Wenn 2026 der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter bundesweit in Kraft tritt, dann bedeutet das insbesondere für Baden-Württemberg, das traditionell stark von einer vielfältigen außerschulischen Bildungslandschaft und einem lebendigen Vereinswesen geprägt ist, einen Paradigmenwechsel. Welche Chancen und Herausforderungen auf die Musikschulen zukommen, hat der Landesverband der Musikschulen Baden-Württembergs Anfang September auf seiner Jahrestagung in Ravensburg diskutiert.
Mit dem Ganztagsförderungsgesetz, das bereits im Jahr 2021 von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, soll eine Betreuungslücke geschlossen werden, die nach der Kita für viele Familien entsteht. Der Rechtsanspruch sieht einen Betreuungsumfang von acht Stunden an fünf Werktagen bei maximal vier Wochen Schließzeit im Jahr vor. Dass die Umsetzung für Land und Kommunen nicht nur finanziell, sondern auch organisatorisch eine große Herausforderung darstellt, machten Petra Conrad, Leiterin des Referats Ganztagsschulen im Kultusministerium, und Städtetagsdezernent Norbert Brugger als Referenten deutlich. Während die Betreuungsquote bei Grundschulkindern im Schuljahr 2021/22 in Baden-Württemberg im Durchschnitt bei 52,9 Prozent lag, gehen Schätzungen aktuell von einer Steigerung durch den Rechtsanspruch um bis zu 20 Prozent aus. Die Betreuungsangebote müssen demnach stark ausgebaut werden. Land wie Kommunen setzen dabei insbesondere auch auf außerschulische Bildungspartner.
Für Friedrich-Koh Dolge, Vorsitzender des Landesverbandes der Musikschulen Baden-Württembergs und Bundesvorsitzender des VdM, sind die öffentlichen Musikschulen ein idealer Partner im Ganztagsbereich: „Mit 2.600 Kooperationen bei 77.000 Schülerbelegungen und allein 1.300 Kooperationen in allgemeinbildenden Schulen verfügen die Musikschulen im ganzen Land über große Erfahrung.“
Zudem liegt für das Bildungsprogramm Singen – Bewegen – Sprechen, das Musikschulen mit großem Erfolg in Kitas anbieten, bereits eine Konzeption zur Weiterführung in der Grundschule vor. Mit der Grundmusikalisierung in den Klassenstufen 1 und 2 sowie dem anschließenden Übergang in den Instrumental- und Vokalunterricht in Kleingruppen wäre damit bereits ein durchgehendes und schlüssiges Curriculum für musikalische Bildungsangebote in der Ganztagsbetreuung vorgezeichnet. „Um das lebendige musikalische Vereinswesen nicht zu gefährden, müssen wir weiterhin Kinder so früh als möglich, am besten ab der 2. Klasse, an die Instrumente und das Singen heranführen können“, sieht Dolge die Musikschulen hier auch im Schulterschluss mit der Amateurmusik.
Gleichwohl wurde auf der Jahrestagung auch deutlich, dass noch viele offene Fragen zu klären sind, damit die Musikschulen auch nach 2026/27 ihren öffentlichen Bildungsauftrag weiter erfüllen können. Die bis dato ungeklärte Finanzierung bewegt die Musikschulleitungen genauso wie Fragen nach den organisatorischen Strukturen für die Betreuungsangebote vor Ort. Vom Ministerium wie den kommunalen Landesverbänden kommt deshalb das klare Signal, dass der Landesverband mit am Tisch sitzt, wenn die Rahmenbedingungen für die weitere Ausgestaltung der Ganztagsschule diskutiert werden.
Friedrich-Koh Dolge macht deutlich, dass die Förderung der Kinder im Mittelpunkt stehen muss: „Wo Ganztagsförderungsgesetz drauf steht, muss eine hervorragende Qualität der Bildungs- und Betreuungsangebote gewährleistet sein. Mit einem schlüssigen Gesamtkonzept, unseren musikpädagogischen Fachkräften und der Verlässlichkeit unserer Musikschulen sind wir gut gerüstet für die Aufgaben im Ganztag. Jetzt bedarf es aber auch der Anstrengung des Gesetzgebers, die Finanzierung hierfür sicherzustellen.“
Dazu gehört auch, die Fachkräftegewinnung deutlich zu verstärken. Vor allem in der Elementaren Musikpädagogik als dem Fach, das – im wahrsten Sinne des Wortes – elementar wichtig für die musikalische Früherziehung, also das Heranführen der Kleinsten an die Musik, und für die Kooperationen in Kitas und allgemeinbildenden Schulen ist, ist der Fachkräftemangel allerorten zu spüren. „Es ist wichtig, dass mehr junge Menschen sich für den wunderbaren Beruf des Musikpädagogen entscheiden, um die vielfältigen Aufgaben in der Zukunft angehen zu können“, so Dolge. Der Landesverband arbeitet daher mit Nachdruck an der Stärkung und dem Ausbau der studienvorbereitenden Ausbildung seiner Mitgliedsschulen, um mehr Jugendliche für den Beruf zu begeistern. Es bedürfe aber auch einer Verbesserung der gesellschaftlichen Wertschätzung des Berufsbildes, so Dolge. Nach wie vor gebe es zu viele Honorarbeschäftigungsverhältnisse an den Musikschulen. „Unser Ziel ist es, diese mittelfris-tig komplett in Festanstellungen umzuwandeln. Die Erhöhung der Landesförderung für die Musikschulen wäre in diesem Sinne auch ein Signal, dass die Schaffung von guten Anstellungsverhältnissen für Musikpädagogen ein gemeinsames Ziel ist.“
Dass nicht die gesamte musikalische Bildungslandschaft in den Betreuungs-angeboten der Ganztagsschule aufgehen kann und soll, darüber sind sich die rund 120 Teilnehmer in Ravensburg einig. Sie fordern, dass es auch im Rahmen des Ausbaus der Ganztagsschule den Kindern weiterhin möglich sein müsse, Musikschulen als einen „dritten Bildungsort“ aufzusuchen und dort ihren individuellen Musikschulunterricht wahrzunehmen. „Der besondere Fokus auf die individuelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler im Musikschulunterricht ist ein besonderes Merkmal der Musikschule im Vergleich der verschiedenen Bildungsinstitutionen. Dies gilt es unbedingt zu erhalten“, ist Friedrich-Koh Dolge überzeugt. „Das Musizieren braucht Zeiten und Räume.“