jugendlichen für Familien mit Migrationshintergrund ist. Und so kategorisch und stereotyp wir auch denken mögen: Die Migrationseltern im Sinne einer homogenen Gruppe gibt es nicht. Eine ganz aktuelle Studie, die sich grundlegend mit der kulturellen Bildung in und von Migrationsfamilien beschäftigt, zeigt auf, dass die bekannte „Sinus-Milieu-Studie“ auch bei Migrationsfamilien zutrifft.

In Milieustudien werden die Lebenswelten der Menschen, das heißt ihre grundlegenden Wertorientierungen, Alltagseinstellungen zur Arbeit, zur Freizeit, zur Familie und zu Geld/Konsum untersucht. Dabei steht nicht die nationale/ethnische Zugehörigkeit, sondern der Lebensstil im Vordergrund, also die Frage: „Wie leben, denken, fühlen und bewerten die Menschen?“ Wenn man berücksichtigt, welche Milieus und Bildungsziele Eltern mit Musik und Kultur verbinden und diese Kenntnis mit den individuellen Migrationsbiografien sowie den kulturellen Einflüssen reflektiert, ist es möglicherweise leichter zu verstehen, dass Herr Meyzini, der unter Umständen nie in Berührung mit Bildungsinstitutionen gekommen ist und materielle Sicherheit im „traditionellen Arbeitermilieu“ verfolgt, der musikalischen Bildung wenig Stellenwert zuweist. Frau Tekin besteht in ihrem streng konservativ „religiös-verwurzelten Milieu“ und trotz gewisser Anpassungen im Alltag darauf, dass zumindest ihre Tochter Lina religiöse Elemente, wofür auch die Baglama stehen kann, nicht verlernt. Und  Frau Li, im „adaptiv-bürgerlichen Milieu“ hochengagiert, weist sich die Begleitung des Bildungsverlaufs ihres Sohnes als wichtigste Elternaufgabe zu.

Eine interkulturelle Haltung

Vor dem Hintergrund dieser Informationen wird klar, dass wir nicht immer vorab alles über die anderen wissen können. Interkulturelle Elternarbeit bedeutet damit ebenfalls, dass Unsicherheiten als Normalzustand definiert, jedoch durch die eigene Sensibilisierung gegenüber dieser Mehrperspektivität auch überwunden werden können. Es handelt sich um eine neue Begegnung mit den Menschen, die uns nur anfänglich fremd sind. Offenheit und Wertschätzung sind hierfür oft gute Wegbereiter.

Worin könnten sich Offenheit und Wertschätzung in unseren Beispielen zeigen? Fragen Sie doch einmal freundlich Herrn Meyzini, warum Hyrisha unregelmäßig am Unterricht teilnimmt und konkretisieren Sie anschließend Ihren „Gewinn“ aus dieser „Lernphase“. Erklären Sie doch Frau Tekin, wie individuell erfolgreich Lina mit der Flöte ist, und fragen Sie sie, ob es für sie eine Alternative gibt, ihrem eigenen Bedürfnis nach kollektiven Werten nachzugehen, ohne Lina die Freude an der Flöte zu nehmen. Und drücken Sie doch aus Neugier einmal Frau Li mit Mimik und Gestik aus, wie gewinnbringend Sie ihren verstärkten Einsatz für den Unterricht einschätzen. Fragen Sie sie, ob sie nicht die eine oder andere Aufgabe bei der nächsten Veranstaltung übernehmen kann.

Interkulturelle Elternarbeit in der Praxis

Die interkulturelle Elternarbeit fordert, wie oben geschildert, durchaus eine persönliche Komponente. Darüber hinaus gibt es sehr gute und in der Praxis bewährte Programme, die die Arbeit insbesondere in den Kitas unterstützen können. Dazu gehört das Sprachförderprogramm Hocus und Lotus, das über die bilinguale Erziehung der Kinder hinaus eine äußerst effektive Zusammenarbeit mit den Eltern unterstützt.

Gemeinsam wird gelesen, gesungen, getanzt und gebastelt, wobei auch Eltern zu „Hausaufgaben“ motiviert werden. Dies fördert nicht nur die Kinder, sondern schafft auch eine Einbindung der Eltern in etwas Gemeinsames, was wiederum den gegenseitigen Austausch, die Beziehungsarbeit unterstützt.
Mit Hocus und Lotus lässt sich beispielsweise entdecken, was Eltern mit Migrationshintergrund über Dinosaurier wissen, denken und tänzerisch wiedergeben können: Frau Tekin tanzt rhythmisch im Takt, Herr Meyzini singt lieber dazu, während Frau Li die Sauriereier zum Ausschneiden exakt abzeichnet.
Investieren Sie in eine gemeinsame Vertrauenskultur und entdecken Sie gemeinsam neue Horizonte. Es lohnt sich!

Nuray Ates
Die Autorin arbeitet unter anderem beim Verein für multikulturelle Kinder- und Jugendhilfe – Migrationsarbeit IFAK e.V. und war Referentin zum Thema „Interkulturelle Eltern­arbeit“ beim Musikschulkongress 2015 in Münster. Der Artikel ist eine gekürzte Fassung eines Beitrags in „Musik, Spiel und Tanz – mit Kindern von 0–6“, Heft 4_2015, Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz. Mit freundlicher Genehmigung.

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