Die Musikpädagogik wird momentan wie keine andere pädagogische Disziplin dazu benutzt, gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu reparieren und auszugleichen. Diese Instrumentalisierung ist nicht neu und hat sich immer wieder vor allem in den beiden Fragen „Erziehung zur Musik?“ oder „Erziehung durch Musik?“ niedergeschlagen, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gewichtet wurden.
Der derzeitige Bildungsauftrag für die musikalische Bildung tendiert momentan wieder zur „Erziehung durch Musik“. Sowohl schulischer als auch außerschulischer Musikunterricht soll zur Persönlichkeitsbildung und Chancengerechtigkeit beitragen. Dies ist nicht neu, neu sind die aktuellen Unterrichtsmodelle, die als geeignet zur Erfüllung dieses Zieles betrachtet werden: JeKi, JeKiss, Klassenmusizieren und andere Unterrichtsformen in Großgruppen an allgemein bildenden Schulen. Diese Modelle drohen nach und nach die Unterrichtsformen zu verdrängen, die bisher für die Herstellung von Persönlichkeitsbildung und Chancengerechtigkeit geeignet schienen, und die, wenn man die Rahmenbedingungen dafür schaffen würde, sich ebenfalls an allgemein bildenden Schulen durchführen ließen: Einzel-, Partner- und Kleingruppenunterricht sowie zusätzliche Ensemble- und Orchesterangebote.
Hört man sich bei Musikschullehrern, Privatmusikerziehern, Schulmusikern, Professoren und Dozenten um, ist die musikpädagogische Welt keineswegs heil. Während bewährte Unterrichtsformen mehr und mehr ausgehöhlt werden und Teile der musikpädagogischen Bildungslandschaft (z.B. der schulische Musikunterricht) untergehen, während sich die materielle und soziale Situation von Musikpädagogen durch die Einsparungsmaßnahmen der Politik von Jahr zu Jahr verschlechtert, widmet man sich in musikpädagogischen Veröffentlichungen fast ausschließlich speziellen Fach- oder Forschungsproblemen. Musikpolitische Probleme werden hingegen nur selten thematisiert.
Sind also Musikpädagogen unpolitisch denkende Menschen, die nur für die Kunst leben? Haben sie keine kritischen Gedanken über die Bildungslandschaft? Folgen sie strategischen Überlegungen wie der, ihren Beruf/ihre Karriere nicht durch unliebsame Worte der Politik gegenüber gefährden zu wollen, weil man die Hand, die einen füttert, nicht beißt? Trifft der vom ehemaligen Vorsitzenden der IG Medien, Detlef Hensche, geprägte Begriff einer „gehorsamsstarren Gesellschaft“ zu?
Betrachtet man die Leidensfähigkeit vieler Musikpädagogen, so könnte man durchaus zu diesem Schluss kommen. Jedes neue Projekt, sämtliche pädagogisch fragwürdigen Unterrichtsformen und -konzepte werden von ihnen ausgeführt – ohne echten Widerstand. Begründet wird dies oft damit, man müsse doch „etwas für die armen Kinder tun“. Auch Existenznot und Angst vor dem Verlust der (auch noch so schlecht bezahlten) Arbeit werden als Gründe genannt. Musikpädagogische Vorstellungen und Ideale müssen aus materieller Not über Bord geworfen und immer noch schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptiert werden, weil dies scheinbar die einzige Chance ist, seinen Lebensunterhalt als Musikpädagoge überhaupt noch bestreiten zu können. Die Politik verlangt ausgerechnet von denen, die sie zunehmend in prekäre Beschäftigungsverhältnisse schickt, dass sie in Projekten wie „JeKi“ die Bildungschancen jener Kinder erhöht, die ebenfalls in prekären Verhältnissen leben – eine absurde Forderung, die bisher öffentlich nicht thematisiert wird. Die Frage ist nur: Wann ist man als Musikpädagoge ganz unten angekommen, und was passiert danach? Bereits jetzt gibt es Honorarkräfte, die mehr als 50 Stunden/Woche arbeiten, um ihre Familie ernähren zu können und die dabei das Gefühl haben, keine pädagogisch befriedigende Arbeit mehr verrichten zu können. Die Fachverbände äußern sich zu den sozialen und materiellen Problemen der Musikpädagogen und zu Problemen in musikpädagogischen Projekten ebenfalls nur selten kritisch. Neue Projekte werden grundsätzlich und bar jeder inhaltlichen Kritik befürwortet, mögliche Alternativen nicht aufgezeigt und über die Arbeitsbedingungen in den Projekten meist geschwiegen. Auch von den Ausbildern der Musikpädagogen hört man kaum kritische Töne. H.-G. Bastian stellte bereits 1998 die nachdenkliche Frage, was eigentlich mit der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen ausschließlich in Fachzeitschriften bisher erreicht worden sei, und ob es nicht auch Aufgaben der musikpädagogischen Forscherinnen und Forscher sei, musikpolitisch mehr zu bewegen: „Haben unsere Studien zur Lösung musiksozialer und musikunterrichtlicher Probleme etwas beigetragen?“ (Forschung in der Musikpädagogik, S. 225. In: Pfeffer, M. u.a.(1998), Augsburg: Wissner) Weiter heißt es: „Haben wir Kontakte geknüpft zu den Informationsmonopolen Rundfunk und Fernsehen? Haben wir in DER SPIEGEL, in DIE ZEIT, ja auch in ELTERN, in DAS BESTE, in Tageszeitungen oder Wochenendjournalen publiziert? … Haben wir übersehen, dass ein Artikel in einer renommierten Tageszeitung (bildungs-)politisch mehr anzünden kann als Fortsetzungsromane in Fachzeitschriften, die selbst unsere Lehrer kaum lesen wollen oder können?“
Zehn Jahre danach zeichnet sich keine Änderung ab. Dabei täte eine Einmischung der musikpädagogischen scientific community mehr denn je Not. So würde beispielsweise eine rechtzeitige Aufklärung von Musikstudierenden (abgesehen von Lehramtsstudierenden) über die Realität des Arbeitsmarktes und der dort herrschenden Rahmenbedingungen eventuell auch verhindern, dass viele Hochschulabsolventen statt Aufklärung ein böses Erwachen erleben, wenn sie in der Realität dieses Marktes ankommen und merken, dass man von Idealismus nicht leben kann.
Am unteren Ende der bildungspolitischen Hierarchie stehen die Musikpädagogen, die kaum noch eigenständige pädagogische Entscheidungen treffen (können) und sich stattdessen mittlerweile ausschließlich ökonomischen Kriterien zu beugen haben. Ein Bildungsauftrag lässt sich jedoch nur dann erfolgreich umsetzen, wenn er in Übereinkunft mit allen Betroffenen formuliert wird.
Politisches Denken ist notwendig, weil der Widerspruch zwischen der in der Bildungspolitik scheinbar so hoch angesiedelten musikalischen Bildung und der sozialen Realität derjenigen, die den Bildungsauftrag ausführen, nicht aufgehoben ist: Noch nie war die Zahl der fest angestellten Musikschullehrkräfte so niedrig und die Zahl der sozial völlig ungesicherten, hoch qualifizierten Honorarkräfte so hoch. Noch nie waren so wenige Musikschullehrer vollzeitbeschäftigt und die Zahl der unfreiwillig Teilzeit arbeitenden Musikpädagogen so hoch (VdM-Statistik 2009). Selten wird auch zur immer umfangreicheren Tätigkeit von Musikschullehrern an allgemein bildenden Schulen und zur ungleichen Bezahlung von Schulmusikern und Musikschullehrern Stellung genommen.
Niemand wird „stellvertretend“ für uns unsere Probleme lösen. Dass die Unzufriedenheit mit den derzeitigen Zuständen groß ist, zeigen die vielen Einträge von Musikpädagogen in den verschiedenen Internetforen. Jetzt bedarf es der Solidarität und Organisation derjenigen, die etwas verändern wollen. Es genügt nicht mehr, Verbesserungen nur zu wollen und über sie zu diskutieren. Wir alle müssen aktiv und nach außen wahrnehmbar für unsere sozialen und pädagogischen Überzeugungen kämpfen. Dabei neigen wir Musikpädagogen viel zu oft zum Einzelkämpfertum statt zur Bündelung unserer Kräfte im Kollegium und in politischen Organisationen wie zum Beispiel der Gewerkschaft. Wir suchen uns viel zu selten Verbündete. Wir neigen auch zur Selbstausbeutung zugunsten unseres pädagogischen Auftrages. Würde nur noch „Dienst nach Vorschrift“ gemacht, gäbe es mit Sicherheit weniger Teilnehmer bei „Jugend musiziert“, weniger öffentliche Auftritte von Ensembles an Musikschulen, weniger Orchesterlager. Sehr engagiert sind wir im Allgemeinen auch beim Belegen fachspezifischer Fortbildungsseminare; oft bezahlen wir sie aus eigener Tasche und absolvieren sie außerhalb unserer Arbeitszeit. Ist es möglicherweise an der Zeit, sich eher mit der Frage zu befassen, wie man seine Arbeitsbedingungen verbessern kann, statt sich allein mit der Frage nach der perfektesten Atemtechnik oder der optimalen Bogenhaltung zu beschäftigen?
Solange die Arbeit an den Musikschulen durch unsere Selbstausbeutung nach außen hin so gut funktioniert, solange an Hochschulen nicht über die prekären Berufsaussichten der Studierenden geredet wird, kurzum: solange kein politisches Denken Einzug in die Musikpädagogik hält, hat die Politik nicht den geringsten Anlass, sich zu bewegen. Es sei denn, wir Musikpädagogen sind künftig sehr viel präsenter in der Öffentlichkeit und lassen nicht locker, bis die Entscheidungsträger nicht umhin können, unsere Forderungen ernst zu nehmen. Oder stellt Euch vor, es ist JeKi, und keiner geht hin.