Digitalisierung ist in Deutschland schon länger ein durchaus kontrovers diskutiertes Thema. Aber nach gut zwei Jahren Pandemie müssen wohl auch die hartnäckigsten Zweifler einsehen, dass kein Weg mehr daran vorbeiführen wird. Es wird über die nötige Hardware und Infrastruktur gesprochen, um Bandbreiten gestritten und allerorts sprießen einschlägige Projekte wie Pilze aus dem Boden.
Jeder spricht von Digitalisierung. Nur verstehen wir alle darunter auch das Gleiche? Und welche Auswirkungen hat die Digitalisierung in beziehungsweise von musikalischer Bildung?
In gewisser Weise ist die Musik ja eine Vorreiterin der Digitalisierung. Seit 1983 wird Musik auf CDs vertrieben, seit den frühen 90ern hat das computergestützte Digital Recording Einzug in die Aufnahmestudios gehalten und im selben Zeitraum wurden die ersten mp3-Player auf den Markt gebracht. Die digitale Verbreitung von Musik ist seitdem auf breiter Front vorangeschritten, die Möglichkeiten dafür mittlerweile vielfältig und allgegenwärtig.
Ganz anders jedoch stellt sich die Situation im Bereich der musikalischen Bildung dar. Seit März 2020 wurde pandemiebedingt auch an den Musikschulen immer wieder Präsenzunterricht eingeschränkt beziehungsweise ganz untersagt. Erst dieser „Impuls“ war auch für diesen Bereich der Startschuss des „Experimentes“ Online-Unterricht im großen Stil.
Und siehe da: es hat im Großen und Ganzen funktioniert … zumindest irgendwie. Wie so oft in den letzten zweiJahren zeigten sich unter der Belastung bereits bestehende Stärken, aber auch Schwächen und Probleme vieler Systeme wie in einem Brennglas überdeutlich. Das gilt auch und gerade für das öffentliche Musikschulsystem in Deutschland. Getragen vom privaten Engagement der Musikschullehrer*innen wurden in kürzester Zeit je nach vorhandener privater Ausstattung, eigenen Kenntnissen und Erfahrungen Alternativen zum Präsenz-Unterricht entwickelt. Dabei spielten, der Kurzfristigkeit geschuldet, zunächst qualitative Aspekte eine eher untergeordnete Rolle. Vom Austauschen von Textnachrichten per SMS, Audio- oder Videodateien via MMS, Messenger-Dienste oder Mail, über Unterricht per Telefon bis hin zum Video-Unterricht über verschiedenste Apps und Dienste – jedes Mittel war zunächst recht, um einerseits den pädagogischen „Schaden“ zu minimieren, um den Kontakt zu den eigenen Schüler*innen nicht abreißen zu lassen und/oder auch befürchtete Verdienstausfälle zu vermeiden.
Respekt für die gezeigte Kreativität
Im Laufe der Zeit wurde dann versucht, die technischen Mittel zu „optimieren“ und auch die pädagogischen Wege anzupassen. In der Zwischenzeit ist der Videounterricht mittels Videokonferenz-Plattformen das Mittel der Wahl im Falle des Falles. Eine große Zahl der Musikschulträger hat diese Form des Unterrichts sogar in die Satzung ihrer Musikschulen aufgenommen und es gibt bereits Überlegungen, diese Unterrichtsform zum festen Bestandteil des Angebotes zu machen. Also alles schick!?
Ja und Nein. Im Rahmen der Reaktion auf ein plötzlich eintretendes Ereignis nötigt mir diese Entwicklung allerhöchsten Respekt ab. Respekt für das Engagement der Kolleg*innen, wie auch für unsere Schüler*innen, die sich ebenso schnell auf die neue Situation und die veränderten Bedingungen eingestellt haben. Respekt für die gezeigte Kreativität in der Notsituation und den Willen, das Beste aus der Situation zu machen und in diesem Sinne auch neue Wege zu gehen. Respekt dafür, im Hinblick auf die Dringlichkeit nicht erst auf Rechtssicherheit zu warten oder auf die Einhaltung eigener Rechte zu pochen. Und ja, für einen Teil unserer Schüler*innen waren diese Bemühungen eine echte Alternative oder auch ein Anker in bewegten Zeiten.
Andererseits sind aber auch Grenzen deutlich geworden: noch immer müssen fast ausschließlich private Endgeräte und Infrastruktur zum Einsatz kommen und noch immer können digitale Angebote der Musikschulen nicht alle Schüler*innen erreichen: sei es, dass diesen nicht die nötige technische Ausstattung zur Verfügung steht, sei es, dass das simultane Live-Musizieren nötig wäre, sei es, dass angepasste Konzepte für bestimmte Unterrichtsformen und Musizierformen (auch gerade in der Ensemblearbeit) noch fehlen oder erst entwickelt werden. Und zu sehr liegt aktuell der Fokus der Überlegungen nur auf der Frage der digitalen Kommunikation als Alternative zum „analogen“ Unterricht. Jenseits der fachlichen Frage, inwieweit „Video-Unterricht“ wirklich eine fachlich zumindest gleichwertige Alternative sein kann, birgt der Einsatz digitaler Möglichkeiten aber darüber hinaus noch bedeutend größeres Potential. Beispielhaft seien an dieser Stelle nur die (organisatorische) Kommunikation mit den Schüler*innen und den Eltern, die digitale Schülerverwaltung mit Schnittstellen zu Schüler*innen, Kolleg*innen, Verwaltung und Musikschulleitung, digitale Bibliotheken für Unterrichtsliteratur und -material und der Einsatz von digitalen Medien oder Angeboten im Präsenz-Unterricht genannt.
Neue Kenntnisse und Fertigkeiten sind gefordert
Digitalisierung bedeutet aber nicht nur Erweiterung von Möglichkeiten. Digitalisierung verändert Arbeitsabläufe, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten aller Beteiligten. Digitalisierung braucht nicht nur digitale Infrastruktur in Form von Internetzugängen, Software und (mobiler) Hardware. Digitalisierung erfordert ebenso neue Fähigkeiten und Kompetenzen bei allen Beteiligten. Das betrifft sowohl die Lehrenden, wie auch die Lernenden (egal welchen Alters), die Eltern wie auch die Kolleg*innen der Musikschulverwaltungen und IT-Abteilungen. Digitalisierung könnte zudem die Sicht auf rechtliche Aspekte der Lehrtätigkeit verändern, könnte helfen, bestehende Probleme zu lösen. Sie wirft jedoch gleichzeitig auch neue auf.
Während datenschutzrechtliche und IT-sicherheitsbezogene Fragen durchaus zunehmend an Bedeutung in den Überlegungen gewinnen, spielen andere Aspekte und Auswirkungen der Digitalisierung noch eine eher untergeordnete Rolle.
Stichwort Teilhabe: So vergleichsweise erfolgreich das Online-Angebot der Musikschulen gerade in Anbetracht der Rahmenbedingungen während der Pandemie auch war, es gehört ebenso zur Wahrheit, dass bei weitem nicht alle Schüler*innen damit erreicht werden konnten, was übrigens sogar auch für den Kernbereich der Musikschularbeit zutrifft. Dabei waren die Probleme nicht nur in mangelnder technischer Ausstattung oder fehlender Bereitschaft zu suchen. Gerade Angebote, die sich an mehrere Schüler*innen richten (vom Partnerunterricht, über Ensemblearbeit bis hin zu den Musikalisierungsprojekten in Kooperation mit allgemeinbildenden Schulen oder Kitas), waren kaum bis gar nicht digital zu realisieren. Bei jeder Überlegung zum Thema Digitalisierung der Musikschulen muss das bedacht werden. Es gilt, sowohl diesbezügliche Alternativen zu erhalten oder zu entwickeln und auch abzuschätzen, welche Auswirkungen das gleichzeitige Angebot von digitalen und „analogen“ Methoden, Inhalten und Kommunikationswegen hat.
Ein weiteres, noch nicht sehr präsentes Problemfeld ist die arbeitsrechtliche Dimension von Digitalisierung an Musikschulen, zum Beispiel bezüglich Arbeitszeit. Mit jedem zu vollziehenden Schritt der „amtlichen“ Digitalisierung werden bei den Musikschullehrer*innen zunehmend Teile des bisherigen, bis dato gerne ignorierten „Grau-Bereichs“ zwischen dienstlich und privat zur eindeutig dienstlichen Angelegenheit. Dies hat rechtliche Auswirkungen zum Beispiel auf die Betrachtung und Bewertung der Arbeitszeit. Durch die Verwendung dienstlicher Hard- und/oder Software wird deren Benutzung zur nachweisbaren Arbeitszeit im Hinblick auf den Umfang, wie auch der zeitlichen Lage und unterliegt damit nicht mehr automatisch der Zeitsouveränität der Beschäftigten (Vertrauensarbeitszeit). Das hat wiederum verschiedene weitere Konsequenzen: Es steht damit unter Umständen eine erhebliche Ausweitung des Direktionsrechts im Raum. Es bedarf daher möglichst einvernehmlicher Regelungen zumindest auf betrieblicher, wenn nicht auf tariflicher Ebene, wann und in welchem Umfang solche dienstlichen Aufgaben erbracht werden müssen, sollen oder dürfen. Besonders sensibel ist hier der Teil „Kommunikation“: In welchem zeitlichen Rahmen müssen Musikschullehrer*innen für die Vorgesetzten, Kolleg*innen und oder Schüler*innen erreichbar sein? Ohne entsprechende Absprachen oder Regelungen würden die einschlägigen Vorschriften zur Nacht-, Wochenend- und Feiertagsarbeit, aber auch die Vorgaben zum Beispiel für Ruhezeiten greifen. Nachfolgend muss der gesamte Bereich der „sonstigen Tätigkeiten“ quantifizierend beleuchtet werden, was zudem Auswirkungen auf die Behandlung des „Ferienüberhangs“ hat. Andererseits könnten digitale Werkzeuge gerade auch in dieser Frage helfen, die Anforderungen des EU-Rechts in Bezug auf die ausnahmslose und vollumfängliche Erfassung der Arbeitszeit von Arbeitnehmer*innen im Sinne des Gesundheitsschutzes auch an Musikschulen zu realisieren.
Eine strukturelle Einführung der Digitalisierung an den Musikschulen hat also viele, teils sehr weitreichende Auswirkungen auf alle Beteiligten und erfordert daher gut durchdachte und richtungsweisende Konzepte. Es ist an der Zeit zu überlegen, wie die Möglichkeiten sinnvoll eingesetzt werden können und wie die Rahmenbedingungen dafür gestaltet werden müssen, damit diese Entwicklung wirklich nutzbringend und nachhaltig sein kann.
Denn unabhängig von digitalen Wegen und Methoden, unabhängig von allen technischen oder auch rechtlichen Fragen beschäftigt sich gerade musikalische Bildung eben doch mit höchst „analogen“ Objekten: mit Musik und vor allem mit Menschen. Digitalisierung darf daher kein Selbstzweck sein oder primär der betriebswirtschaftlichen „Optimierung“ dienen, sondern muss als nutzbringendes und hilfreiches Werkzeug in der Sache eingesetzt werden. Digitalisierung kann unterstützen und Möglichkeiten erweitern, jedoch nur selten und nur in Teilen die Arbeit mit und an Menschen ersetzen.
Eine digitale Zeitenwende bahnt sich an
Es bahnt sich also auch an Deutschlands Musikschulen die digitale „Zeitenwende“ an. So offensichtlich nun der Zeitpunkt für diesen Schritt gekommen ist, so wichtig ist es auch, dass alle Beteiligten sich jetzt in den Entwicklungsprozess der Digitalisierung an den Musikschulen einbringen. Genauso wichtig ist es, dass alle diese Beteiligten von den Verantwortlichen diese Möglichkeit auch bekommen. Die vergangenen gut zwei Jahre haben gerade uns Pädagog*innen einen diesbezüglich enorm großen und vielfältigen Erfahrungsschatz eingebracht. Dieser sollte uns ermutigen, diesen Prozess nicht nur zu begleiten, sondern maßgeblich mitzugestalten. Musiker*innen und Pädagog*innen der Fachgruppe Musik in ver.di sind hier schon länger aktiv, sowohl vor Ort in den Musikschulen, wie auch zusammen mit unseren Kolleg*innen in ganz ver.di im politischen Raum.
Noch ist nicht wirklich absehbar, wohin genau uns diese Entwicklung bringt, wie weitreichend oder wie dynamisch sie sein wird. Wir dürfen uns aber nicht die Gelegenheit nehmen, sie mitzugestalten. Die Digitalisierung wird alle Bereiche und Aspekte der Musikschularbeit auf vielfältige Art und Weise verändern. Vielleicht teilweise sogar so weitreichend, dass komplett neu gedacht werden muss.
Es geht also um nicht weniger als die Gestaltung unseres zukünftigen Berufsbildes. Der Prozess der Digitalisierung betrifft jede Musikschullehrerin und jeden Musikschullehrer. Ich sehe hier eine Chance für uns, gemeinsam etwas Gutes auf den Weg zu bringen.