Bereits vor anderthalb Jahren hatte der Film „Jedem Kind ein Instrument – Ein Jahr mit vier Tönen“ Premiere und wird immer noch vor allem dort gezeigt, wo JeKi eingeführt werden soll. Die Presse feierte den JeKi-Film von Oliver Rauch begeistert als Beweis für ein „Projekt mit Vorbildcharakter“ (Ruhr Nachrichten) und als „beglückend“ (Berliner Morgenpost). Lediglich der Pressevertreter der Berliner Zeitung scheint einen Blick dafür zu haben, was JeKi für diejenigen, die die eigentliche Arbeit tun, bedeutet, und spricht in der Filmkritik von einer „schweren und ernüchternden“ Arbeit der Lehrer.
Der Film begleitet vier Kinder an drei verschiedenen Orten und Schulen über ein Jahr hinweg. Motomu aus Bochum befindet sich schon in der Zusammenspielphase des JeKi-Projekts, Joana, Esragül und Kerem werden vom Ende der Grundmusikalisierung über die Auswahl ihres Instruments bis zum Kleingruppenunterricht gefilmt. Wir sehen leuchtende Kinderaugen beim Ausprobieren einer Geige und stolze Kinder, die nach einem Auftritt mit sich zufrieden sind. Wir erleben aber auch Kinder, die damit überfordert sind, simultan zu klatschen und zu stampfen oder einen Ton zu singen und gleichzeitig an einer Gitarrensaite zu zupfen. Zwei Mal, einmal am Anfang und einmal am Ende des Films, besuchen die Kinder ein Konzert eines professionellen Orchesters: Das Kind mit Migrationshintergrund aus der schmuddeligsten Ecke des Ruhrgebiets steht endlich in einem Konzertsaal. Dort beobachten wir die unterschiedlichen Reaktionen der Kinder: Einige hören dem Orchester gebannt zu, andere wenden sich gelangweilt ab oder sind offensichtlich übermüdet.
Der Film beschränkt sich nicht auf den JeKi-Unterricht in der Schule, sondern zeigt auch das soziale Umfeld der Kinder: Mütter, die kein Deutsch sprechen, und Väter, die von Arbeitslosigkeit bedroht sind; Spiele auf der Straße und Geburtstagsfeiern im mit Luftballons geschmückten, grauen Hinterhof, bis hin zur Reise in die Heimat der Eltern in den Sommerferien. Ebenso werden die Lehrkräfte nicht nur beim Unterrichten gezeigt. Da steigt eine Musikschullehrerin morgens vor dem Einfamilienhaus im Grünen in den Kombi und fährt endlos durch die sich im Lauf der Jahreszeiten ändernde Landschaft, um zum Unterrichtsort zu gelangen, den Kofferraum voller Instrumente und Materialien. Da findet der Musikschulleiter aus Herne abends, nach ebenfalls unzähligen Autokilometern zwischen Unterrichtsorten, Sponsorenwerbung und Stadtratssitzungen, in denen er stolz verkündet, dass der nächste JeKi-Jahrgang ohne Stellenaufstockung stattfinden kann, doch tatsächlich noch Zeit, sich hinter seinen Bass zu stellen und zum Vergnügen Trio zu spielen. Da übernehmen Musikschullehrkräfte im Tandemunterricht mit Grundschullehrern ohne Probleme den kompletten fachlichen Anteil, während der Grundschullehrer außerhalb des eigentlichen Unterrichtsgeschehens sitzt und sich darauf beschränkt, gelegentlich einen Schüler zu ermahnen. Wir hören die Auffassung eines Grundschullehrers, der einem Schüler erklärt, dass das Geldverdienen für Orchestermusiker nicht so wichtig, sondern das wahre Brot des Künstlers der Applaus sei. Schließlich kommen Musikschulleiter zusammen und reden sich die Köpfe heiß darüber, wie man für eine größere Beteiligung am Instrumentalunterricht im zweiten JeKi-Jahr werben könnte und diskutieren über das Erstellen von fremdsprachigem Infomaterial. Besonders traurig und peinlich ist der Moment, in dem wir von Musikschulleitern hören, dass sie in der Situation, wo der schulische Musikunterricht am Boden liegt, ihre Musikschule und sich selbst mittels JeKi nun endlich unverzichtbar machen wollen: der Untergang des einen als Chance zum Überleben des anderen. Und immer zwischendurch fährt irgendeine Lehrkraft mit dem Auto aus Dienstgründen durch die Landschaft …
Auch das große und wichtige kulturpolitische Umfeld von JeKi wird gezeigt: Hortensia Völckers, Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, sagt klar, dass JeKi ein soziales und kein künstlerisches Projekt sei. Unscharf bleibt, was genau das „Soziale“ sein soll. Tabea Zimmermann, Unterstützerin des Projekts, nimmt sich Zeit für einen Auftritt mit einer Gruppe von JeKi-
Kindern. Dieser ist mitnichten öffentlich, sondern dient der Umrahmung eines exklusiven Treffens des einstigen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers mit Wirtschaftsbossen. Wir erleben gut angezogene, milde lächelnde Politiker und Honoratioren, die mit wohlwollenden Gesichtern den herausgeputzten JeKi-Kindern lauschen.
Aus dem Film geht klar hervor, wie überfrachtet JeKi mit bildungsbürgerlich geprägten Hoffnungen ist: geeignet, als sozialer Kitt nach dem Vorbild Venezuelas die zunehmend auseinanderdriftende Gesellschaft zusammenzuhalten (so der ehemalige Minis-
terpräsident Rüttgers), geeignet, die Kluft zwischen kulturell und sozio-ökonomisch vermögenden und armen Kindern zu verringern (so der damalige Projektleiter Grunenberg), geeignet, das kulturelle deutsche Erbe – erweitert um den Aspekt Baglama, damit auch für Migranten etwas zur Identifikation dabei ist – zu bewahren (so der Staatssekretär Grosse-Brockhoff).
Was wir nicht erfahren, ist, inwieweit sich die in das Projekt JeKi gesetzten Hoffnungen erfüllen. Wir hören nur wenige klangliche und in musikalischer Hinsicht kaum überzeugende Ergebnisse der Ensembles oder einzelner Kinder. Wir erfahren, dass die Beteiligung von bildungsfernen Familien beziehungsweise Migrantenfamilien enttäuschend gering ausfällt. Liegt das tatsächlich nur an mangelnden Deutschkenntnissen der Eltern, aufgrund derer sie nicht verstehen, was JeKi eigentlich ist? Wir erfahren auch, dass sich bildungsbürgerliche Kinder kaum beteiligen, weil den Eltern bei JeKi im Vergleich zum Unterricht an einer Musikschule oder zum Privatunterricht zu wenig rauskommt. Aus den unterschiedlichen Wohnsituationen der Kinder können wir schließen, dass sie aus unterschiedlichen Schichten stammen, ohne dass wir erfahren, ob die gemeinsam musizierenden JeKi-Kinder auch ihre Freizeit gemeinsam verbringen. Wirkt JeKi also tatsächlich der Segregation entgegen? Kann es das überhaupt? Ist es nicht vielmehr reichlich naiv, anzunehmen, dass sich gravierende sozioökonomische Unterschiede tatsächlich durch wöchentliches gemeinsames Musizieren im Umfang von zwei Stunden verwischen lassen und auf diese Weise eine Segregation in bereits seit langem segregierten Stadtteilen aufgehoben werden kann? – Die Projektveranstalter wären gut beraten, vielleicht einmal Pierre Bourdieus soziologischen Klassiker „Die feinen Unterschiede“ zu lesen, in dem es um die Abgrenzung sozialer Schichten voneinander geht, um den jeweiligen schichtspezifischen Habitus.
Der Film zeigt auch ganz deutlich die Probleme der Lehrer auf, ohne sie jedoch zu benennen. Dadurch bleiben sie dem nicht schon mit JeKi befassten Zuschauer verborgen. Wer weiß schon, dass das E9-Gehalt einer Jugendmusikschullehrkraft niemals für ein Häuschen im Grünen und einen Kombi davor reichen würde? Wer stößt sich daran, dass ein Musikschulleiter, Angestellter der Stadt, für seine regulären Aufgaben auf Sponsorensuche gehen muss, und das jedes Jahr aufs Neue? Wem fällt auf, dass da ein soziales Projekt mit einem künstlerisch-pädagogischen Personal durchgeführt wird, das für eben dieses soziale Projekt in vielen Fällen weder ausgebildet noch ursprünglich eingestellt worden ist noch angemessen bezahlt wird? Wer weiß schon, dass immerhin knapp 30 Prozent der JeKi-Lehrer überhaupt nicht fest angestellt sind und die Festanstellungen befristet? Wer fragt sich, ob die Fahrzeiten der Musikschullehrkräfte, die durch JeKi entstehen, vergütet sowie Kilometerpauschalen für Fahrten zwischen den Dienstorten gezahlt werden? Wem ist klar, dass, wenn für das nächste Jahr JeKi keine neuen Lehrkräfte eingestellt werden, JeKi zu Lasten des Nachmittagsunterrichts der Musikschule geht, die Stunden also zur Förderung anderer Musikschüler fehlen?
Der Katalog ließe sich fortschreiben. Schön wäre es gewesen, wenn der Film gleichermaßen Chancen und Probleme des Projekts aufgezeigt und benannt hätte! Obwohl der JeKi-Film beabsichtigt, vor allem potenzielle Sponsoren zu begeistern, offenbart er selbst als Propagandafilm zumindest für Fachkundige deutlich die Schwächen des Projektes, ohne dabei einen einzigen Erklärungsversuch für die Ursachen dieser Schwächen zu unternehmen oder Lösungsansätze darzustellen. Wer genau hinhört und hinsieht, dem bleibt die Frage nicht verborgen, ob die hör- und sichtbaren Ergebnisse von JeKi den enormen finanziellen Aufwand und die massiven Veränderungen der Musikschullandschaft rechtfertigen, sofern die eigentlichen Projektziele nicht oder nur unzureichend erreicht werden. Und auch die Frage, weshalb eigentlich dieselben Politiker, die der stets weiteren Streichung von schulischem Musikunterricht, der ja durchaus zu einer Teilnahme am kulturellen Leben führen könnte, ohne mit der Wimper zu zucken zustimmen, sich nun begeistert mit einem musikalischen Projekt schmücken, bleibt offen.
„Jedem Kind ein Instrument – Ein Jahr mit vier Tönen!“, Dokumentarfilm von Oliver Rauch, 92 Min., D 2010