Auf mindestens drei Jahre angelegt ist das Projekt „ReSonanz&AkzepTanz“, das im September an einer Essener Grundschule begonnen hat, einem sozialen Brennpunkt in der Nordstadt. Kurz gesagt bedeutet „ReSonanz& AkzepTanz“: In drei Jahren wird in den acht Klassen der Ganztags-Schule keine Stunde mehr vergehen, in der nicht musiziert, getanzt und gesungen wird, um das Lernen, die Integration und Gewaltprävention voranzubringen. Psychischen und physischen Defiziten der Kinder soll zumindest entgegengewirkt werden. Partner des einzigartigen Unternehmens sind das Mozarteum Salzburg, die Philharmonie Essen und die Herbartschule unter der Schirmherrschaft des NRW-Kulturratsvorsitzenden Gerhard Baum. KUNST+KULTUR begleitet das Projekt publizistisch.
Einen Hit haben sie schon, irgendwann nach dem September „stand“ dieser Rap bei allen Kindern der Herbartschule. An diesem Januar-Freitag stampft, tanzt, klatscht, skandiert und singt den Hit gerade die 3b. Spielend füllt sie damit die neue Turnhalle: „...das ist der Refrain, die Strophe machen wir! – wummwummkrachkrach“. Die 3b der Herbartschule im Essener Norden, das sind an diesem Freitag ein albanisches, ein kurdisches, zwei afghanische, zwei jugoslawische, ein polnisch-russisches Kind, die Mehrheit der 19 Kinder ist türkisch, die Lehrerin Angelika Kryckie ist Deutsche, und dann sitzt da noch Frau Priebe von der Erziehungsberatung „für schwierige Fälle“. Sie sitzt da wegen Eles. Der Junge gilt als auffällig, so, dass man sofort weiß, wen Frau Priebe warum beobachtet. Eles ist übrigens schon das zweite Kind in der 3b, für das die Behörde eingeschaltet wird. Das Alles ist Alltag an der Herbartschule. Die aber steht im Licht der Öffentlichkeit, seit Walter Wüllenweber im „Stern“ „Das wahre Elend“ von Essen-Katernberg beschrieb und den Stadtteil zur „bildungsfreien Zone“ ausrief.
Von wegen! „Wummwummkrachkrach: Das ist der Refrain, die Strophe machen wir!“: Heute führen Verena Eidenberger, Arnika Ludwig und der musikpädagogische Coach Markus Kuchenbuch in der 3b die schöne Sprache „Proto-Indo-European“ ein, schöne Wörter wie „kukluwos“ oder „espeket“. Nie gehört? Nix verstahn? Proto-Indo-European soll nach einer ernsthaften Theorie so was wie eine gesamteuropäische Urgrundsprache gewesen sein, aus der sich die Sprachen all unserer Nachbarn abgeleitet hätten. Und heute? Heute ist das umstritten, nicht jedoch für die Kinder, so auch „kukluwos“, „espeket“, „owis“ oder „esti“ – bloß weiß niemand, was das heißt. Klingt freilich gut, geflüstert, auch gebrüllt, und die Kinder der 3b erfinden zu Klang, Rhythmus und Silben Bewegungen, ja, entwickeln in drei Gruppen kleine Choreografien. Im Frühjahr soll daraus ein Stück entstanden sein, die Kinder werden es aufführen. Vielleicht in Essens Philharmonie. Um etwas zurückzugeben, um Freunden etwas zu schenken. Vielleicht können sie denen von der Philharmonie etwas zeigen für das Gastspiel in der Turnhalle vor Weihnachten, als die Philharmonie mit „Hänsel und Gretel" zu ihnen kam.
Der schwarzhaarige Eles wird zum Motor seiner Gruppe aus fünf Jungen. Angefeuert von Markus, übt und überprüft er seine Schrittfolgen, konzentriert sich aufs Synchrone – und strahlt. Strahlt wie Peter, auch so ein Auffälliger, nicht nur wegen seiner Wichtelgröße und seiner mannhaften Segelohren – Peter glüht und ringt um die Befehlsgewalt über sein rechtes und sein linkes Bein, wobei rechts und links nicht wissen, was sie tun. Das muss man jetzt schon unbedingt gesehen haben! Sogar Frau Priebe von der Erziehungsberatung sagt das.
Von wegen „bildungsfreie Zone“! Essen-Katernberg war nie so eine Zone. Hier unterstützt eine Schulbehörde viel, was Bildung fördern könnte. – Besonders an der Herbartschule.
Machen wir aber mal einen Schnitt und betrachten die Zeit, nach dem September, als die Philharmonie Essen zusammen mit Studenten und Professoren des Mozarteums Salzburg an dieser Schule ihre Arbeit begann. Fragen wir Angelika Sass-Leicht, die Direktorin: Was hat sich denn verändert seit dem „Stern“-Artikel? Angelika Sass-Leicht, so um die 40 Jahre alt, ist keine Frau großer Gesten oder spektakulärer Sprüche, was ihre zurückhaltende Aufzählung noch verstärkt: „Wir spüren im ganzen Haus, wie sich die Kinder auf die Stunden mit den Studenten und Professoren aus Salzburg freuen.“ Kürzlich rief ihr ein Junge entgegen: „Heute hat sich Schule echt gelohnt!“ Nach den Aufführungen von „Hänsel und Gretel“ hörte man treppauf-treppab die Kinder nur „Suse, liebe Suse" singen. Zwei wollen seither unbedingt Geige lernen. Ein Junge ließ sich den Weg zur Philharmonie beschreiben, um mit seinem Vater das Konzerthaus zu besuchen. „Das gibt Kraft“, sagt Frau Sass-Leicht.
Während er auf einer Bank in der Turnhalle hockt, wird Michael Kaufmann, der Philharmonie-Intendant, später hinzufügen: Da hätten zwei Jungs um Karten für eine zweite Aufführung gebettelt – zu fünft seien sie dann vor der Tür gestanden. Und noch einer, der seinen Vater mitgebracht habe, der die fünf Euro Eintritt nicht zahlen konnte. Alle durften rein, zuhören und zuschauen. „Hey, Kapitän“, rufen die Kinder der 3b in der Turnhalle in Richtung Klaus Feßmann, dem Professor aus Salzburg, wobei sie „Esti, Esti“ stampfen und tänzerische Schritte wagen, die sie aus dubiosen KungFu-Filmen in Erinnerung haben. „Hey, Geschichtenerzähler“, lachen sie Kaufmann zu.
Michael Kaufmann war erschüttert, als er die „Stern“-Reportage las. Mit seinem Freund Feßmann von der Orff-Schulmusik-Schmiede in Salzburg entwickelte er das Kattenberg-Konzept für „ReSonanz&AkzepTanz“. Um Geld locker zu machen für dieses Projekt, hat er wiederum in den Gremien der Hochkultur mächtige überzeugende Argumente geschmiedet. Das überzeugendste, das schlichteste war das von einer ungeteilten, chancengleichen Gesellschaft. Im Kleinen sieht er seine Argumente durch die 3b bestätigt: „Ist das nicht toll, wie sich hier jedes Kind im Spielerischen ausprobiert und auch wieder einfängt, wie alles mit Musik zu tun hat und nicht mit einer benoteten Prozession, sondern damit, dass sich jedes Kind qualifiziert?“
Auch Angelika Sass-Leicht war erschüttert, als sie das erste Mal die „Stern“-Reportage las, aber aus ganz anderen Gründen als Kaufmann: „Was wird das wohl für eine Wirkung haben?“ In Oberschicht und Unterschicht, soziologischen Klassifizierungen, mit denen Wüllenweber operierte, erkannte sie zunächst nur Abwertendes. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe, Fernsehkonsum, zersplitterte Familien – all das rechtfertige nicht das mediale Gerede von sozialer Verwahrlosung. „Hoffentlich geht das schnell an mir vorbei“, dachte sie damals im September, als die Kamera-Teams und die Reporter anrückten. „Gewiss leben und arbeiten wir hier in einem sozialen Brennpunkt, und es gibt einen riesigen Handlungsbedarf. Doch bei den Kindern sind ganz einfache Potenziale nicht entwickelt“, so sieht sie es. Die Reporter kommen immer noch, heute ist Angelika Sass-Leicht dankbar, dass es den Artikel gab: Wenn der, wie gefordert, zu mehr Bildung führe, dann sei das genau auch ihr Ziel, wenn auch noch viel Feinarbeit nötig sei.
Zurück in die Turnhalle, in den Unterricht. „Krachkrachkrach“ und kein Rhythmus mehr. Von wegen „Feinarbeit“! Verena und Arnika, die Studentinnen aus Salzburg sind derart beseelt von ihrer Arbeit, dass sie mitunter alle didaktischen Prinzipien und handwerklichen Regeln in ihrem Unterricht verdödeln. Für jeden Pädagogen ein Graus. Ihr Professor und der Coach Markus Kuchenbuch glauben freilich, daran sei der völlig überholte Ausbildungsgang am Mozarteum schuld. Kuchenbuch nennt die Didaktik eine Laborsituation, die nichts mit der schulischen oder der Lebenswirklichkeit zu tun habe – eine Ausbildung wie unter einer Glasglocke. Die müssten raus, raus wie nach Katernberg. Dort, hinter der Tür eines Turnhallennebenraums loben, kritisieren und ermuntern Feßmann und Kuchenbuch die Studentinnen. Was nach draußen dringt an Sprachfetzen, klingt hart und eindringlich. Vor der Tür drückt eine Reporterin dem neunjährigen Sven ihr Mikrofon an den Mund: „Und was fandest du besonders gut?“
Sven guckt zu Boden, schweigt, als müsse er sich besinnen, und sagt dann leise: „Alles“.