Wenn sich Veränderungen über sehr lange Zeiträume vollziehen, sind sie zuweilen schwer zu erkennen und zu fassen. Das gilt auch und gerade für solche, die nicht durch ein akutes Ereignis ausgelöst werden. Problematisch dabei ist, dass es mit zunehmender Zeit immer schwieriger ist, entstehenden negativen Auswirkungen wirksame Maßnahmen entgegenzusetzen. Ein sehr gutes Beispiel für solche Prozesse ist der Klimawandel, ein weiteres der Fachkräftemangel in Deutschland.
Seit Jahren beklagt die Wirtschaft das Fehlen von qualifizierten Arbeitskräften. Auch Schulleiter-*innen haben immer größere Probleme, den Unterricht für unsere Kinder vollumfänglich abzusichern. Und auch an den Musikschulen ist der Mangel nicht mehr zu übersehen. Im großen Maßstab mag sicherlich die demografische Entwicklung unserer Gesellschaft als eine mögliche Erklärung dafür taugen. Bei einer – notwendigen! – , einer berufspolitischen Betrachtung ist das aber weniger wahrscheinlich. Je spezialisierter eine Tätigkeit und je kleiner eine Berufsgruppe ist, umso wichtiger wird ein anderer Aspekt: die Attraktivität der Tätigkeit. Diese definiert sich in unterschiedlichen Berufsgruppen in unterschiedlichen Aspekten und Wichtungen.
Viele Berufe leben von „Überzeugungstäter*innen“, wie zum Beispiel im sozialen, pädagogischen und auch künstlerischen Bereich. Nicht das Erzielen eines möglichst hohen Einkommens oder umfängliche soziale Absicherung ist oberstes Ziel bei der Berufswahl, sondern viel eher die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Tätigkeit oder auch das Streben nach Selbstverwirklichung. Ganz häufig werden solche Berufe als Berufung empfunden.
Speziell im musikalischen Bereich kommt hinzu, dass hier die Weichen einer entsprechenden Berufswahl üblicherweise bereits sehr früh gelegt worden sind. Eine einschlägige „Ausbildungszeit“ von 10 Jahren noch vor der Aufnahme eines entsprechenden Studiums sind keine Seltenheit. Menschen haben also sehr viel investiert – in sehr spezielle Fähigkeiten.
Aus dieser Perspektive heraus scheint es logisch, dass eine gewisse Leidensfähigkeit wohl auch zu solchen Berufen gehört. Allerdings scheint auch die nicht grenzenlos zu sein. Gerade im sozialen Bereich ist der Unmut der Beschäftigten schon vor der Pandemie sichtbar geworden. Und es geht nicht nur ums Geld, sondern immer wieder und gerade auch um die Arbeitsbedingungen. Die zentralen Themen hier sind Überlastung durch zu wenig Personal und die dadurch entstehende Angst, auch den eigenen Qualitätsansprüchen nicht mehr gerecht werden zu können. Während hier von im Beruf Stehenden ganz individuell entschieden wird, wie weit die eigene Leidensfähigkeit geht, stellt sich zeitgleich immer häufiger die Frage, ob man einen solchen beruflichen Weg überhaupt noch empfehlen kann. Aus dem bloßen Fachkräftemangel wird, und das ist in Anbetracht der Langfristigkeit der Entwicklungsprozesse in der Musik die bedeutend größere Katastrophe, ein Nachwuchsmangel.
Qualität und Tarifvertrag
Genau diese Qualitätsansprüche an sich selbst sind es aber, die für ein hohes Engagement sorgen und damit junge Menschen für Berufe begeistern können. Das gilt umso mehr, wenn es um so langjährige und individuelle Zusammenarbeit und Beziehungen geht, wie sie in der musikalischen Bildung üblich und nötig sind. Fragt man Musiker*innen und Instrumental- bzw. Gesangspädagog*innen danach, wie sie zu Ihrem Berufswunsch gekommen sind, wird man ganz häufig zwei Dinge hören: die Liebe zur Musik und das Vorbild des/der eigenen Lehrer*in. Ganz entscheidend dabei ist, dass dieses Vorbild in der Phase der Berufsorientierung eine positive Perspektive für den eigenen Beruf aufzeigen kann.
Diese hochsensible Art der „Rekrutierung“ trifft auf sich verändernde Lebens- und Arbeitsrealitäten, einen grundgesetzlich geschützten Aushandlungsprozess von Arbeitsbedingungen und den Arbeitsmarkt.
Die Theorie des Artikel 9 unseres Grundgesetzes ist im Grunde ebenso einfach wie richtig. Um der ungleichen Machtposition in Vertragsbeziehungen, die von (wirtschaftlichen) Abhängigkeiten geprägt sind, etwas entgegenzusetzen, ist es grundgesetzliches Recht abhängig Beschäftigter, „… zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen …“ Vereinigungen zu bilden. Eben dieses Recht nehmen hierzulande die Gewerkschaften war. Die Idee dabei: eine ausreichend große Zahl solidarisch organisierte Arbeitnehmer*innen ist in Verhandlungen mit Arbeitgebern ausreichend verhandlungsmächtig, um Einigungen auf Augenhöhe erzielen zu können. Regelmäßiger Ausdruck dieses Prozesses sind Tarifverträge.
Der Aufstieg des „Sub“
Aber die Funktionalität dieses über eine lange Zeit gut funktionierenden Systems ist nicht selbstverständlich. Es wird immer schwieriger, Abschlüsse im Interesse aller Beteiligten, die auch allen zugutekommen, zu erzielen. Die Machtverhältnisse verschieben sich sukzessiv. Arbeitnehmer*innen werden zunehmend vereinzelt, arbeitsrechtliche „Tricks“ erlauben die außertarifliche Beschäftigung. Teile der Beschäftigten werden, trotz im Wesentlichen gleicher Arbeit, zu selbständigen Unternehmer*innen und verlieren damit ihren arbeitsrechtlichen Schutz. Und während die einen ihre Erfolge feiern, geht der Blick für das Wichtigste dieses Aushandlungsprozesses immer mehr verloren. Im Grunde geht es doch nicht um einen Kampf gegeneinander. Es geht nicht um das „Gewinnen“, sondern um Konsens auch in der Arbeitswelt zum Nutzen der ganzen Gesellschaft.
Auch die öffentlichen Arbeitgeber scheinen hier vor Kurzsichtigkeit nicht gefeit zu sein. Im Bestreben, möglichst effizient und vor allem kostengünstig zu sein, sind auch im öffentlichen Dienst im Laufe der Zeit allerlei Ideen entstanden, die dieses Ziel vortrefflich helfen zu erreichen. Mit Blick auf die kommunal getragenen Musikschulen waren dies insbesondere die Umsetzung des sogenannten Ferienüberhangs, kein Ausgleich für enorm in Qualität und Quantität gestiegene Herausforderungen des Arbeitsalltages, finanzielle Nichtanerkennung der in der Zwischenzeit von den meisten Arbeitgebern vorausgesetzten wissenschaftlichen Hochschulbildung aber vor allem die Auslagerung der Arbeit an vermeintlich selbständige (Sub-?) Unternehmer.
Gerade letztgesagtes „Modell“ beinhaltet enormes „Sparpotential“. Den Trägern entstehen nur im Verhältnis geringste Kosten für die Sozialversicherung oder bezahlten Urlaub, es gibt keine Schwierigkeiten beim Mutterschutz und für die Soloselbstständigen gilt selbstverständlich auch (noch) kein Tarifvertrag. Je nach Auftragslage können sie flexibel beauftragt werden – Verantwortung für Erwerbsbiographien und Lebensumstände muss nicht übernommen werden.
Diese Missstände sind seit Jahrzehnten bekannt. Die Fachgruppe Musik in ver.di legt den Finger immer wieder in die Wunde. Selbst der Fachverband der Träger öffentlicher Musikschulen weist immer deutlicher auf die Problematik hin. Die Kritik und die Warnungen indes verhallen aber scheinbar ungehört im Rattern des Alltags, der Herrschaft des Haushalts und der „Marktmacht“ der kommunalen Träger. „Es funktioniert doch …“ heißt es mit Blick auf die vergangenen 30 Jahre.
Kampf ums Fachpersonal
Nein, es funktioniert eben nicht mehr. Musikschulleiter*innen kämpfen mittlerweile zunehmend um qualifiziertes Fachpersonal. Die „Konkurrenz“ der allgemeinbildenden Schulen, die das Fachpersonal liebend gern als „Seiteneinsteiger“ zu erheblich besseren Konditionen binden möchte, ist da auch nicht hilfreich. Es scheint für die jungen Musiker*innen und Musikpädagog*innen immer weniger attraktiv zu sein, unter solchen Bedingungen ein (Familien-) Leben aufzubauen. Je weniger „Personal“ zur Verfügung steht, umso lauter wird der Schrei nach Nachwuchs. Und da schließt sich der Kreis. Wer bitte schön soll denn den jungen Menschen das Lied von der rosigen Zukunft als Musikschullehrer*in oder Pädagog*in singen? Die notgedrungen „frei“ Mitarbeitenden, die selbst nicht selten um ihre Existenz kämpfen oder vielleicht die glücklichen Angestellten, die zwar nicht so sehr wirtschaftlich, aber in Anbetracht der gestiegenen zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen ebenso kämpfen müssen? Wohl eher nicht.
Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als es fast nichts Schöneres und zu Erstrebenderes gab, als eigene Schüler*innen mit entsprechendem Potential und Können auf ihren Weg zu einem musikalischen oder musikpädagogischen Studium helfend zu begleiten. Es war die Krönung der eigenen Arbeit. Aber so sehr ich meinen Beruf liebe, es ist mir mit den Jahren immer schwerer gefallen, einen solchen Weg ob der vorprogrammierten Unsicherheiten und nicht eben rosiger Zukunft guten Gewissens zu empfehlen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nur mir so geht.
Neue Balance finden
Dieses Problem ist aber noch größer, denn Musikschullehrer*innen und ihre freien Kolleg*innen bilden nicht nur ihren eigenen Nachwuchs aus. Ihre Arbeit ist die Basis für jeden musikalischen Beruf. Ob es dabei ganz naheliegend um Musiker*innen, Komponist*innen, Dirigent*innen oder eben Musikschullehrer*innen, wie auch Tonmeister*innen, Musik-kritiker*innen oder die Musiklehrer-*innen an unseren Schulen geht. So wird durch die ungebremste Entwicklung nicht nur die Zukunft des deutschen Musikschulsystems riskiert, sondern danach auch die einer ganzen Kunstsparte. So „erfolgreich“ sich viele Musikschulträger ob ihrer Kostenrechnung auch fühlen mögen: Diese Art von Erfolg steht auf tönernen Füßen. Perspektivisch wird die Rechnung aus Sicht der Erfüllung ihres Bildungsauftrages nicht mehr aufgehen. Die Balance des allseitigen Konsenses ist verlorengegangen. Wenn die Waage zu lange und immer nur in die gleiche Richtung ausschlägt, kann das eben unliebsame Konsequenzen haben. Zum Beispiel den Fachkräftemangel.
Es wird höchste Zeit, einen neuen Konsens und eine neue Balance im Sinne der Sache zu finden. Musikalische Bildung ist wie jede andere Bildung nicht primär ein Produkt. Der Konsens kann daher auch nicht nur auf einer betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analyse basieren. Der Blick muss wieder breiter und visionärer werden. Bei allen Beteiligten. Es braucht kommunale Arbeitgeber*innen, die es gemeinsam schaffen über jahrzehntealte Schatten zu springen. Es braucht viel mehr gewerkschaftlich aktive Kolleg*innen, damit auch in den vermeintlich „kleinen Bereichen“ die Perspektive der Beschäftigten und Ausführenden gehört werden. Dem immer wieder erneuerten gesellschaftlichen und politischen Bekenntnis zur kulturellen beziehungsweise musikalischen Bildung muss endlich auch entsprechendes Handeln folgen, und zwar ohne Finanzierungsvorbehalt. Den kommunalen Trägern muss die Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung auch ermöglicht werden. Solange diese Verantwortung der haushalterischen Freiwilligkeit unterliegt, ist es fast unmöglich, nachhaltig verlässliche Strukturen aufzubauen und zu halten.
Fazit
Und es braucht Ehrlichkeit. Ja, alle Aufgaben, auch die gesellschaftlichen müssen finanziert werden, und zwar auskömmlich und fair für alle Ausführenden. Auch wenn Kämmereien und Haushaltsausschüsse das zu häufig anders sehen, bedeutet das aber nicht, dass es sich dabei nur um Ausgaben handelt. Es gibt keine profitablere, sicherere und bessere gesellschaftliche Investition in die Zukunft als die in die Bildung unserer Kinder. Und die musikalische Bildung ist essenzieller Teil davon.
Ich kann nicht begreifen, warum das nicht möglich sein soll, wenn alle „Spieler“ am Tisch doch das gleiche wollen: Aktives Musizieren als Teil unserer Gesellschaft und Kultur langfristig zu erhalten.