Musikschulen sind ein in vieler Hinsicht besonderer Arbeitsplatz. Eine dieser „Besonderheiten“, nämlich die in Teilen entgrenzte Arbeitszeit von Musikschullehrer*innen, ist seit Jahrzehnten Realität und ein zunehmendes Problem. Der 13. September 2022 markiert nun diesbezüglich eine Zeitenwende. Das BAG hat gesprochen (Az. 1 ABR 22/21).
Grundsatzurteile werden in Deutschland nicht so häufig gefällt. Wenn doch, wird in den meisten Fällen damit für Klarheit der Auslegung bestehender gesetzlicher Regelungen gesorgt. Zuweilen werden im Zuge der Prüfung sogar Gesetze zur Novellierung an den Gesetzgeber „zurückgegeben“. Ein echter Paukenschlag ist es jedoch, wenn ein Bundesgericht, einen (vermeintlich) laufenden politischen Findungsprozess durch eine Entscheidung maßgeblich und richtungsweisend abkürzt. Aber von Anfang an.
Es geht um Arbeitszeit, genauer um die Erfassung von Arbeitszeit von Arbeitnehmer*innen. Die EU gibt mit ihren Richtlinien seit 1993 den Mitgliedstaaten diesbezüglich einen Rahmen beziehungsweise Mindestanforderungen für die entsprechende nationale Gesetzgebung vor. Zuletzt, mit nur wenigen und relativ wenig bedeutsamen Änderungen im Jahre 2003 mit der Richtlinie 2003/88/EG „über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“. Die nationale Entsprechung ist das deutsche Arbeitszeitgesetz (ArbZG).
An dieser Stelle muss klargestellt werden, dass Ausgangspunkt und Zielsetzung dieser gesetzlichen Bestimmungen einzig im Gesundheitsschutz von Arbeitnehmer*innen liegen. Der Gesundheitsschutz genießt seit jeher einen hohen Stellenwert. Entsprechend heißt es unter Punkt 4 der Präambel der EU-Richtlinie: „Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.“ und auch das ArbZG führt im § 1 aus: „Zweck des Gesetzes ist es, … die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland und in der ausschließlichen Wirtschaftszone bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten und die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern …“
Seit der Inkraftsetzung der EU-Richtlinie wurde seitens der Bundesregierung der Standpunkt vertreten, dass das ArbZG die europäischen Vorgaben bereits erfülle und daher keine Novellierung notwendig sei. Weder das vielzitierte „Stechuhr-Urteil“ des EuGH (Az. C-5/18) aus dem Jahre 2003 noch die umfangreichen Klarstellungen im Rahmen der „Mitteilung zu Auslegungsfragen in Bezug auf die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung“ von 2017 haben an diesem Rechtsempfinden etwas geändert. Erst die Ampelkoalition hatte sich zumindest im Rahmen des Koalitionsvertrags dazu verständigt, dieses Thema anzugehen.
Pflicht zur Dokumentation
Worin liegt nun aber der durch das Urteil des BAG klargestellte Aspekt? Es geht um die Pflicht des Arbeitgebers zur Dokumentation der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit. Während das ArbZG (vereinfacht dargestellt) lediglich zur Erfassung von Überstunden verpflichtet, stellte der EuGH fest, dass die Richtlinie die Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet eine gesetzliche Regelung zu schaffen, wonach alle Arbeitgeber die geleistete tägliche Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter durch ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ erfassen müssen. Überstunden im Sinne der Richtlinie ließen sich nämlich nur sinnvoll bestimmen, wenn die gesamte geleistete Arbeitszeit bekannt sei. Auch könnten Arbeitnehmer wegen schlechter Beweis-möglichkeiten von der Wahrnehmung ihrer Rechte abgehalten werden. Der Paukenschlag besteht also darin, dass das BAG quasi „en passant“ die diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH bestätigt hat. En passant deshalb, weil der ursprüngliche Rechtsstreit primär das Initiativrecht eines Betriebsrates zur Einführung einer digitalen Arbeitszeiterfassung betraf. Dieses wurde jedoch mit Verweis auf die bereits anzuwendende Regelung der EU-Richtlinie verneint.
Ohne damit der noch immer ausstehenden Urteilsbegründung des BAG vorauszugreifen, kann die Diskussion also ab jetzt wohl nicht mehr darüber geführt werden, ob eine solche umfassende Dokumentationspflicht des Arbeitgebers besteht, sondern nur, wie diese praktisch umgesetzt werden kann. In Anbetracht sehr vielfältiger branchenspezifischer Erfordernisse und zunehmend zeitlich und örtlich flexibler Arbeitsrealitäten wird das sicher nicht leicht werden. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass dies gerade bei der Frage der Begrenzung von Fremd- und ebenso der Eigenausbeutung im Sinne des Gesundheitsschutzes als ein entscheidender Schritt für Arbeitnehmer*innen notwendig ist.
Musikschule und Arbeitszeit
Und was bedeutet das nun für die Musikschullehrer*innen? Musikschulen sind ein sehr gutes Beispiel dafür, wie problematisch das Thema Arbeitszeit sein kann. Die Spezifik hat da vielfältige Aspekte: Die Wichtigsten in diesem Zusammenhang sind, dass neben der „sichtbaren“ Tätigkeit vor Ort (Unterricht, Konferenzen, Konzertbetreuung und ähnliches) in einem erheblichen Ausmaß auch „unsichtbar“, also etwa zuhause gearbeitet wird und darüber hinaus der Arbeitsanfall saisonal stark schwankt. Während in den Schulferien regelhaft nicht unterrichtet wird, ist die zeitliche Belastung phasenweise zum Beispiel in der Vorweihnachtszeit oder in der Vorbereitungszeit für Wettbewerbe extrem hoch.
Die bisherige Praxis der Arbeitszeiterfassung hat mit diesen Realitäten recht wenig zu tun. Im Hinblick auf einen befürchteten Organisationsaufwand einerseits aber ebenso auch einer durchaus verbreiteten, mehr oder weniger bewussten und zielgerichteten Ignoranz der Musikschulträger und/oder Musikschulleitungen, wird der Fokus der Zeiterfassung auf die reine Unterrichtszeit gelegt. Dabei wird die tatsächliche Arbeitszeit entweder gar nicht erfasst oder aber auf Basis sehr theoretisch und meist durch die Musikschulträger einseitig festgelegter Parameter und der Zahl der Unterrichtsstunden „errechnet“. Im Ergebnis wird also nicht die tatschliche individuelle Arbeitszeit erfasst, sondern nur eine theoretische Annahme pauschal für alle Kolleg*innen einer Musikschule angewendet. Mehrarbeit oder gar Überstunden können dadurch ungeachtet eventueller Realitäten selbstverständlich nicht entstehen. Dennoch stellen diese sehr theoretischen Arbeitszeitberechnungen beispielsweise aber die Grundlage für die sehr reelle Umlagepraxis des sogenannten Ferienüberhangs dar. Dabei wird die theoretisch durch die Differenz zwischen unterrichtsfreier Zeit in den Schulferien und Urlaubsanspruch entstehende „Arbeitsschuld“ umgelegt und muss durch eine Erhöhung der wöchentlichen Unterrichtsverpflichtung außerhalb der Schulferien herausgearbeitet werden.
Auch viele Kolleg*innen scheuen im Hinblick auf die zeitliche Zersplitterung der eigenen Tätigkeit im Tagesverlauf den Aufwand einer realen Arbeitszeiterfassung oder befürchten Beschränkungen oder Kontrollen bezüglich ihrer Zeitsouveränität. In der Folge ist trotz tariflicher Regelung ein „magischer“ Bereich von Arbeitszeit bei den Musikschullehrer*innen entstanden. Magisch, weil er unsichtbar ist. Magisch, weil er offenbar unbegrenzt ist. Magisch, weil in ihm Dinge und sogar Zeit verschwinden. Durchaus ähnlich einem schwarzen Loch. Obwohl es existiert, kann es unabhängig von seiner Größe nicht direkt beobachtet werden. Nur die Wechselwirkungen mit der Umgebung lassen sich beobachten.
Seit den ersten Tarifregelungen in den 60er-Jahren schlugen sich die besonderen Erfordernisse bei der Ausübung des Berufs von Musikschullehrer*innen in „Sonderregelungen“ nieder. Definiert wird eine zu erbringende Zahl von Unterrichtsstunden und weiter werden „sonstige Tätigkeiten“ (Zusammenhangstätigkeiten) aufgeführt, die im Rahmen des Berufsbildes innerhalb der Arbeitszeit aber eben zum großen Teil zuhause erbracht werden. Diese Zusammenhangstätigkeiten werden jedoch weder separat noch in ihrer Gesamtheit explizit quantifiziert. Die derzeitige Sonderregelung für die Kolleg*innen im Geltungsbereich des TVöD (TVöD, § 52) wurde fast wörtlich aus dem BAT (Bundes-Angestelltentarif) von 1961 übernommen.
Der seinerzeit gefundene Ausgleich beruflicher Notwendigkeiten und daraus resultierender persönlicher Einschränkungen einerseits, aber auch individueller Freiheiten andererseits hat unter den damaligen Bedingungen gut funktioniert und wurde aus Überzeugung von allen Beteiligten gelebt. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen der Arbeit an den Musikschulen seitdem teils grundlegend verändert: Fachlich zum Beispiel durch die Einführung verschiedenster Unterrichtsformen jenseits des Einzelunterrichtes, von Unterricht in Kooperationen mit und in anderen Einrichtungen und auch am Vormittag, die Realisierung von Inklusion und Integration in den öffentlichen Musikschulen. Aber auch abseits des eigentlichen Unterrichtsgeschehens fanden Entwicklungen statt. Im Zuge steigenden Spardrucks der Kommunen als Träger dieser „freiwilligen“ Aufgabe, sind die Schülerzahlen gestiegen, wurde zunehmend Unterricht an „freie Mitarbeiter“, sogenannte Honorarkräfte delegiert, die aber auf Grund vertraglicher Vereinbarungen für viele zu erledigende Aufgaben nicht zur Verfügung stehen. Dadurch wurde ein zusätzlicher Mehraufwand für die Angestellten generiert. Auch ist seit zirka 25 Jahren die Umlage des Ferienüberhangs mit bis zu weiteren 5 Unterrichtsstunden pro Woche „normal“ geworden und zuletzt wurde auch im öffentlichen Dienst die tarifliche Wochenarbeitszeit reduziert.
Risiko Arbeitsrealität
All diese Entwicklungen haben die Arbeitszeit der Kolleg*innen in ihrem Gesamtumfang erheblich ausgedehnt und darüber hinaus auch im Tagesverlauf zersplittert (sogenannte „geteilte Dienste“). Dennoch sind diese grundsätzlichen Veränderungen der Arbeitsrealitäten nach wie vor kein Grund für die Musikschulträger, das Thema Arbeitszeit für Musikschullehrer*innen neu zu betrachten. Dafür ist der Status quo wohl einfach zu bequem und betriebswirtschaftlich betrachtet zu vorteilhaft. Allerdings wurde damit auch Stück für Stück der ursprüngliche Konsens der Verteilung der Last der besonderen beruflichen Anforderungen einseitig aufgekündigt. Möglich wurde das durch in der Zwischenzeit eben nicht mehr zeitgemäße Formulierungen der tariflichen Bestimmungen, maßgeblich aber durch die diesbezüglichen, ebenso nicht mehr zeitgemäßen Regelung zur Arbeitszeiterfassung des ArbZG. Jede neue Aufgabe oder Herausforderung und damit zusammenhängende Pflichten „verschwanden“ im schwarzen Loch der Zusammenhangstätigkeiten. Keine Dokumentation bedeutet in der Folge, dass Arbeitszeit nicht mehr begrenzt sein muss, es kann praktisch niemals zu viel Arbeit werden, weil es eben auch keine Chance gibt, tatsächliche Inanspruchnahme nachzuweisen. Nur durch die daraus resultierenden Folgen lässt sich erahnen, wie die Realität aussieht.
Ein immer größerer Teil gerade der erfahrenen Kolleg*innen entscheidet sich für eine Teilzeitbeschäftigung, weil ihnen die steigende Belastung bei gleichgebliebenem Qualitätsanspruch von Musikschulen und Schüler*innen einfach zu groß geworden ist. Lieber wird auf einen Teil des Entgelts verzichtet, als den umgelegten Ferienüberhang abzuarbeiten. Immer häufiger wird mir die Frage gestellt, ob und wann man als Musikschullehrer*in eigentlich Freizeit hat. Fast schon gewohnheitsmäßig werden auch die Vorschriften für Pausen- und Ruhezeiten ignoriert, „weil es ja sonst nicht zu schaffen wäre“, „weil die Sache sonst nicht funktionieren kann“ oder gar „weil das bei uns schon immer so gewesen ist“. So oder so ähnlich lauten zumindest die Begründungen, die mir häufig in diesen Fragen entgegnet werden. Und das scheint sich in der Lebensqualität und Gesundheit der Lehrkräfte niederzuschlagen. Empirische Beobachtungen sind selbstverständlich subjektiv, gewinnen aber an Bedeutung und Gewicht, wenn sie durch Daten bestätigt werden, die etwa von Versicherungen im Zuge von Risikobewertungen erhoben werden, in diesem Falle durch Berufsunfähigkeitsversicherungen. Wenn Musikschullehrer*innen überhaupt versichert werden, dann in der höchsten Risikoklasse, gemeinsam mit den Kampftauchern der Bundeswehr zum Beispiel. Mit anderen Worten: die derzeitigen Arbeitsrealitäten stellen ein nicht unerhebliches gesundheitliches und damit existenzielles Risiko für die Musikschullehrkräfte dar.
Genau deshalb ist die Entscheidung des BAG so wichtig. Genau deshalb habe ich auch keine Angst vor den Konsequenzen. Nun endlich kann es nicht mehr als Begründung gelten, dass der Gesundheitsschutz in Form von Arbeitszeitdokumentation angeblich zu aufwändig oder auch nur zu unbequem ist. Im 21. Jahrhundert und zudem in einem Hochtechnologieland sollte das doch kein wirkliches Problem mehr sein …
Apropos … im Hinblick auf die jetzt anstehende Neufassung des ArbZG wird es höchste Zeit, auch in den Musikschulen aktiv zu werden. Die Einführung und Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung unterliegt der Mitbestimmung von Personal- und Betriebsräten. An Musikschulen ohne beziehungsweise mit nur „stellvertretender“ betrieblicher Vertretung (zum Beispiel bei Eingliederung der Musikschule in größere Dienststellen bzw. Betriebe) ist die aktive Mitgestaltung dieses Prozesses zwar nicht einfacher, aber umso wichtiger.
Gerade weil die Arbeitszeitgestaltung der Musikschullehrer*innen so kompliziert ist, bedarf es guter Überlegung aller Beteiligten, wie eine Arbeitszeiterfassung zwar einerseits vollumfänglich, objektiv und verlässlich, aber ebenso den betrieblichen und persönlichen Notwendigkeiten entsprechend realisiert werden kann. Ja, es ist vorstellbar, dass gewisse gelebte „Normalitäten“ in der bisherigen Form keinen Bestand mehr haben und entsprechend angepasst werden müssen. Auch werden im Zuge dieser Überlegungen unter Umständen weitere Themen in das Blickfeld geraten, wie zum Beispiel der Einsatz privater (mobiler) Endgeräte für dienstliche Belange. Eine Zeiterfassung über Apps auf privaten Handys wird kaum die Kriterien für Verlässlichkeit, Objektivität oder Datenschutz erfüllen können. Aber vielleicht ändert das auch den Blick auf unsere Arbeit. Den der Musikschulleitungen, den der Träger der Musikschulen, aber auch unseren eigenen Blick. Vielleicht müssen wir ja gar nicht gefühlt „24/7“ verfügbar und beschäftigt sein …
Und die Musikschulen?
Auch die Leitungen sollten sich nicht fürchten. Sie bekommen, so sie es denn wollen, ein Werkzeug in die Hände gelegt, welches auch gegenüber dem Träger die ewige Diskussion über vermeintlich gar nicht richtig arbeitende Musikschullehrer*innen beenden kann. Nun endlich kann ein Beleg erbracht werden, wenn mal wieder unterstellt wird, dass Musikschullehrer*innen zu wenig arbeiten oder zu viel Freizeit hätten. Jeder, der eine Minderleistung oder Mehrleistung unterstellt oder befürchtet, kann das nun objektiv belegen und entsprechend handeln.
Dieses „Stechuhr-Urteil“ ist ein Urteil mit vermutlich weitreichenden Folgen auch für die Arbeit von Musikschullehrer*innen. Es eröffnet aber auch eine der seltenen Gelegenheiten, den anstehenden Wandel mitzugestalten. Wo es hingehen wird, kann also auch durch uns mitgestaltet werden. Zumindest, wenn wir uns möglichst breit und mit unserer Expertise aktiv in die Prozesse einbringen.