Banner Full-Size

Ich will die Schattenseite sehen

Untertitel
Raus aus dem sozialen Treibhaus: Die israelische Musikerin Meira Asher
Publikationsdatum
Body

Die israelische Künstlerin Meira Asher gewährt intensive Einblicke durch die Fenster zu den zahlreichen Höllen dieser Welt. Ob Gedanken von Selbstmord-Attentätern, Folter- und Vergewaltigungsopfern oder Tabu-Themen wie AIDS – die Komponistin lässt das Leiden der Menschheit beredt werden und zwar in einer Sprache, die bewusst auf Sentimentalität, Theatralik und falsches Pathos verzichtet.

Die israelische Künstlerin Meira Asher gewährt intensive Einblicke durch die Fenster zu den zahlreichen Höllen dieser Welt. Ob Gedanken von Selbstmord-Attentätern, Folter- und Vergewaltigungsopfern oder Tabu-Themen wie AIDS – die Komponistin lässt das Leiden der Menschheit beredt werden und zwar in einer Sprache, die bewusst auf Sentimentalität, Theatralik und falsches Pathos verzichtet. Die Israelin ist in Tel Aviv geboren und aufgewachsen. 1998 verließ sie ihre Heimat via Europa. Nach kurzen Aufenthalten in London und Ljubljana arbeitete sie ein Jahr in Berlin. Heute lebt Meira Asher in Den Haag zwischen Pop- und Kunstmusik. Zur Zeit arbeitet Meira Asher an einer zyklischen Komposition für ein neues Album. Zudem beteiligt sie sich an einer Gruppenausstellung unter dem Titel „Rock Action“ in Bologna. Dort präsentiert die Künstlerin eine Video-, Bilder- und Sound-Installation, die auf der Zeugenaussage des liberianischen Mädchens Josephine Kamara basiert, das von Soldaten vergewaltigt wurde. Im nächsten Jahr will sie eine erweiterte Version dieser Installation in Liberia ausstellen.

Susann Witt-Stahl: Wann haben Sie angefangen, sich mit Musik zu befassen und mit welcher Art von Musik sind Sie zuerst in Berührung gekommen?

Meira Asher: Mit klassischer Musik. Als Kind habe ich sieben Jahre lang Klavier gespielt. Dabei lernte ich auch automatisch Theorie und Gehörbildung. Nachdem ich 14 Jahre alt geworden war, wandte ich mich einige Jahre von der Musik ab.

: Welche Musik hat Sie am meisten beeinflusst?

: Den ersten Stil, der mich wirklich berührte, lernte ich mit 17 kennen. Es war nordindische Klassik. Ich fühlte mich sehr von Perkussion, von Rhythmus als Sprache angezogen.

: Warum sind Sie nach Europa, speziell Deutschland gegangen?

: Ich fühlte mich schon immer instinktiv von Deutschland angezogen. Das ist eine sehr emotionale Angelegenheit. Eine Sache, die mich neugierig machte, war, wie rapide sich Deutschland verändert hat, vom Zweiten Weltkrieg bis heute. Es ist sehr interessant zu beobachten, welche Entwicklung das Land im Vergleich zu Israel durchlaufen hat.
Denn es existiert eine sehr enge historische Verbindung zwischen diesen beiden Nationen. Ich wollte die Orte besuchen, die heutige und ehemalige Europäer in der Vergangenheit verbunden haben. Das ist aber nicht der einzige Grund: Ich habe europäische Wurzeln. Die eine Hälfte meiner Familie stammt aus Polen, Russland und Litauen, die andere aus Bulgarien. Besonders in Ostdeutschland, als ich in Ostberlin am Prenzlauer Berg lebte, hatte ich das Gefühl, als würden sich Nervenenden in meinem Kopf verbinden.

: Welche Herausforderungen bieten Holland und Deutschland für Sie als Künstlerin? Was vermissen Sie in Europa?

: Darauf kann ich nur eine paradoxe Antwort geben: Einerseits herrschen in Europa relativ stabile Verhältnisse, soweit es um ökonomische und soziale Bedingungen geht. Wenn hier Probleme auftreten, werden in künstlerischen Bereichen nicht gleich Eingriffe vorgenommen. Ein Künstler, der aus einem leidgeprüften Land kommt, genießt diese Stabilität natürlich. Auf der anderen Seite vermisse ich den Schmerz in dieser entspannten Umgebung. Ich fing an, mich darüber zu beklagen, dass alles so bequem und dekadent ist, zwar so viel Geld da ist, aber keine kritische Kultur mehr. Es existiert so viel schlechte Kunst; Europa ist überflutet damit. Die Tatsache, dass es hier vergleichsweise wenig Schwierigkeiten gibt, fördert auch die Mittelmäßigkeit.

: Auf welche Weise hat Europa Sie als Künstlerin verändert?

: Eine Künstlerin, die in ihrer Heimat arbeitet, lebt in einer Art Treibhaus. In einem kleinen Land wie Israel ist es relativ einfach, schon innerhalb weniger Jahre nach Beendigung eines Studiums an einer Kunsthochschule, ein Star zu werden. Damit tötet die Gesellschaft ihre eigenen Künstler, denn sie haben nicht genug Zeit, sich zu entfalten, sich den Kritikern zu stellen und Erfahrungen auszutauschen. Und so ist man in seiner künstlerischen Entwicklung bald am Ende der Fahnenstange angelangt. Im Ausland zu arbeiten, der Verlust der Unmittelbarkeit erfordert wesentlich mehr Aufwand. Das gilt besonders, wenn man häufig seine Umgebung wechselt und sich mit künstlerischen Projekten jenseits des Mainstreams beschäftigt.

: Wie reagieren das israelische Publikum und die Kritiker auf Ihre Musik?

: Sie versuchen immer wieder, mich als politisch motivierte Künstlerin zu kategorisieren, was ich gar nicht leiden kann. Man muss sich nicht auf eine Seite schlagen, um Situationen zu beschreiben. Ich möchte Ereignisse durch mein Wirken zur Erscheinung bringen, aber keine Meinungen projizieren, denn das ist so einfach und genau das, was Politiker tun.

: Was konkret wirft man Ihnen vor?

: Nach einer Aufführung von „Spears Into Hooks“ in Berlin interviewte mich ein Journalist von Ma’ariv, einem der bekanntesten Mainstream-Magazine in Israel. Außer seiner Meinung, die ihn als Vertreter des rechten Lagers auswies, schrieb er nur Lügen über mich. Er behauptete beispielsweise, dass ich in einer Uniform der Hitler-Jugend auftreten würde. Mir wurde unterstellt, ich würde direkte Parallelen zwischen dem Holocaust und getöteten Palästinensern ziehen. Ich habe das nicht kommentiert, denn ich will keinen Krieg mit diesen Leuten anfangen. Es gibt interessantere Auseinandersetzungen. Später erfuhr ich, dass meine Arbeit sogar Thema einer Anfrage im Parlament war, weil ich ein Stück über Birkenau komponiert habe und ein Tabu berührt habe. Und das, obwohl ich es auf eine sehr persönliche Art beleuchtet habe, ohne eine politische Meinung zu propagieren. Wenn man sein Land verlässt, realisiert man oft gar nicht, was sich da hinter seinem Rücken zusammenbraut.

: Der Musikkritiker Joe Lockard bezeichnete Ihr Album „Spears Into Hooks” als Abschied, als Distanzierung vom Nahen Osten. In seiner Rezension klingt der Vorwurf des Verrats an.

: Ich habe seine Kritik gelesen und finde sie sehr flach. Ich lehne es ab, den Nahen Osten in den Fokus des Weltinteresses zu stellen, denn es gibt auch an anderen Orten gravierende Probleme. Ich habe das Selbstmitleid satt, das einige Israelis an den Tag legen.
Einige Kräfte haben ein Interesse daran, diesen Konflikt dauerhaft in den Schlagzeilen zu halten, die USA beispielsweise: Der Krieg soll weiter gehen. Natürlich bin ich strikt dagegen. Auf meinem „Infantry“-Album habe ich daher bewusst auf konkrete Bezüge zum Nahost-Konflikt verzichtet, allerdings auch, weil ich mich nicht als politische Künstlerin verstehe. „Spears into Hooks“ ist übrigens komplett in Israel konzipiert worden. Ich habe sogar meinen Aufenthalt in Israel verlängert, um dieses Album noch vor Ort fertig stellen zu können. Ich habe mich nicht vor einer Auseinandersetzung mit dem Nahen Osten gescheut, ganz im Gegenteil: Ich habe im Holocaust-Museum Yad Vashem in Jerusalem recherchiert und mich monatelang mit Zeugenaussagen von Holocaust-Überlebenden beschäftigt, aber mich auch mit der Situation der Palästinenser befasst.

Als ich jung war, habe ich sehr jüdisch gedacht. Heute bezeichne ich mich nicht mehr als jüdisch. Besonders in der gegenwärtigen Situation lege ich Wert auf die Feststellung, dass Judaismus eine Religion ist. Ich bin nicht religiös, also bin ich keine Jüdin. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin ein Israeli.

: Sie arbeiten in Ihrem Werk mit vielen semantischen Verweisen. Ein typisches Beispiel ist die Verwendung eines Strauß-Walzers in dem Titel „Weekend Away Break“, der den KZ-Tourismus thematisiert.

: Ja, den Walzer habe ich als Symbol für populäre Kultur gewählt. Als der Holocaust geschah, war Walzer-Musik so populär wie heute Disco-Musik.
Ich habe den Walzer mit dem Holocaust in Beziehung gesetzt, um aufzuzeigen, dass der Holocaust für viele Juden und Deutsche den Stellenwert von Disco-Musik hat, also von Pop-Kultur. Natürlich tue ich das in kritischer Absicht, denn der Holocaust wird als Entschuldigung herangezogen für das, was heute in Palästina, in Israel passiert.

: Wollen Sie damit sagen, dass der Holocaust von der Kulturindustrie vereinnahmt worden ist?

: Exakt. Daraus ist ein ganzer Industriezweig entstanden.
Print-Rubriken
Unterrubrik