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Schluss mit dem Blick nach unten

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Ist etwas dran an dem Bild „Arme Künstler – wehrlose Künstler“?
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Künstler sind arm – nur dann sind sie wahre Künstler. Das romantische Bild von Spitzwegs „Armem Poeten“, der in seiner armseligen Kammer einen Regenschirm aufspannt, um sich vor dem Regen zu schützen, der durch das undichte Dach tropft, ist weithin bekannt. Auch Puccini zeichnet in seiner Oper „La Bohème“ die Armut der Künstler nach: Die künstlerisch tätigen Protagonisten, ein Maler, ein Musiker und ein Dichter, hausen ebenfalls in einer elenden Dachkammer und haben kein Geld zum Heizen und nichts zu essen. Diese Darstellung entspricht den realen Lebensverhältnissen vieler Künstler, Kunst- und Musiklehrer im 19. Jahrhundert, die sich mühsam mit Aufträgen und Privatstunden über Wasser hielten. Aufgrund der desolaten Lebensverhältnisse wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts innerhalb der verschiedenen Kunstsparten erste gewerkschaftliche Organisationen gegründet.


Obwohl auch für Musikschullehrer eine gewerkschaftliche Interessenvertretung – nach verschiedenen Gewerkschaftsfusionen seit nunmehr zehn Jahren innerhalb der Fachgruppe Musik in ver.di – exis­tiert, hat sich die soziale und finanzielle Lage der Musikschullehrer in den letzten Jahren kontinuierlich verschlechtert. Warum aber ist das so? Und: Warum nehmen Musikschullehrer stets neue Verschlechterungen nahezu widerstandslos hin?1
Obwohl die Erfahrung der letzten Jahre das Gegenteil lehrt, hoffen vielerorts ganze Kollegien von Musikschullehrern offenbar noch immer, dass ihre Musikschule nicht abgewickelt wird, wenn sie sich nur entsprechend ruhig verhalten und sich klaglos drücken lassen. Doch so sehr Verschlechterungen auch geduldet und ohne Widerstand akzeptiert werden, stabilisiert sich die Lage der Musikschullehrer dadurch keineswegs. Hierfür sei nur ein Beispiel von vielen genannt: An der kommunalen Musikschule Frankfurt (Oder) wurden bereits Mitte der 1990er-Jahre VKA-Verträge in Honorarverträge umgewandelt. Von den vierzehn betroffenen Lehrern ließen sich elf durch die Drohungen der Stadtverwaltung einschüchtern, im Fall einer Statusklage werde man ihnen nicht einmal mehr einen Honorarvertrag anbieten. Drei Kolleginnen bemühten sich jedoch um gewerkschaftlichen Rechtsschutz und zogen vors Arbeitsgericht. Sie gewannen den Prozess, und ihnen wurde eine Festanstellung nach BAT zugesprochen. Einige der Kollegen, die widerstandslos den angebotenen Honorarvertrag unterschrieben hatten, standen ein Jahr später auf der Straße, als die Musikschule aufgrund weiterer Mittelkürzungen Lehrer entlassen musste. Auch, wo still gehalten wird, werden also Lehrer entlassen und Musikschulen geschlossen.

Möglicherweise hat der mangelnde Widerstand viel mit dem Selbstbild unseres Berufsstandes zu tun. Wirtschaftliche Interessen werden von vielen Musikern oft der Kunst untergeordnet, eine Auseinandersetzung mit politischen Rahmenbedingungen scheint gegenüber der Erreichung höchstmöglicher künstlerischer Perfektion zweitrangig. Üben ist Vielen wichtiger als politisches Engagement. Auch wird der Beruf mit der steigenden Zahl der Honorarkräfte zunehmend von einem Einzelkämpfertum geprägt. Dort, wo Arbeitnehmer sich als eine zusammengehörige Gemeinschaft empfinden, sind die Widerstände gegen Verschlechterungsmaßnahmen deutlich größer und sehr oft auch erfolgreich.

Musikschullehrer, die als Honorarkräfte an einer Musikschule arbeiten, entwickeln jedoch wenig Gemeinschaftsgefühl. Sie sind aufgrund ihres Status als Freie nicht einmal verpflichtet, an Lehrerversammlungen teilzunehmen und tun dies mangels Vergütung für die Teilnahme auch kaum. Somit fehlt ihnen jedoch auch ein Forum, sich zu vernetzen und zu organisieren. Für Einzelkämpfer ist es nahezu unmöglich, Widerstand zu leisten, denn ein einzelner Lehrer gerät schnell in einen Konflikt mit seiner Musikschulleitung, seinen Schülern und deren Eltern, wenn er zum Beispiel einen Streik erwägt. Diesen Konflikt als Einzelner auszuhalten, ist schwierig, und die Wirkung der Protestmaßnahmen eines Einzelnen ist ohnehin begrenzt. Hinzu kommt, dass (vor allem freie) Musiklehrer ihre Rechte oft überhaupt nicht kennen und nicht einmal wissen, dass auch ihnen die vorhandenen gewerkschaftlichen Plattformen offen stehen. Daher wenden sich die Betroffenen häufig auch erst an die Gewerkschaft, wenn es bereits für alle Gegenmaßnahmen zu spät ist.

Musikschullehrer erfahren bisher auch nur wenig Solidarität in der Bevölkerung. Dies gilt auch für den Klassik-Bereich. Die Auffassung von der Höhe einer angemessenen Gage für Musiker, die in diesem Bereich arbeiten, liegen bei potentiellen Auftraggebern allzu oft bei „unentgeltlich spielen für einen guten Zweck“ oder allenfalls lächerlich geringen Gagen, wohingegen niemand auf die Idee käme, einen Arbeitslohn von 80 Euro pro Stunde zu diskutieren, wenn er sein Auto in die Werkstatt bringt, oder einen Tagessatz von 2.000 Euro in der Unternehmens­beraterbranche in Frage zu stellen. Obwohl Musiker die mit Abstand längste Berufsausbildung absolvieren, indem sie meist bereits als Kinder mit dem Spielen eines Instrumentes beginnen, und obwohl sie hoch spezialisiert sind, werden andere Arten von Expertentum gesellschaftlich wesentlich höher geschätzt. Zum anderen beruht mangelnde Solidarität aber auch auf Unkenntnis über den Beruf des Musikers oder Musikschullehrers. Die meisten Berufsmusiker werden im Laufe ihres Berufslebens mehr als einmal mit der Frage konfrontiert, warum sie denn noch immer üben müssten, denn nach so vielen Jahren müssten sie es doch nun endlich können. Und oft wissen nicht einmal die Eltern von Musikschülern, unter welchen sozialen und finanziellen Bedingungen die Lehrer ihrer Kinder eigentlich arbeiten. Fragen wie „und was machen Sie hauptberuflich?“ sind durchaus üblich. Auch die Entscheidungsträger, die über das Geschick der Musikschulen entscheiden, sind oft völlig bar jeder Kenntnis über die dortigen Arbeitsverhältnisse. Sie sehen sich eher mit niedlichen, nett musizierenden Kindern konfrontiert als mit Protestaktionen von unzufriedenen Musikschullehrern, die zudem hauptsächlich als Kostenfaktor wahrgenommen werden.

In der medialen Berichterstattung über die Kulturszene lässt sich seit einiger Zeit außerdem ein Trend ausmachen, der auf tiefgreifende gesellschaftliche Entsolidarisierungsprozesse hinweist. Hier werden neuerdings fest Angestellte gegen Freie ausgespielt. So veröffentlichte die „Berliner Zeitung“ im Oktober 2010 mehrere Artikel in Folge über einen Streik von Orches­termusikern an den Berliner Opernhäusern, in denen die Autorin völliges Unverständnis über die Forderungen der Orchestermusiker äußert, und zwar mit der Begründung, dass es den freien Musikern doch noch wesentlich schlechter ginge und die fest Angestellten sich mit Rücksichtnahme auf die leeren Staatskassen mit dem bescheiden sollten, was sie hätten. Die Frage, warum die Staatskassen eigentlich so leer sind, wird in diesem Zusammenhang nicht thematisiert, ebenso wenig die möglicherweise berechtigte Forderung nach der Einhaltung von zuvor ausgehandelten Verträgen durch den Arbeitgeber. Auch anderen, gewerkschaftlich gut organisierten Gruppen wie beispielsweise Lokführern oder Piloten wird sowohl in der Bevölkerung als auch in der Tagespresse zunehmendes Unverständnis entgegengebracht. Der Blick nach unten, auf die, denen es ja noch viel schlechter geht, hat sich offenbar flächendeckend ausgebreitet und zur selbstverständlichen Akzeptanz immer schlechterer Arbeitsbedingungen geführt. Dabei werden mögliche Handlungsalternativen, die es durchaus gäbe, obwohl Politik und Wirtschaft Verschlechterungen gebetsmühlenartig als „alternativlos“ darstellen, überhaupt nicht mehr in Erwägung gezogen. Je häufiger eine Formulierung benutzt wird, desto eher wird sie als einzig denkbare Wahrheit akzeptiert. Lediglich in einigen musikspezifischen Fachpublikationen sind in letzter Zeit Beiträge erschienen, die sich kritisch mit der desolaten Situation freier Musiker und Musikpädagogen auseinandersetzen.2 Immerhin beginnt man, die Situation der Musiker und Musiklehrer allmählich wenigstens innerhalb der Musikszene wahrzunehmen.

Den derzeitigen Trend zur Entsolidarisierung aufzuhalten, statt den Fortbestand eines Berufs, von dem man noch vor wenigen Jahren leben konnte, widerstandslos aufzugeben, ist eine der erklärten Absichten der Fachgruppe Musik in ver.di. Hier haben sich Angehörige verschiedener Musikberufe zusammengefunden, die sich für den Erhalt dessen einsetzen, was die Gewerkschaften in jahrelangen Verhandlungen und Kämpfen erreicht haben, und die die Auffassung vertreten, dass es auch für freiberuflich Tätige möglich sein muss, von ihrer Erwerbsarbeit in Würde zu leben. Die Fachgruppe Musik in ver.di vertritt die berufspolitischen Interessen von Lehrkräften an Musikschulen, Lehrbeauftragten an Musikhochschulen, selbstständigen Musiklehrerinnen und -lehrern oder freien Musikern, zum Beispiel Mitgliedern von Kapellen und Bands. Die Fachgruppe Musik bietet mithin eine Plattform für alle Musikberufe – sowohl für fest Angestellte als auch für Freie –, die ein Interesse daran haben, sich für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen einzusetzen. Mitgliedern wird nicht nur Rechtsberatung, sondern auch professionelle Unterstützung bei Protestaktionen und Arbeitskampfmaßnahmen geboten. Durch das Solidaritätsprinzip der verschiedenen Fachbereiche in ver.di ist es sogar möglich, dass auch Honorarkräfte an Musikschulen oder andere Freie während eines Arbeitskampfes finanziell (Streikgeld) unterstützt werden. Darüber hinaus können Fachgruppenmitglieder kostengünstig an musikpädagogischen oder politischen Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen.

Ohne Solidarisierung und Einsatz der Betroffenen wird es nicht möglich sein, dass auch Freie ihre Rechte und Interessen durchsetzen. Dass dies grundsätzlich möglich ist, zeigt das Beispiel von Gewerkschaftsarbeit anhand von Organizing in Amerika seit Mitte der 1990er-Jahre. Gewerkschaften können jedoch nur so stark wie ihre Mitglieder sein. Dies lässt sich im negativen Sinn etwa an der Situation von Lehrbeauftragten an Hochschulen ablesen, die es seit Jahrzehnten nicht geschafft haben, sich zu organisieren und ihre prekäre Situation zu verbessern.3 Im positiven Sinn zeigt sich der Zusammenhang zwischen Durchsetzungskraft und Organisationsgrad am Beispiel der Deutschen Orchestervereinigung (DOV), in der 96 Prozent (!) aller Orchestermusiker organisiert sind, und in die künftige Orchestermusiker nicht selten bereits während ihres Studiums eintreten. Auch in Zeiten leerer öffentlicher Kassen gelingt es der DOV noch immer, ihre Forderungen größtenteils durchzusetzen.

Allein die 40.000 Musiklehrer, die an den VdM-Schulen unterrichten, stellen eine beachtliche potentielle Macht dar. Und: Jeder Musikschüler hat Eltern und Verwandte, deren Abstimmungsverhalten bei der nächsten Wahl den politisch Verantwortlichen nicht egal sein kann. Viele Musikschullehrer haben Angst, für ihre berechtigten Forderungen einzutreten. Diese Angst ist durchaus nachvollziehbar, denn sie wird ausgelöst durch Drohungen und das gängige Verfahren von Musikschulleitern, widerständige Lehrer zu entlassen oder ihnen keine Schüler mehr zu vermitteln. Wo jedoch Angst die vorherrschende Emotion ist und wo aus Angst Entsolidarisierung um sich greift, ist es ein Leichtes, Musiklehrer gegeneinander auszuspielen.4 Damit wird eine nach unten hin offene Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die mehr und mehr in die von Spitzweg dargestellten Lebensverhältnisse mündet. Doch gilt auch noch immer, dass, wer nicht kämpft, schon verloren hat.

Anmerkungen

1 Christoph Schulte im Walde spricht in seinem Aufsatz „Viel Licht und viel Schatten“ (Üben & Musizieren 6/10, S. 20–23) von Musikschullehrern als einer „offensichtlich sehr leidensfähigen Spezies“.
2    Zum Beispiel die Beiträge von S. Sinsch „Erst das Geld, dann den Rest“ in „Das Orches­ter“ vom Februar 2011 oder „JeKi – wo schadet das Projekt, was kann es leisten?“ von W. Sobirey in „Musikforum“ (Ausgabe Januar–März 2011)
3 Erst jetzt kommt es zu einem Erfolg versprechenden Zusammenschluss von Lehrbeauftragten an verschiedenen Hochschulen.
4    Zum Beispiel ist es an einigen Musikschulen mittlerweile üblich, dass jeder Lehrer ein anderes Honorar erhält, je nachdem, was jeder für sich individuell mit der Musikschulleitung aushandeln konnte.

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