Als aufmerksamer Leser meiner Facebook-Timeline bin ich Mitte August auf den Hinweis des Journalisten Martin Hufner gestoßen, dass die Reform der Umsatzsteuerbefreiung für Bildungsleistungen drohe. Als Musiker mit Faible für Steuerrecht hatte ich vor der Sommerpause mit der Recherche begonnen und mich mit einer eigenen Meinung und noch mehr offenen Fragen an einen Facebook-Post getraut, der Widerspruch von alarmierten Kolleg:innen und problematische Berichte über die bereits bestehende Situation hervorrief, sowie die Bitte zweier befreundeter ver.di-Kolleg:innen, doch im ver.di-Slot bei der nmz eine Überblicksdarstellung zum Thema abzugeben. Mitte September schreibe ich hier Einsichten zum Thema, die bei Drucklegung bereits überholt sein können.
Reform in Progress
Was ist das Problem?
Noch immer ist die EU-Mehrwertsteuerrichtlinie aus dem Jahr 1977 nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt worden. In diesem Jahr plant nun das Finanzministerium (BMF) eine Harmonisierung und darin auch die Anpassung des Verfahrens für die Umsatzsteuerbefreiung für Bildungsleistungen nach §4 Nr. 21. Das betrifft den ganz überwiegenden Teil selbstständiger Musiker:innen, die auf eigene Verantwortung und/oder an privaten und öffentlichen Schulen unterrichten. Bisher erhielten sie hierzu von ihren Landesbehörden auf Antrag Bescheinigungen für die Umsatzsteuerfreiheit ihrer Leistungen. Nach dem Willen des BMF sollen in Zukunft die örtlichen Finanzämter ganz alleine darüber entscheiden können, ohne einen Beitrag von Kultur- und Bildungsbürokratien der Bundesländer.
Deutsches und europäisches Finanzrecht sprechen
Das Thema ist komplex: EU-Recht, nationales Recht, Fragen der Bildungshoheit der Länder und der Finanzhoheit des Bundes berühren sich, Abgrenzungen zwischen Körperschaften öffentlichen wie privaten Rechts und natürlichen Personen sowie Bildungsbegriffe spielen eine Rolle. Zum Verständnis würde es also enorm helfen, fließend deutsches und europäisches Finanzrecht zu sprechen und einen Überblick über die Urteile und Beschlüsse der letzten Jahrzehnte mitzubringen – und wer tut das schon? Verständlich also, dass kurz vor der Sommerpause, als die Entwürfe langsam ins Bewusstsein der Betroffenen rückten, eine Protestwelle wuchs unter dem Verdacht: den Privatlehrer:innen – vulnerable Gruppe der selbstständigen und überwiegend einzelunternehmerisch arbeitenden Bildungsanbieter:innen – solle das Umsatzsteuerprivileg gestrichen werden. Anfragen an das Bundesministerium für Finanzen, die unabhängig durch die Online-Redaktion der nmz, den Deutschen Tonkünstlerverband und den Deutschen Musikrat gestellt wurden, wurden sinngemäß im beruhigenden Ton beantwortet, es bleibe in Bezug auf die Befreiung alles beim Alten, nur das Verfahren solle sich ändern. Gerade Letzteres las sich nicht beruhigend.
Eine Petition einer Sopranistin hierzu erreicht aktuell knapp über 100.000 Stimmen. Inzwischen hat mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbstständigenverbände (BAGSV) eine Vereinigung von 35 Verbänden einen Gegenentwurf zum Gesetzesvorhaben veröffentlicht. Die erste Lesung des Gesetzes wird vermutlich am 25. September stattgefunden haben und bis dahin diskutieren die Verbandsfachleute mit Bildungs- und Steuerpolitiker:innen in der Hoffnung, auf das Gesetzgebungsverfahren Einfluss nehmen zu können.
Bisherige Praxis und Notwendigkeit der Reform
Nach der Mehrwertsteuerrichtlinie der EU dienen alle berufsbezogenen Bildungsangebote dem Gemeinwohl und sind deshalb von der Umsatzsteuer zu befreien, völlig gleich, ob die Bildung in öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtungen vermittelt wird oder durch selbstständige Einzelunternehmer:innen. Die Form der Umsetzung der Richtlinie überlässt die EU ihren Mitgliedsstaaten. Für Deutschland bedeutete das bis jetzt, dass Privatlehrer:innen hierzu eine Bescheinigung bei ihrer je zuständigen Landesbehörde beantragen konnten, um diese ihren Steuererklärungen hinzufügen.
Die deutsche Richtlinie hatte durch die verengende Formulierung, die Leistung habe „auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß“ vorzubereiten, eine unzulässige Benachteiligung privater gegenüber öffentlichen Körperschaften dargestellt.
Das Jahressteuergesetz 2024 sieht daher den Wegfall der Bescheinigung vor und möchte die Entscheidung über die Zulässigkeit der Umsatzsteuerbefreiung von den Landesbildungsbehörden in die Hände der lokalen Steuerbeamt:innen geben. Privatlehrer:innen, die sich durch die Bescheinigungen ihrer Landesbildungs- und Kulturbehörden bisher sicher aufgehoben fühlten, konnten ein vergleichbares Vertrauen in die Bildungskompetenz der Steuerbehörden nicht aufbringen und entsprechend laut wurde an dieser Stelle der Protest.
Auswirkungen einer Umsatzbesteuerung
Die Angst vor Umsatzbesteuerung ist, was die Erlöse angeht, durchaus berechtigt: eine Verteuerung um 19 Prozent würde sich entweder auf eine Reduktion der Kundschaft auswirken oder im verbleibenden Honoraranteil – eine Loose-Loose-Situation.
Nicht geringer die Angst vor Steuerrückforderungen: die Bescheinigung galt bisher ab Bescheinigungsdatum. Ohne eine Bescheinigung wird die Anwendung der Umsatzsteuerbefreiung in Zukunft vermutlich erst mit der Steuererklärung rückwirkend oder bei Steuerprüfung über mehrere Jahre rückwirkend geprüft werden. Die Steuerrückforderungen, die als Risiken im Verfahren nicht auszuschließen wären, dürften vor dem Hintergrund der bekannten Durchschnittseinkommen zu einer ansteigenden Zahl von Insolvenzen führen.
Was ist Bildungsleistung nach §4 Nr. 21 und was nicht?
Keine Ausnahmeregelung kommt ohne Abgrenzungsprobleme aus. In der Umsatzsteuerbefreiung von Bildungsleistungen wird unterschieden zwischen Berufsausbildungsbezug und Bildungsangeboten, die sich ausschließlich auf private Zwecke beziehen. Das Problem dabei: Die Kriterien für die berufsbildenden Bezüge einer Bildungsleistung sind Gegenstand von Auslegungen und Gerichtsurteilen vor sich gesellschaftlich verändernden Auffassungen.
Die Unterzeichner der Petition und die Autoren des BAGSV-Entwurfs befürchten künftig durch die Einzelfallprüfung der Finanzämter mehr Ausnahmen von der Befreiung und in der Folge eine stärkere Engführung der Befreiungsvorschriften, die dem steigenden flexiblen Kompetenzbedarf in der beruflichen Realität widersprechen würde.
Der möglichst umfassende Begriff für berufsbezogene Bildungsleistungen, den die Autoren des Gegenentwurfs fordern, solle hingegen dem Bildungsbegriff und der Berufsrealität im 21. Jahrhundert gerecht werden und weiterhin durch die Länder in ihrer Bildungskompetenz auf Antrag bescheinigt werden.
Eine weitere Verengung des Verständnisses der Bildungsbezüge von Privatlehrer:innen sehen die Autoren verursacht von einer Abweichung der deutschen Übersetzung der EU-Richtlinie vom französischen Original: Wo in der deutschen Fassung von „Schul- und Hochschulunterricht“ durch die Privatlehrer:in die Rede ist, weise das französische Original auf „Unterrichtseinheiten, die sich auf Schul- und Hochschulunterricht beziehen“ hin.
Gegenstand der Abgrenzungsdebatten waren in der Vergangenheit auch Zielgruppen und Altersgrenzen der Bildungsangebote. Der BAGSV-Entwurf plädiert für eine grundsätzliche Aufhebung von Altersgrenzen und formuliert einen Begriff von Bildung und Erziehung bis zur Beendigung des aktiven Berufslebens im Sinn des lebenslangen Lernens.
Bescheinigungslösung, Anwendungsanweisungen und Rechtssicherheit
Bisher wandten Finanzbeamt:innen die Steuerbefreiungen auf der Grundlage von Bescheinigungen der Landeskultur- und Bildungsbehörden an, in Zukunft sollen sie das aufgrund von Arbeitsanweisungen des BMF tun. Die Rechtssicherheit von Arbeitsanweisungen zur Abgrenzung wird von den Autoren des BAGSV-Entwurfs angezweifelt. Vor allem befürchten sie eine restriktive Praxis in der Umsetzung der Arbeitsanweisungen auf Ebene der Finanzämter und die vermehrte Suche nach Ausschlussgründen.
Wegen der fehlenden EU-Rechtskonformität ist die bisherige Bescheinigungslösung nun wirklich Geschichte. Im BAGSV-Gegenentwurf wird eine EU-rechtskonforme reformierte Bescheinigung gefordert, die keine Benachteiligung der privaten Bildungsanbieter:innen darstellt. Aufgrund der Bildungshoheit der Länder blieben diese sowohl kompetenter als Finanzbehörden, als auch zuständig für die Qualifizierung von Bildungsleistungen in den Ländern.
Allerdings war die Bescheinigungslösung selbst ebenfalls nicht wirklich bindend. Die finale Entscheidung zur Anwendung von Befreiungsvorschriften wird am Ende immer erst in der Ermessensausübung durch Steuerbeamt:innen wirksam. Die Bescheinigung einer Landesbehörde für Kultur und Bildung diente den Steuerbeamt:innen nur als rechtlich nicht bindender Hinweis. Im Rahmen prozessualer Übereinstimmungen konnten die Finanzämter die inhaltliche Kompetenz der Landesbehörden für Kultur und Bildung anerkennen – sie mussten das aber nicht, wie Beispiele zeigen, in denen Befreiungen durch Finanzämter trotz bestehender Bescheinigungen nicht gewährt wurden.
Zusätzlich kann diskutiert werden, inwiefern das Bescheinigungsverfahren im Konflikt mit der Steuergerechtigkeit in Deutschland stand, denn die Bescheinigungen wurden von den Ländern alles andere als einheitlich behandelt. Im Klagefall hätten sich Bildungseinrichtungen hier parallel vor Finanz- und Verwaltungsgerichten sehen können. Das BMF argumentiert daher mit einer gestärkten Rechtssicherheit und einer Abkehr vom doppelten Verwaltungsweg.
Gewinnerzielungsabsicht und Steuergestaltungsspielräume in der Weiterbildung
Die Abgrenzung im Begriff Gewinnerzielungsabsicht sorgte unter den Privatlehrer:innen für Kopfschmerzen, allerdings unnötigerweise, weil er sich im Regierungsentwurf nur auf die Ausnahme von der Umsatzsteuerbefreiung für privatwirtschaftliche Körperschaften in der Weiterbildung bezieht. Bildungsunternehmen mit hohen Umsatzsteuer-Umsätzen haben ein natürliches Interesse, diese auch geltend machen zu können.
Im Regierungsentwurf ist diese Ausnahme aktuell vorgesehen, der Gegenentwurf sieht hier Möglichkeiten für Steuergestaltung und Wettbewerbsnachteile für Privatpersonen und soziale Einrichtungen.
Fazit
Bei der Veröffentlichung der Printausgabe der nmz wird das Jahressteuergesetz 2024 gelesen sein. Vielleicht hatte die Initiative der BAGSV dann Erfolg mit einer EU-rechtskonformen Bescheinigungslösung, vielleicht wird sich aber auch das BMF mit einem direkten Verfahren über die Finanzämter durchgesetzt haben. Oder es wird irgendetwas dazwischen.
Von den Steuerfachleuten aus ver.di wird die Annahme vertreten, dass möglicherweise beim Regierungsentwurf am Ende ein rechtssichereres Verfahren ohne doppelten Verwaltungsweg herauskomme, bei dem am Ende für die Bildungsunternehmer:innen in der Sache alles beim Alten bleibe und dass man deshalb möglicherweise nötige Korrekturen erst später in Angriff nehmen könne. Die Befürchtungen der Autoren des alternativen Gesetzesentwurfs, dass bei der alleinigen Kompetenzverlagerung zu den Finanzverwaltungen die Tore für Ausnahmen von der Ausnahme offener stünden als zuvor, und die mit Hinweis auf die Bildungshoheit der Länder deshalb lieber jetzt für eine verbesserte Lösung über die Landesbehörden streiten, müssen deshalb aber nicht unberechtigt sein. Am Ende wird vermutlich so oder so Nacharbeit und die Expertise der Betroffenen nötig werden, um rechtssichere und der Bildungs- und Steuergerechtigkeit entsprechende Regelungen auszuarbeiten.
Im Grundsatz verweist das alles aber auf ein viel größeres Übel: dass eine Umsatzbesteuerung für die freien Bildungsanbieter:innen so bedrohlich ist, zeigt erneut, wie prekär die Bildungslandschaft und die Einkommensverhältnisse hier sind. Die wirtschaftsliberale Vorstellung, die Umsatzsteuerbefreiungen würden den ehrgeizigen Unternehmergeist der Bildungsanbieter:innen eher bremsen, geht hier fehl, weil sich Bildungsangebote eben nicht beliebig hochskalieren lassen, und weil deren Qualität untrennbar auch mit der Persönlichkeit der Lehrenden verbunden ist. Die Wertschätzung der immateriellen Qualitäten und das schnöde Geld verbinden sich hier einmal mehr auf der trockenen Ebene von Steuerrecht.
Der Autor, Matthias Mainz, ist ein transdisziplinär arbeitender Künstler und kuratierender Musiker, seit Corona ver.di und VGSD-Mitglied, lebt in Köln und Berlin und beschäftigt sich in seiner Freizeit gerne mit steuerrechtlichen Phänomenen.
- Share by mail
Share on