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Das Blockflötenkonzert

Untertitel
Eine Weihnachtsgeschichte von Ulla Lessmann
Publikationsdatum
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„Paula, Finn, Jakob und Ole ernähren wir ohne Fisch, ohne Zucker, aber mit viel Getreide.“
So sehen sie aus, die vier kleinen verhärmten Wesen, findet Lisa Schweitzer, kritisch auf die Kinder am Nebentisch blickend: farblos und verschreckt, wie sie da um ihre Mama herum auf den harten Plastikstühlen in der Schulmensa hocken. Ob einmal in der Woche Fleisch etwas Farbe in ihre blassen Kinderwangen gezaubert hätte? Mama wirkte auf Lisa schwabbelig, blässlich und hat strähnige Haare. Was will sie ihrer Umgebung damit sagen? Ich arme gestresste Mutterkuh säugte meine vier Kinder, fütterte sie mit staubigem Getreide, beschützte sie mit meinem untrainierten, aber gebärfreudigen Leibe vor Fisch und Fleisch, Lebkuchen und Marzipan und konnte sie so zu Höchstleistungen auf der Blockflöte treiben? Lisa Schweitzer will nämlich, dass außer Friederike Clara Schweitzer kein anderes Kind in dieser Schule auch nur einen Funken Musikalität besitzt. Lisa will der Welt durch Friederike zeigen, dass eine alleinerziehende Mutter ein musikalisches Ausnahmetalent behutsam aufbauen kann, dass sie nicht verhärmt, gestresst und abgehetzt, sondern attraktiv und gelassen ein unneurotisches Kind aufziehen kann.

Er wird nicht kommen. Das wird er Friederike nicht antun.

Friederike hat, davon ist Lisa überzeugt, nicht nur nach ihrer mütterlichen Meinung ein überdurchschnittliches musikalisches Talent und die für eine Achtjährige ganz ungewöhnliche Fähigkeit, die Blockflöte wirklich zu blasen und nicht in sie hinein zu pusten, was neunzig Prozent aller Kinder tun.

Friederike Clara Schweitzer tat das von Anfang an nicht, denn sie ist Lisa Schweitzers außergewöhnlich begabte Tochter und hat zudem das Glück, in Lisa eine sie umfassend und systematisch fördernde Mutter zu haben. Die unbeagbtesten unter ihnen werden gnadenlos von einem teuren musikalischen Früherziehungsworkshop in den nächsten geschickt, weil ihre Mütter kein Gefühl, vor allem aber kein Gehör für die vollkommene Unfähigkeit ihrer Kinder besitzen, einen vibratolosen, runden Blockflötenton zu erzeugen, geschweige denn ein sauberes Fis zu blasen, weil sie mit ihrem kleinen Finger nicht das rechtsseitige Loch abdecken können und quietschend knapp am Fis vorbei allen Hörgenuss verderben.

Nicht so Friederike Clara. Die kann ein glockenreines B intonieren und sowohl „Leise rieselt der Schnee“ als auch „Ihr Kinderlein kommet“ und „Kommet, ihr Hirten“ auswendig spielen. Wobei besonders die tiefen Töne in „Kommet, ihr Hirten“ für jedes Blockflötenkind eine Herausforderung darstellen, weil sie mit sehr fein dosiertem Atem geblasen werden müssen, um den Ton nicht überschlagen zu lassen, was ihre Friederike Clara bravourös meistert; und zwar freiwillig.

Außerschulische musikalische Früherziehung kann eine geschiedene Arzthelferin sich nicht leisten.

Lisa Schweitzer hat Friederike Clara zwar mehr als einmal sagen müssen, dass man, wenn man öffentlich auftritt, besonders gut und besonders fehlerfrei spielen muss, weil die Zuhörer sonst beleidigt sind. Aber sie hat ihr auch gesagt, dass Mama sie weiterhin lieb hat, wenn sie vor dem Weihnachtsblockflötenkonzert nicht jeden Tag zwei bis drei Stunden übt, obwohl Mama natürlich ein bisschen traurig wäre, wenn die teure Flöte ungespielt im Schrank läge, und dass man Begabungen, die einem der liebe Gott geschenkt hat, nicht einfach ungenutzt lassen darf. 

Lisa merkt, dass sie vor sich hin lächelt. Sie ist doch wirklich gesegnet mit ihrem begabten, schönen kleinen Mädchen. Worte wie „gesegnet“ denkt sie normalerweise nicht, aber heute ist der 23. Dezember. In einer halben Stunde beginnt das Weihnachtskonzert der Blockflötengruppe der Gemeinschaftsgrundschule Clara-Schumannstraße.

Er wird nicht kommen. Bestimmt wird er nicht kommen. Und wenn er kommt, wird Friederike Clara ihn gar nicht erkennen, sondern ganz in ihr Spiel versunken sein.

Wie viele Kinder hat wohl die graue Getreidemutter noch, die sich jetzt hinter der Bühne mit ihrer Friederike einblasen? Lisa Schweitzer achtet auf eine ausgewogene Ernährung ihres kleinen Wunderkindes und käme nie auf die Idee, sie mit Körnern zu quälen, denn hübsches Aussehen ist für eine Karriere genauso wichtig wie ein Ausnahmetalent.

Sie ruckelt ein wenig auf ihrem Stuhl herum, um zu sehen, wem die Getreidemutter eigentlich eben ihre Fütterungsgrundsätze anvertraut hat. Isolde Bayer sitzt da mit ihrer schicken, teuren Föhnfrisur, in einem ihrer edlen Hosenanzüge an ihrem Fitnessstudiobody. Sie ist die Mutter dieses peinlich unmusikalischen Anton, der jedes Mal, wenn Lisa ihre Friederike von der Flötenstunde abholt, heult, weil die Flötenlehrerin ihn ermahnen musste, doch ein einziges Mal mit den anderen gemeinsam den ersten Ton zu blasen und wenigstens ein einziges Mal mit den anderen gemeinsam ein Stück zu beenden, anstatt ständig mit den letzten Tönen hinterher zu klappern.

Lisa ist dagegen, dass musikalische und feinmotorisch fortgeschrittene Kinder wie ihre Friederike Clara durch unbegabte Trampel wie diesen Anton gebremst werden und hat deshalb schon häufig mit der Flötenlehrerin gesprochen. Die Flötenlehrerin hält viel von Friederike Clara und hat angedeutet, dass man es bei ihr schon mit der Altflöte versuchen könnte und dass man auch mit Querflöte nicht zu spät beginnen dürfe.

Er wird nicht kommen. Es kann auch einmal etwas gut gehen.

Paula oder Finn oder Jakob oder Ole, jedenfalls eines dieser getreidegefütterten Würmchen aus der Mensa darf fünfzehn Minuten später das Weihnachtskonzert in der Aula mit einem Blockflötensolo eröffnen und tut dies fehlerfrei, obwohl es sich nicht eingeblasen, sondern grünen Tee getrunken hat. „Ihr Kinderlein kommet“.

Na ja, denkt Lisa missmutig und nervös, nun in der ersten Reihe zwischen der Mutterkuh und Isolde Bayer sitzend, das ist das Minimum.

Hinter dem kleinen Solisten sitzen die wartenden Kinder in braver Stuhlreihe auf der Bühne, die bunt bestrumpfhosten oder behosten Beinchen verdreht und verknotet, die Flöten in den schweißnassen Händchen. Ein echter Weihnachtsbaum am Bühnenrand spendet mildes Licht aus künstlichen Kerzen. Die Rektorin tritt an den Bühnenrand und hält eine erfreulich kurze Rede, von der Lisa nichts mitbekommt, weil sie sich mit inzwischen laut wummerndem Herzen auf Friederike Clara konzentriert, die als zweite dran ist, mit „Kommet, ihr Hirten“.

Die Melodie hat rhythmische Tücken bei „Kommähät ihier Hirtähän, ihier Männäher uhund Fraun“ und bei „geboren“ nach „Christus der Herr ist heute“ zum tiefen C führt, das so schnell ins quietschend Grelle abgleiten kann und dann alles verdirbt.

Geschätzte achtzigtausend Mal hat Friederike diese Stelle geübt, und 79.999 Mal hat sie es geschafft, hat mit ihrer kleinen Fingerkuppe komplett das letzte Loch verschlossen, den Ton behutsam mit der Zunge angestoßen und ihn fließen lassen und auch nicht vergessen, dass sie sie ein B statt eines H greifen muss.

Lisas Herz poltert, in ihrem Bauch tobt es. Alles wird gut gehen, alles muss gut gehen, er wird nicht kommen.

Friederike Clara wird mit ihrem vierstrophigen Solo einen überwältigenden Eindruck machen, die weihnachtlich gestimmten Menschen zu Tränen rühren, sich als zweite Stimme bei „O du fröhliche“ als Ensemblespielerin profilieren und sich dann in den Chor der Flötenkinder bei „Am Weihnachtsbaume“ harmonisch aber stimmführend einfügen. Dann wird die Flötenlehrerin für den Altflötenunterricht eine Freistelle auf der Musikschule empfehlen.

Plötzlich zerbirst ein hoher, kreischender Ton die andächtige Stille nach der ersten Strophe, die Friederike soeben einwandfrei absolviert hat. Der Ton kreischt wütend auf, bleibt grellzitternd stehen, bricht mit einem kläglichen Winseln zusammen. Atemlose Totenstille.

In Lisas Kopf kreischt der Ton weiter. Ein Schrei ist das, ein furchtbarer Schrei. Sekunden später, in der anhaltend entsetzten Stille, dreht sie ihren Kopf, sieht den Mann durch den Mittelgang kommen, den Mann, den auch Friederike Clara trotz ihrer hohen Konzentration gesehen hat, den Mann, der Friederikes Vortrag zerstört, der Lisas Hoffnung, wahrscheinlich Friederikes Zukunft zerstört.

Isolde Bayer dreht sich um, die Mutterkuh dreht sich um, alle drehen sich um. Alle sehen den Mann an, einen großen Mann im schweren Mantel, der mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, einem leichten, entschuldigenden Lächeln durch den Mittelgang kommt, sich zur ersten Reihe wendet, an Lisa Schweitzer und Isolde Bayer vorbeigeht und sich auf den von Lisa bislang nicht als leer registrierten Stuhl neben die Getreidefrau setzt.

Alle Köpfe drehen sich wieder nach vorne, schauen erwartungsvoll auf das im milden Kerzenglanz stehende kleine Mädchen mit den cremeweißen Wangen, Friederike Clara, die mit nun gesenktem Kopf immer noch dort steht, die Flöte nicht mehr in Spielhaltung, sondern mit beiden Händen umklammernd.
Die Flötenlehrerin steht auf, legt Friederike die Hand auf die Schulter, beugt sich hinunter, murmelt etwas, schiebt das steife Kind sanft zu den Stühlen zurück, flüstert mit einem der Getreidekinder, das sich nun erhebt, errötend an den Bühnenrand tritt, mit einem ansatzlos geblasenen, glockenreinen C „Kommet, ihr Hirten“ intoniert und das Lied ruhig und fehlerlos zuende spielt.

Während sich nun alle Kinder außer der paralysierten Friederike erheben und gemeinsam „O du fröhliche“ zu blasen beginnen, versucht Lisa Schweitzer zu atmen. Ihr galoppierender Herzschlag will sich nicht verlangsamen, während sie schluckt und schluckt, um nicht weinen zu müssen.

Er ist gekommen.

Das ist seine Rache, weil er das Sorgerecht nicht bekommen hat. Jetzt hat er aller Welt bewiesen, dass das Kind unmusikalisch ist. Genau das, was er jahrelang behauptet hat.

Lisa Schweitzer weiß nicht, wohin mit ihrer maßlosen Enttäuschung. Alles war umsonst; es wird keinen Altflöten-Unterricht für Friederike Clara geben, keine kostenlose Querflöte, keine Freistelle, keine Bewunderung, keine Anerkennung für die Mutter. Weihnachten, das Fest der Liebe, Weihnachten, das Fest der Familie, Weihnachten, der Tag der Katastrophen.

Lisa umklammert die Piccoloflöte in ihrer Jackentasche, ihr Weihnachtsgeschenk für ihr begabtes Kind, mühsam über Jahre zusammengespart.

Ihr Leben lang wird Friederike Clara unter diesem Weihnachtskonzerttrauma leiden, nie wird sie unbefangen auf einer Bühne stehen können, immer wird sie, wenn sie ein B blasen will, das Licht des Weihnachtsbaumes sehen, den eisigen Schrecken spüren, der ihren Atem unkontrolliert in die Flöte presste, als sie ihren Vater durch die Aula kommen sah, diesen Vater, der nie an ihr Talentglaubte, das sie ab jetzt nicht mehr haben wird.

Das denkt Lisa.

Ob Friederike Clara etwas denkt, weiß sie nicht. Das Kind sitzt zwischen den anderen Kindern, blass und starr, während ein Lehrer an das Klavier geht, „Macht hoch die Tür“ intoniert und die Zuhörer zum Mitsingen auffordert.

Isolde Bayer raunt ihr zu: „So hätte unser Anton das niemals versaut“, bevor sie lauthals und falsch bei „derselben jauchzt, mit Freuden singt“ in den Chor der Eltern, Geschwister und Großeltern der Flötenkinder einfällt.

Lisa Schweitzer kann nicht mitsingen, obwohl sie gut mitsingt, obwohl sie Friederike Clara seit ihrer Geburt immer vorgesungen hat, damit ihr musikalisches Talent stimuliert wird, obwohl sie Friederike immer weiter vorsingt, damit sie ein Gespür für Intervalle bekommt.

„Und jetzt“, sagt die Rektorin, „bitten wir Sie alle noch zu einem weihnachtlichen Plätzchenessen und einem Glühwein in der Mensa, und Finn und Paula werden uns mit ,Es ist ein Reis entsprungen‘ erfreuen.“

Alle stehen auf.

Lisa Schweitzer hastet auf die Bühne, reißt ihre Tochter vom Stuhl, quetscht ihre Hand, zischt ihr ins Ohr: „Du elende Versagerin, ich habe dich gewarnt, dass er kommen könnte, wir haben das geübt und geübt und geübt, dass du dich beherrschen musst, wenn er kommt. Niemand wird dich mehr unterrichten wollen, neimand stellt uns eine Querflöte zur Verfügung, niemand will dich in seiner Flötengruppe haben.“
Friederike Clara steht still mit gesenktem Kopf und weint nicht.

Niemand beachtet die beiden, alle drängeln hinaus in die Mensa zu den von den Kindern selbst gebackenen Plätzchen. „Aber das wird er uns büßen“, flüstert sie Friederike zu. In der drängelnden, lachenden, freudig schwatzenden Menge sieht sie seinen Kopf.

Lisa Schweitzer hält Friederike Clara mit der einen Hand fest, mit der anderen wühlt sie in ihrer Handtasche. Eine Waffe sucht sie, eine Waffe, auch er soll leiden, wenn sie leidet und sein Kind keine Zukunft hat. Lisa findet einen Brieföffner, drängelt sich mit dem willenlosen Kind an der Hand durch die Menge, immer seinen Kopf vor Augen, bis es ihr gelingt, sich um den Mann herumzuschlängeln, in der rechten hält sie den Brieföffner, rammt ihn kraftvoll in den hellblauen Bauch, zieht ihn unmittelbar wieder heraus, stopft ihn in die Handtasche zurück, wendet sich um, kommt nicht weiter, hört hinter sich einen Schrei, hört weitere Schreie, ein Stöhnen, ein Wimmern, wird ihrerseits von hinten geschoben, schreit nun auch, weil alle schreien, die schreiende Menge zwingt Lisa zurück, drängt sie gegen einen am Boden liegenden Leib.

Lisa und Friederike Clara stürzen fast über den gekrümmt am Boden liegenden Körper. Durch die Beine der Erwachsenen winden sich bleich und schreiend Paula, Finn, Jakob und Ole, werfen sich über den Mann und heulen auf „Papa, Papa!“

Gekürzte Fassung einer Geschichte unserer Autorin Ulla Lessmann aus Yeki-Land. Entnommen dem eben erschienen Band: Das Lachsmesser im Marzipanschwein. Kriminalgeschichten. Leporello, Krefeld 2010, € 9,90

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