Allein die autonome Kunst verfügt über die Mittel, schlechte herrschende Verhältnisse zu kritisieren, ohne sich selber auf sie einlassen zu müssen. Heiner Metzger setzt in der Grenzzone zur bildenden Kunst und zum Film mit improvisierten Klängen einen freien Kontrapunkt zur Monodie neoliberaler Stadtentwicklung.
Die mittlerweile standardisierte „Disney-Finanzierung der Innenstädte“, wie der britisch-amerikanische Humangeograph David Harvey die ästhetische Verelendung des urbanen Lebens beschreibt, provoziert den Einspruch freier Ausdrucksformen – jenseits des durch-eventisierten Alltags und kommerzieller Erlebnisparks. Alte Schlachthöfe, Fabrik- und Lagerhallen: Seit Jahrzehnten schaffen sich Künstler aller Genres in den Metropolen der westlichen Welt Freiräume an Plätzen, die von der strikten Funktionalität der Marktwirtschaft und instrumentellen Vernunft der Inwertnahme und Gentrifizierung, der profitorientierten Aufwertung von allem und jedem okkupiert sind.
Warum? Subjektiv geschieht dies meist aus ordinärer Raumnot, die drastische Einschnitte in die staatlichen Kulturhaushalte forciert haben – vor allem wenn es um die Förderung nichtkommerzieller Kunst geht. Objektiv ist dieser Akt befreiend für zunehmend unterdrückte kreative und soziale Lebensäußerungen der Menschen. Und welcher Raum schreit mehr nach Rebellion gegen marktwirtschaftliche Zurichtung als der des Warenhauses, dessen Fläche die einzige Funktion hat, dass sich auf ihr molto und prestissimo der Akt vollzieht, der totalitär alle Regeln des modernen Lebens diktiert – der Warentausch. Das Kaufhaus ist sein Symbol, denn hier ist er noch konkret und unmittelbar sinnlich erfahrbar.
„Blinzelbar“ heißt der freie Aktionsraum, den der Musiker und Komponist Heiner Metzger seit 2005 zusammen mit der bildenden Künstlerin Judith Haman in einer ehemaligen Karstadt-Filiale in Hamburg-Altona – sie war 2003 geschlossen worden – organisiert und kuratiert. Heiner Metzger, 1955 in Neu-Ulm geboren, improvisierte schon im Alter von elf Jahren auf dem Klavier. Später lernte er Querflöte, Klarinette und andere Blasinstrumente spielen. Nach seinem Umzug nach Hamburg 1977 und während seines Musikwissenschaftsstudiums kam er mit der Free-Jazz-Szene in Berührung, spielte in Formationen wie dem Bläser-Quartett VIS, dem Weltmusikensemble Tyrrn, Tentacle Tubes. Seit sieben Jahren veranstaltet er den h7-Club, eine Konzertreihe für improvisierte Musik an wechselnden Aufführungsorten.
2005 entwickelte er für Hamans Installation „Vom Tisch zur Tafel“ – sie war zehn Meter lang und aus Staubsaugerbeuteln gefertigt – den Soundtable: ein elektroakustisches Instrument, einen Tisch, auf dem Metzger Haushaltsgegenstände wie Bürsten, Essbesteck und -stäbchen, Schneebesen und Gläser mit den Händen bewegt, zupft oder mit einem Violinenbogen in Schwingung versetzt. „Verstärkt durch einen Piezo-Tonabnehmer und ein Mischpult bekommen die eher leisen Sounds eine neue Präsenz, werden Klangtexturen und Bespielungsnuancen deutlicher hörbar“, erklärt Metzger. „Ich verwende den Soundtable, der keinerlei melodischen Möglichkeiten bietet, als transportables Klavier. Denn auch an diesem Instrument interessieren mich vorwiegend die Klänge, die man im Inneren des Instruments, beispielsweise durch Präparationen erzeugen kann – es bietet ein Reservoir von Noise.“
Metzger tritt vorwiegend mit dem „TonArt-Ensemble“, der Projektgruppe aktuelle Musik und im Duo mit der Trompeterin Birgit Uhler auf, die erweiterte Spieltechniken – Subtöne und Blasgeräusche – entwickelt hat. Er hat mit dem Kontrabassisten Peter Kowald, einer Ikone des Avantgarde-Jazz, dem Synthesizer-Spieler Thomas Lehn, dem Saxophonisten Evan Parker gearbeitet und an internationalen Festivals wie dem Wiesbadener HumaNoise, Butoh in Berlin oder blurred edges in Hamburg teilgenommen. Die Arbeit mit Noise biete neue Optionen, sagt Metzger und verweist auf die Musique concrète und die unterbrochene Traditionslinie der Arte dei rumori der italienischen Futuristen. Zudem sei ein wesentliches Prinzip der neuen Improvisationsmusik, nicht mehr auf das Material des Free Jazz und der Neuen Musik zurückzugreifen, sondern sich selbst Klänge zu erschließen. Mit der Auflösung von Hierarchien – wie sie im Jazz mit der Aufteilung in Solisten und Rhythmus-Combo noch oft üblich sind – in der neuen Improvisationsmusik haben alle Ausführenden die Möglichkeit, sich hörbar zu machen. Für Metzger ist die musikalische „Verwirklichung der konkreten Utopie des gleichberechtigten und intensiven Austauschs ein Gesellschaftsentwurf im Aquarium“.
Bis April vergangenen Jahres befand sich Metzgers und Hamans „Blinzelbar“ noch im benachbarten Forum, einem Gebäude, das vorwiegend vom Einzelhandel genutzt wurde. Dann siedelte das Projekt ins ehemalige Karstadt-Reisebüro im Erdgeschoss des Frappant-Komplexes über; nebenan die Kaufhausfläche, die ebenfalls als Kunstraum erschlossen ist.
Das in den frühen 1970er Jahren errichtete Frappant liegt an der Einkaufsmeile Große Bergstraße. Die war nach der Karstadt-Schließung kommerziell verödet. Im kreativen Bereich hat die Gegend indes gewonnen: Im vergangenen Jahr hatten sich knapp 140 bildende Künstler, Musiker, Architekten und Fotografen im Frappant eingemietet, Ateliers und Proberäume eingerichtet. Metzger und seine Partnerin wollen sich aber nicht in der „Blinzelbar“ verschanzen. Als sie feststellten, dass die Anwohner in den Sanierungsbeiräten keinen Einfluss auf die Beschlüsse zur Entwicklung ihrer eigenen Stadt haben, lautete ihre neue Losung: „Raus aus dem Kunstraum, hinein in den öffentlichen Raum!“, erzählt Metzger. 2008 errichteten die Künstler unter dem Titel „Schonzeit“ zwei Hochsitze „im befriedeten Raum“ der Großen Bergstraße, von denen Menschen über Megaphon über ihre (Wohn-)Situation sprechen konnten.
Im Bann totalitärer Ökonomie wird selbst die Ideologiekritik zur Ideologie heruntergewirtschaftet. So bedarf auch und vor allem die Kunst einer stetigen kritischen Selbstreflexion: Im Dezember präsentierte der Musiker und Multimedia-Artist Michel Chevalier in der „Blinzelbar“ eine Videoprojektion zu der Frage nach dem inneren Widerspruch von „Kunstmärkten gegen Gentrifizierung“, auf denen sich Chanel-Sonnenbrillenträger tummeln – und Großverdiener mitwirken wie der Maler Daniel Richter, der in der Zeitung „Die Welt“ Stimmung gegen Kommunisten macht.
2007 organisierten Heiner Metzger und andere Künstler im „Zentrum urbanen Leerstands“ die Veranstaltungsreihe „Leere Serie“: Der „‚eingeräumte’ Raum, der jeder Erschließung zurückweicht, bleibt distanziert gegenüber jeder Tendenz von Nähe; der permanente Ausnahmezustand wird zum neuen Regulator des politischen Systems“, heißt es in ihrem Konzept. Metzger setzte sich in seiner polymedialen Performance mit dem von neoliberalen Stadtplanern strapazierten Begriff der Brache auseinander. „Im Kontext der Stadt weckt der Begriff die falsche Assoziation der Leerstelle. Tatsächlich ist es so, dass alle Flächen in Städten schon allein deshalb nicht leer sind, weil sie alle eine Geschichte haben. Sie werden künstlich leer gehalten“, meint Metzger. „Der konkrete Stadtraum wird in einen Problemfall überführt und damit entschieden, wer dafür zuständig ist und wie solch ein Fall bearbeitet wird.“ Damit steht er nicht als Lebensraum zur Verfügung.
In einer Performance unter dem Titel „Am Puls der Brache“, die gefilmt wurde, zog Metzger einen selbst gebauten Klangpflug – ein Brett, an dessen Unterseite leere Joghurtbecher montiert waren – durch die Kaufhaushallen. Unterlegt wurde der auf dem „Instrument leere Fläche“ erzeugte Klang, der je nach Bodenbelag und akustischer Beschaffenheit des Raumes variierte, durch Metzgers Komposition „Du bist die Brache“: Ein Transfer der Situation der leeren Fläche auf die Situation der Individuen. „Heute werden auch Menschen medial und kulturindustriell vermittelt als kommerziell nutzbare Fläche aufgefasst.“
Metzger und andere Künstler wollen eine Genossenschaft gründen, um den Frappant-Komplex zu einem Kultur- und Sozialzentrum auszubauen – eine Idee, die bei den Politikern auf pures Unverständnis stieß. „Das Gebäude war als kommerzieller Ort konzipiert. Obwohl das nicht funktioniert hat, wird gar nicht in Erwägung gezogen, diesen Raum nichtkommerziell zu nutzen – das ist schon erstaunlich“, sagt Metzger enttäuscht.
Aufkleber mit Aufschriften wie „Hey, Ikea, Du wohnst hier nicht!“, die Mitglieder von protestierenden Anwohner-Initiativen in der Umgebung angebracht haben, lassen ahnen: Der freie Markt will die Räume, die ihm seine Antithese, die freie Kunst, streitig gemacht hatte, zurückerobern: Der Ikea-Konzern hat das Frappant-Gebäude erworben. Ikea will – mit tatkräftiger Unterstützung von CDU, SPD und Grünen im Bezirk und Land, die das Projekt mit allen parlamentarischen Tricks durchzusetzen versuchen – den fünfgeschossigen grauen Frappant-Betonklotz abreißen und durch einen sechsgeschossigen blau-gelben ersetzen. Die Räume der Künstler wurden bereits vergangenen Herbst gekündigt. Mitte dieses Monats muss die „Blinzelbar“ ihre Pforten schließen. Das Ende des Traums von mehr Freiheit – nicht nur für die Entfaltung neuer Klänge im Raum –; es regiert wieder allein das Mehrwertprinzip.