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Dritter Teil der Essen-Reportage: Unterricht in der Herbartschule Ende April 2006. Foto: Markus Kuchenbuch
Dritter Teil der Essen-Reportage: Unterricht in der Herbartschule Ende April 2006. Foto: Markus Kuchenbuch
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Diese Kids, die wachsen ja noch

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ReSonanz&AkzepTanz des Salzburger Mozarteums, der Essener Philharmonie und der Herbartschule
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Einmalig: Ein Essener Musikschulprojekt für Integration und gegen die geistige Verarmung. Auf drei Jahre angelegt ist das Projekt „ReSonanz &AkzepTanz“, das im September an einer Essener Grundschule begann, einem sozialen Brennpunkt in der Nordstadt: In drei Jahren wird in den acht Klassen der Ganztagsschule keine Stunde mehr vergehen, in der nicht musiziert, getanzt und gesungen wird, um das Lernen, die Integration und Gewaltprävention voranzubringen. Psychischen und physischen Defiziten der Kinder soll zumindest entgegengewirkt werden. Partner des einzigartigen Unternehmens sind das Mozarteum Salzburg, die Philharmonie Essen und die Herbartschule unter der Schirmherrschaft des NRW-Kulturratsvorsitzenden Gerhard Baum. KUNST+KULTUR begleitet das Projekt publizistisch (siehe K+K 7/8-05 und 1/2-06).

Es knirscht in den dritten Klassen der Herbartschule. Peter, russischer Herkunft, läuft zur Lehrerin Angelika Krycki und beschwert sich, die anderen hätten gesagt, mit einem Christen spielten sie nicht. Peter petzt nicht, er ist gekränkt. Peter ist körperlich ein Winzling gegenüber den anderen, und die anderen sind bis auf wenige Ausnahmen Muslime. Sie hätten ihn auch „Schweinefleischfresser“ geschimpft, behauptet Peter. Während er sie auf russisch „Esel“ nennt, was sie verstehen, denn das Schimpfwort ist dem Türkischen verwandt. Deshalb also hat Eles wieder zugelangt. Eles, dem die Lehrerin noch drei Chancen gibt – „Eles, du musst dich zusammenreißen!“ –, bevor er umgemeldet werden soll auf eine Sonderschule. Seine junge Mutter bettelt, eine Mutter dreier türkischer Kinder, aber sie habe nach zwei Terminen Eles‘ psychologische Behandlung abgebrochen, bedauert die Lehrerin.

Seit Ostern herrsche dieses Gepöbel unter den Jungen, seufzt Angelika K., viele Jungen hätten die Ferien in der Moschee verbracht. Das Thema wäre virulent, ergänzt eine Kollegin später im Lehrerzimmer: Sie sei schon gefragt worden, ob sie an Jesus als Gottes Sohn oder an einen Propheten glaube, und ein Kind behauptete ernsthaft, dass sie als Christin nicht in den Himmel käme. Verdutzt habe sie einen Moment lang nicht gewusst, in welcher Weise sie darauf reagieren sollte: wie auf einen Witz, lachend, oder erklärend.

Das ist die Welt von Essen-Katernberg. Eine deutsche Welt. Eine Schule mit 85 bis 90 Prozent Kindern fremder Abstammung, mit oft mangelnder Sprachfähigkeit und nicht entwickeltem Konzentrationsvermögen, aufgewachsen in einem Teufelskreis sozialer Verwahrlosung, dem sich die Lehrer der Herbartschule seit Jahren im Teamteaching bewundernswert wie die Sisyphuse entgegenstemmen. Eine deutsche Welt, in der sich vieles verkehrt hat. Es knirscht aber auch aus anderen Gründen im Projekt „Re-Sonanz&AkzepTanz“ des Salzburger Mozarteums und der Essener Philharmonie mit der Herbartschule: Noch ist es fraglich, ob die Aufführung eines Stücks zweimal so über die Bühne der Philharmonie gehen wird, wie es die Lehrer aus Salzburg und Essen für den 26. Mai geplant haben. Es scheint, als hätten sie sich zuviel vorgenommen, denn es hapert an der methodischen und didaktischen Umsetzung des großen Plans.

Es hapert keinesfalls an gegenseitiger Begeisterung, an Zuneigung und gutem Willen: Seit der Philharmonie-Intendant Michael Kaufmann im Herbst die Kinder ins Konzerthaus eingeladen hat, seit die Künstler in der nagelneuen Turnhalle vor den begeisterten Familien „Hänsel und Gretel“ aufführten, sind die Philharmonisten und die Kinder dicke Freunde, und Michael Kaufmann wird jedes Mal stürmisch begrüßt.

Ein überwältigendes Glück flutet ebenso den Salzburger Studenten und den Professoren Klaus Feßmann und Thomas Heuer entgegen, seit sie erstmals im Herbst und inzwischen sogar für mehrtägige Unterrichtsphasen in die Herbartschule kommen. Doch wie die Kinder sind auch die Studenten Lernende. Über elementare methodische Grundkenntnisse verfügen sie offensichtlich nicht. Was sie mit den Kindern erarbeiten wollen, ist methodisch-didaktisch ungenügend durchgeplant. Die Klassenlehrerinnen Barbara Wahl und Angelika Krycki werden beim Zugucken zunehmend kribbelig. Doch ihre Ratschläge sind nicht erwünscht, ausgewertet werden die Stunden nicht mit ihnen. So kommt es dauernd zu Überforderungen auf beiden Seiten, zu Rangeleien, zum Ausstieg ganzer Schülergruppen aus dem Unterricht, bis hin zum pädagogischen GAU, wenn sich die Kinder überhaupt nicht mehr lenken lassen. Diese Einbrüche gehen aufs Soll des Ausbildungskontos vom Mozarteum, das die Vorbereitung von Studenten auf die Praxis mit diesem Projekt ja gerade verbessern will. Die Praxis aber ist kein Laborversuch. Die Praxis in Essen-Katernberg ist eine extrem konfliktgeladene Wirklichkeit.

Um diese Wirklichkeit sozialer und multikultureller Spannungen zu überbrücken, haben die Salzburger die schöne Sprache „Proto-Indo-European“ in den Klassen 3a und 3b wiederbelebt. Proto-Indo-European soll nach einer ernsthaften Theorie eine gesamteuropäische Urgrundsprache gewesen sein, aus der sich die Sprachen all unserer Nachbarn abgeleitet haben. „Gunibagu“ ist so ein Wort aus dieser Sprache: klingt schön, es klingt lautmalerisch nach einem abstrakten Gemälde, von dem niemand weiß, was es bedeutet. Vielleicht: Spiel mit mir? Spiel mit mir: Die Kinder üben paar-weise lautmalerische Dialoge mit diesem Wort, die sie anschließend vorführen.

Aber der schöne Klang von „Gunibagu“ ist nur eine Facette des „Proto-Indo-European“: Besonders die Jungen brüllen die Silben zu, verbunden mit kämpferischen Posen und Handgreiflichkeiten. Patricia Galob, eine Studentin, und der Mentor Markus Kuchenbuch vom Mozarteum versuchen zu steuern: „Spiel mit mir!“ – was das denn wohl auf Türkisch, Tamilisch oder Libanesisch heißt? Aufeinander hören: Drei Kinder sprechen es in ihren Sprachen den anderen vor, eins selbstbewusst, die beiden anderen ängstlich, auch erst nach vielen Bitten.

Oussan spricht nicht. Niemand in der Schule hat Oussan je sprechen gehört – nur einmal ein kleines bisschen, ein „A“, sagt seine Lehrerin Barbara Wahl. Zu Hause soll er angeblich reden, doch zu Hause muss irgendetwas geschehen sein, dass Oussan in der Schule nicht spricht. Er ist ein kleiner Kerl, federleicht, so wie ihn Markus trotz seiner Gegenwehr auf den Arm nimmt.

Auf den Arm, um ihn von den anderen wegzutragen, damit er abseits mit einem anderen Kind das Wort „Gunibagu“ mit Klanghölzern buchstabiert. Oussan ist aufmerksam, Oussan ist freundlich, Oussan schert nie aus, er spricht nur nicht. Was tun? Auch ein Kind für den Psychologen.

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