„Mozart macht schlau“, „Musikalische Betätigung fördert Schlüsselkompetenzen“, „Musizieren verhindert Gewalt“ – so und ähnlich lautet der gängige Tenor in der musikalischen Bildungslandschaft. Die Bundesländer wetteifern geradezu darum, das Land mit einem flächendeckenden Netz von musikalischen Projekten zu überziehen, tatkräftig unterstützt von den Musikverbänden und Musikschulen.
Klassenmusizieren, „JeKi“ und Kooperationen zwischen allgemein bildenden Schulen und Kulturpartnern, wie sie beispielsweise die Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung mit ihrem Modellprojekt „Kultur macht Schule“ anstrebt, führen zu einer zunehmenden Flut von Projekten, deren schwierige Durchführung sich oft erst herausstellt, nachdem sie bereits begonnen haben.
Das Bildungsbürgertum versucht, seine Musikkultur zu retten. In diesem Sinn soll eine verstärkte musikalische Breitenbildung das Aussterben des klassischen Konzertpublikums verhindern. Flankiert wird diese Absicht von der Instrumentalisierung des aktiven Musizierens im Blick auf so genannte „Schlüsselkompetenzen“ oder „Transfereffekte“, Eigenschaften, die für gesellschaftlich wünschenswert gehalten werden, weil sie – so die offensichtliche Übereinkunft – den Erfordernissen einer globalisierten Welt entsprechen. Dazu gehören zum Beispiel Teamfähigkeit, Kreativität, Anstrengungsbereitschaft, Problemlösungskompetenz und Flexibilität. Des Weiteren sollen kognitive und motorische Fähigkeiten gefördert werden. Sogar als Gewaltprävention soll das Musizieren herhalten, auch dies eine gesellschaftlich wünschenswerte Funktionalisierung.
Gleichzeitig mit der Bereitstellung finanzieller Mittel für Projekte, deren Nachhaltigkeit keineswegs als gesichert gelten kann, fällt weiterhin bei einem Großteil der allgemein bildenden Schulen der Musikunterricht ganz aus oder wird fachfremd erteilt. Die seit Jahren an Musikschulen existierenden Wartelisten werden nicht abgebaut und das musikbetonte Profil allgemein bildender Schulen wird in Frage gestellt, wie zum Beispiel unlängst in Berlin; Orchester müssen um ihre Existenz bangen. Bei den Investitionen in die Breitenförderung steht vor allem der gesellschaftliche Nutzen so genannter „Transfereffekte“ des Musizierens im Mittelpunkt – Wissenschaftler, Politiker und Musikverbände stoßen hier spätestens seit der Bastian-Studie ins gleiche Horn. Insgesamt wird dabei als „gesellschaftlicher Nutzen“ nur das definiert, was einen finanziellen Gewinn verspricht.
Aus dem Boden gestampft
Nach dem jahrelangen Abbau beim schulischen Musikunterricht, Einsparungen bei Theatern und Orchestern, Musikschulen und Jugendkultur meint man nun, die wirtschaftlich negativen Folgen der Bildungs- und Sozialdefizite von Kindern und Jugendlichen durch hastig aus dem Boden gestampfte musikalische Projekte reduzieren zu können. Dass die Auseinandersetzung mit Kultur an sich ein Wert sein könnte, interessiert dabei wenig. Was sich der Evaluation entzieht, wie die Selbstbelohnung musikalischer Betätigung und das subjektive positive emotionale Erleben – man könnte es auch als Glücksgefühl bezeichnen – sowie der Erwerb eines positiven Selbstkonzepts, scheint in Zeiten klammer öffentlicher Finanzen keine ausreichende Legitimationsfunktion zu haben. Nicht messbare oder nicht direkt beobachtbare Wirkungen, deren gesellschaftlicher Nutzen kaum nachzuweisen ist, können den Legitimationsdruck, denen öffentliche Kultureinrichtungen heutzutage ausgesetzt sind, nicht bedienen.
Auf der Strecke bleibt aber auch das Hauptanliegen des Instrumentalunterrichts, nämlich aus Kindern und Jugendlichen möglichst gute Musikerinnen und Musiker zu machen, also musikalische Leistungen zu erzeugen und damit ästhetische Erfahrungen durch Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Auf die Musikschulen kommen derzeit fortgesetzt neue Aufgaben zu: Unterricht mit Senioren (50+), Klassenmusizieren, „JeKi“, Instrumentenkarussell sowie Kleingruppenunterricht an Ganztagsschulen. Solange nicht in allen Bundesländern mehr Stellen für Musikschullehrkräfte geschaffen werden, geht das Erteilen des zunehmenden Breiten-Gruppenunterrichts zu Lasten traditioneller Angebote an Musikschulen und damit vor allem des Einzelunterrichts. Der wird zunehmend Privatlehrern und privaten Musikschulen überlassen. Da private Anbieter jedoch oft höhere Gebühren verlangen als kommunale Musikschulen, bleibt der Einzelunterricht wohl künftig vor allem denen vorbehalten, die ihn sich leisten können, nicht denen, die ihn aus pädagogischen, psychologischen oder künstlerischen Gründen benötigen.
Aktuell hinterfragt werden muss, ob ausgebildete musikalische Leistungen und individuelle Förderung im öffentlichen Denken überhaupt noch eine Rolle spielen. Geht nicht längst Quantität vor Qualität? Während über Eliteuniversitäten und Begabten-Klassen debattiert wird und in Projekten der Breitenförderung auch musikalische Talente entdeckt werden sollen, bleibt eine Frage völlig unbeantwortet: Welche Chancen auf optimale Förderung werden die entdeckten Talente etwa nach einem Ende der „JeKi“-Aktion haben? Zumindest scheint ihnen zwar nicht unbedingt ein Musikschulplatz sicher, wenigstens aber – glaubt man den Beteuerungen von Wissenschaft und Politik – der Erwerb von Schlüsselkompetenzen und kognitiven und motorischen Fertigkeiten. Dabei ist nicht geklärt, unter welchen Bedingungen sich diese Kompetenzen und Fertigkeiten überhaupt dauerhaft ausbilden. Wie müssen förderliche Bedingungen dafür aussehen? Genügt es, einmal in der Woche sein Instrument beim „Klassenmusizieren“ zu spielen oder ist dafür regelmäßiges Üben notwendig, und wenn ja, in welchem Umfang? Sind nach einem zwei- bis vierjährigen Projekt die Schlüsselkompetenzen überdauernd erworben, und so überdauernd, dass sie in einer globalisierten Welt tatsächlich zu Lebensbewältigung und Lebenserfolg beitragen?
Kurzlebige Projekte
Auch bezüglich des Versuchs, insbesondere Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten durch kurzlebige Projekte an Kultur heranzuführen, sind Zweifel angebracht: Werden diese Kinder und Jugendliche ein echtes Bedürfnis nach wie auch immer gearteter Kultur entwickeln, das über das Ende des jeweiligen Projekts hinaus Bestand hat? Werden diese Kinder und Jugendliche tatsächlich von musikalischer Bildung als „Lebensbewältigung“ profitieren, wenn sie keinen Ausbildungsplatz bekommen, wenn sie als Hartz IV-Empfänger oder Niedriglöhner ihr Leben fristen müssen und wenn sie sich infolgedessen weder ein Instrument noch Musikunterricht noch einen Konzertbesuch leisten können? Müsste nicht der Unterricht an Musikschulen wesentlich preiswerter und für sozial Bedürftige unabhängig von ihrer musikalischen Begabung ganz kostenlos angeboten werden?
Würde ein ernsthaftes politisches und wissenschaftliches Interesse an den langfristigen Auswirkungen des Musizierens bestehen, ließe sich dies nur durch breit angelegte und methodisch seriös durchgeführte Langzeitstudien ermitteln, die den Lebensweg der Probanden über viele Jahre verfolgen, und in die eine Vielzahl von Variablen eingehen müsste. Ein solches tief gehendes Interesse zeichnet sich derzeit jedoch nicht ab. Statt dessen wird durch hektischen Aktionismus versucht, die Chancenlosigkeit unterprivilegierter Kinder und Jugendlicher in einem globalisierten, kapitalistischen System durch das Wundermittel des aktiven Musizierens einzudämmen – mit fragwürdigem Ausgang auf die gesellschaftlichen Auswirkungen, aber bereits jetzt absehbaren negativen Folgen für das seit Jahren bestehende, auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Musikschulsystem.
Die Autorin ist Mitglied des Bundesfachbereichsvorstandes der Fachgruppe Musik in ver.di.