Betrachtet man die zentralen Faktoren der Kulturform „Konzert“, so kommen hier drei Größen zusammen: die Musik beziehungsweise das Programm – die Musiker sowie Interpreten – das Publikum und verschiedene Hörerschichten – in einer bestimmten Situation, getragen von einem kulturellen, ökonomischen und organisatorischen Rahmen, zu dem ein reges Vorher und Nachher gehören.
Alle Faktoren haben sich seit Entstehung des Konzerts im 18. Jahrhundert unendlich ausdifferenziert und befinden sich in ständiger historisch-gesellschaftlicher Veränderung. Bei allem Wandel jedoch, den die junge, gut zweihundertjährige Geschichte des Konzerts hervorgebracht hat, lässt sich beobachten, dass gewisse Rituale und Regeln sich über einen langen Zeitraum erhalten haben – Rituale, die den Bedürfnissen moderner Publikumsschichten nicht mehr gerecht werden und das Konzert von innen aushöhlen und allmählich sterben lassen, so scheint es.
Es sei denn, die Beteiligten, allen voran die Künstler, erwerben eine höhere Flexibilität der Vermittlung, entwickeln eine schärfere Reflexion der Bedingungen und Möglichkeiten des Konzerts im Medienzeitalter und positionieren sich neu in ihrem gesellschaftlichen Engagement und öffentlichen Auftrag.
War der Konzertbesuch im späten 18. Jahrhundert ein existenzielles und soziales Bedürfnis der mittelständischen Intelligenz, so ist die Geschichte des Konzerts im bildungsbürgerlichen 19. und barbarischen 20. Jahrhundert von einer rituellen Erstarrung und Elitarisierung geprägt. Das triadische Arrangement von Musik, Musiker und Publikum scheint in seiner heutigen Form nicht mehr zeitgemäß. Sein Wesen beruht auf der strikten Trennung von Ausführenden und Auditorium, deren frontale Positionierung so etwas wie kollektive Kommunikation unmöglich macht. Die Bewegung zwischen beiden ist eine lediglich ideal-imaginäre, von Publikumsseite aus wenig aktive.
Idee und Aufgabe der Konzertpädagogik ist es nun, die althergebrachte Form des klassischen Konzerts aufzubrechen und das Ritual in Bewegung zu bringen. Konzertpädagogik oder der noch umfassendere Begriff Musikvermittlung kann als Antwort auf die Krise des Konzerts, auf musikalische Erfahrungsverluste, Interesselosigkeit und Publikumsschwund betrachtet werden.
Rückläufige Besucherzahlen, Veränderungen der Rezeptionsgewohnheiten, mediale Überflutung, neue Hörweisen und Verstehenswünsche des Publikums erfordern einen neuen Blick auf Programmgestaltung, Musikdarbietung, Werkwiedergabe und Wirkungskalkül. Und sie erfordern eine neue Ausbildungskultur an Musikhochschulen, insbesondere für Musiklehrerinnen und Orchestermusiker. Ein neuer Musikertyp, eine neue Künstlerpersönlichkeit in der Personalunion von „performer“ und „educator“ ist gefordert, die einerseits die Gründe des Klassik- und Konzertsterbens erkennt und benennt: die mangelnde musikalische Bildung.
Publikum an der Kehle packen
Dazu aber gilt es, einige Grundfragen zu stellen: 1. Was für eine Musik ist das, die ich im Konzert spiele und zu einem sinnvollen Programm zusammenbinde, und welche Sinnangebote und Beglückungen, Fragen und Erfüllungen sind in ihr enthalten? 2. Wer bin ich als Musiker (wer sind wir als Ensemble, als Orchester), und wie kann ich meine Musik dem Publikum nahe bringen, es bewegen, verändern, zu neuem Denken führen und zu Tränen rühren? 3. Wer ist unser Publikum oder wer kann unser Publikum unter neuen Bedingungen sein, in welcher Situation stehen wir als Künstler und Pädagogen in der Gesellschaft? Auf diese Fragen antwortet seit einigen Jahren ein neuer Studien- und Berufszweig, der in angelsächsischen Ländern schon länger verbreitet ist und dort „music education work“ heißt, ins Deutsche unscharf übersetzt mit Musikvermittlung oder Konzertpädagogik. Ziel ist es unter anderem, die klassische Distanz zwischen Spielern und Publikum zu verringern und das Publikum körperlich, emotional und intellektuell anzusprechen und aktiv in das Geschehen einzubeziehen: durch Moderation, Einbezug anderer Kunstsparten, Rezitationen, Aktivierungen des Publikums, mediale Aufbereitungen, geschickte Programmdramaturgien, Diskussionen und alle weiteren Formen, die Leben ins Konzert und das Konzert ins gesellschaftliche Leben bringen.
An manchen Hochschulen ist inzwischen das Fach Musikvermittlung/Konzertpädagogik in die musikpädagogischen Studiengänge integriert oder als eigenständiger Weiterbildungsstudiengang aufgebaut worden, wie zum Beispiel an der Musikhochschule Detmold, wo es ein ausgefeiltes Curriculum zur Musikvermittlung gibt. Praxisorientierte Lerninhalte sind auch die Organisation und Moderation von Familien- und Kinderkonzerten, die Konzeption von Werkstattkonzerten,themenorientierten Programmen, Workshops, Schülerkonzerten, die Dramaturgie einer Musikveranstaltung, didaktische Analyse von Musik, Methoden der Musikvermittlung, Umsetzung von Musik in Bewegung, Bild und Sprache, Moderationstraining, Bühnenpräsenz, Atem- und Sprechtechnik, Interviewmethoden, Ensemblepraxis sowie soziologische Grundlagen der Musikvermittlung.
Ergänzt werden kann dieser Fächerkanon durch einen unorthodoxen Blick auf andere Kunstsparten, wobei sich hier ganz besonders die prägende Kunstform des 20. Jahrhunderts: der Film und seine Ästhetik anbietet. Denken wir nur an Billy Wilders Grundregel: „Langweile dich und andere nicht!“ oder an seine Zehn Gebote des Filmemachens, dessen zweites lautet: „Pack das Publikum an der Kehle und lass es nie wieder los.“ Oder vergegenwärtigen wir uns die Filmästhetik des großen jüdischen Regisseurs Claude Lanzmann, der da nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Bauch filmt und dessen Produktionen „complètement physique“, voller Körper und Sinnlichkeit sind.
Movie thrill – Konzert thrill
Und wenn Edgar Reitz in seinen Visionen zur Zukunft des Kinos von einem „bacchantischen Element“ träumt, bei dem „alles ... in Bewegung geraten (kann): die Leinwand, die Sitze, die Wände, die Projektoren ..., das Publikum“, und die persönliche Begegnung und Beteiligung aller im Zentrum steht, so ist dies ebenso konzertpädagogische Zukunftsmusik wie Evokation von Vergangenheit. Und nicht zuletzt der umstrittene Quentin Tarantino, der in einem SPIEGEL-Interview vom „movie thrill“ spricht, diesem großen umwerfenden Kinoerlebnis, bei dem die Zuhörer bewegt werden und nicht nur in ihrem Sessel liegen.
Davon kann sich das Konzert eine Scheibe abschneiden, auch wenn es bei sich und seinem Medium, der Musik und dem Musikhören, bleiben und nicht sich „fremden“ Medien zu sehr anbiedern sollte. Man muss nicht immer moderieren und alles medial aufbereiten. Dennoch lässt sich vor diesem Hintergrund das Postulat eines „concert thrill“ aufstellen.
So sollte das gute alte Konzert wieder neu als Erlebnis verstanden werden in einer Gesellschaft. Die Rede ist hier nicht von einer oberflächlichen Eventkultur, sondern von einem wahren E-venire, einem Aus-sich-Herausgehen im Konzert, einem Verlassen des Alltags und Sprengen der Grenzen des Konventionellen durch eine umfassende Ansprache an einem Ort musikalischer Darbietung und kultureller Begegnung.