Was die Betroffenen schon immer geahnt haben, ist jetzt auch wissenschaftlich erwiesen: Wer ständig lauter Musik ausgesetzt ist, läuft Gefahr, schwerhörig zu werden oder an Tinnitus zu erkranken.
Eine Studie norddeutscher Musikwissenschaftler und Epidemiologen hat ergeben, dass Profimusiker fast viermal häufiger an lärmbedingten Hörschäden leiden als die Allgemeinbevölkerung. Erarbeitet wurde die Studie von Wissenschaftlern des Bremer Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) sowie der Universitäten Oldenburg und Bremen. Erschienen ist sie im Online-Auftritt der Zeitschrift „Occupational & Environmental Medicine“.
Für die Untersuchung stellten drei Krankenkassen ausgewählte Daten von sieben Millionen Versicherten zur Verfügung. Davon konnten zwar letztlich nur 3,2 Millionen für die Auswertung verwendet werden, aber auch das sei noch immer „ein gigantischer Datensatz“, wie der an der Studie beteiligte Oldenburger Musikwissenschaftler Gunter Kreutz sagt. Von den gut 3 Millionen Versicherten im Alter von 19 bis 66 Jahren konnten genau 2.227 als Profimusiker identifiziert werden – wobei offen blieb, wer Klassik- und wer Popmusiker war. Innerhalb von vier Jahren ließen sich 238 von ihnen wegen Hörschäden behandeln.
Ein Teil der Leiden mag auf normale Altersschwerhörigkeit oder auf einen Wohnsitz etwa an lauten Kreuzungen zurückzuführen sein; aber die Wissenschaftler rechneten diese Störfaktoren aus den Daten heraus und kamen so zu dem Schluss, dass Profimusiker 3,6-mal häufiger an lärmbedingten Hörschädigungen leiden als die Allgemeinbevölkerung. Außerdem tragen sie ein um 57 Prozent erhöhtes Risiko, an ständigen Ohrgeräuschen (Tinnitus) zu erkranken. Die Hörschäden könnten nicht nur die Lebensqualität stark beeinträchtigen, sondern sogar zu Berufsunfähigkeit führen, warnen die Forscher. Was tun? Zur Vorbeugung empfehlen sie gehörschützende Maßnahmen wie die sogenannten In-Ear-Geräte. Mit dieser Art Innenohr-Kopfhörer klingt die Musik leiser, aber nicht so dumpf wie mit Ohrstöpseln. Außerdem könnten laute Orchesterinstrumente wie Pauken oder Trompeten durch Plexiglas-Schallwände von den anderen abgetrennt werden, schlagen die Wissenschaftler vor.
Wie nötig das ist, zeigt ein Beispiel von Professor Kreutz: „Wenn ein Horn fortissimo spielt, kann ein Schalldruck von 140 Dezibel entstehen.“ Zum Vergleich: Lärmschutzvorschriften für Arbeitnehmer sehen vor, dass ab 85 Dezibel – präziser ausgedrückt: 85 dB (A) – ein Gehörschutz zu tragen ist. Das Ohr, sagt Kreutz im Gespräch mit „Kunst und Kultur“, sei evolutionär nun mal nicht an riesige Orchesterapparate und Verstärkeranlagen angepasst. Und das Perfide an wiederkehrender Lärmbelas-tung sei, dass sie zwar schädlich sei, aber nicht unbedingt wehtue, anders als ein plötzliches Knalltrauma.
Schallschutzmaßnahmen sind aus Sicht des Oldenburger Musikwissenschaftlers allerdings nur eine Notlösung: „Besser wäre natürlich, leiser zu dirigieren.“ Er fände es auch sinnvoll, große Orchester zu verkleinern, zum Beispiel auf einen Umfang wie zu Beethovens Zeiten. Und für die Popmusik empfiehlt Kreutz, Verstärker nicht ständig so laut aufzudrehen.
Eigentlich sei ein richtiger Kulturwandel nötig. „Wir müssen das ästhetische Ideal dauerhaft lauter Musik hinterfragen“, findet Kreutz. „Die Lautstärke macht doch nicht die Musik besser.“ Die norddeutschen Forscher untersuchten auch einen weiteren Aspekt: Nach gängigen Studien kann Musik bei der Therapie von Menschen helfen, die durch Industrielärm Hörschäden erlitten haben. Bei Profimusikern scheint das nicht zu klappen. BIPS-Professor Wolfgang Ahrens fasst diesen Teil der Studie in einer Pressemitteilung so zusammen: „Unsere Daten lassen vermuten, dass die positiven Effekte, die bei dieser Therapieform auftreten, bei professionellen Musikern – wenn sie unter einem lärminduzierten Hörschaden leiden – nicht stattfinden und die Risiken die potenziellen Vorteile überwiegen.“