Lara-Sophie und ihr Bruder Per-Ole gehen mit Papa und Mama nachmittags zu Oma ins Altersheim. Auf dem Weg dorthin sind alle ein bisschen traurig, denn letztes Jahr haben sie noch zusammen mit Opa und Oma zuhause Weihnachten gefeiert. Aber dann ist Opa plötzlich sehr krank geworden und gestorben. Oma wollte nicht mehr allein zuhause bleiben, weil sie sich dort so einsam fühlte.
Außerdem hat sie ein großes Plakat gelesen, auf dem stand, dass es jetzt auch Altersheime gibt, in denen mit den Alten ganz viel gemacht wird, damit es ihnen nicht langweilig wird. Auf dem Plakat stand auch eine Internetadresse, unter der man nachlesen konnte, was die Alten in diesen besonderen Heimen alles machen können, damit ihnen nicht langweilig wird, zum Beispiel etwas mit Musik.
Oma kennt sich mit dem Internet nicht so gut aus, also hat sie Per-Ole gefragt, ob er ihr hilft. „Klar, Oma“, hat Per-Ole gesagt. Schließlich hat Oma früher immer ein bisschen Geld zu seinem Geigenunterricht an der Musikschule dazu gegeben, damit er lernen konnte, „Stille Nacht“ mit elf und nicht nur mit vier Tönen wie im „JeKi“-Geigenunterricht zu spielen. Und tatsächlich haben Per-Ole und Oma im Internet gelesen, dass es in ihrer Stadt 45 Altersheime gibt, denen das Ministerium für Senioren, das Ministerium für Gesundheit und das Ministerium für Kultur Geld geben, damit sie ganz viel Musik mit den Alten machen können und es denen nicht langweilig wird. Das Projekt heißt „Musik macht alt – lebensverlängernde Potenziale musikalischer Betätigung nutzen!“.
In die Altersheime werden auch Wissenschaftler von Universitäten geschickt, die erforschen, wie viele Pfleger man einsparen kann, wenn sich die Alten ganz viel mit Musik beschäftigen. Denn es heißt, dass es bald in Deutschland ganz viele Alte geben wird und keiner weiß, wie die vielen Pfleger bezahlt werden sollen, die man für die vielen Alten braucht. Und immer, wenn irgendwas zu teuer wird, veranstaltet die Regierung ein Projekt, um zu erforschen, wie man alles billiger machen kann. Das ist ziemlich schlau von der Regierung, auch weil die Projekte meistens ein paar Jahre dauern und die Regierung dafür Leute als Projektarbeiter bekommen kann, die viel billiger sind als andere Arbeiter.
Die Projektarbeiter müssen auch einfach nicht weiterbeschäftigt werden, wenn das Projekt zu Ende ist. Wenn in einem Projekt alles erforscht ist, schreiben die Wissenschaftler von den Universitäten ein Buch darüber. Die Regierung liest das Buch und legt es dann auf einen dicken Stapel mit anderen Projekt-Büchern, der sich im Laufe des Regierens angesammelt hat.
Wenn der Bücherstapel zu hoch geworden ist, wird er in einen großen Turm eingeschlossen, und die Bücher werden nie mehr rausgeholt. Dann macht die Regierung ein neues Projekt, und so geht es immer weiter, weil die Regierung vergessen hat, dass das meiste schon in den Projektbüchern steht, die in dem Turm eingeschlossen sind. Oma freut sich über ihr Projekt-Heim, das sie sich ausgesucht hat. Dreimal in der Woche kommt die Musikschule auf Rädern. Da kommen Lehrer von der Musikschule und leiten die „80+ Chöre“. In denen dürfen aber auch Alte mitsingen, die noch nicht älter als achtzig sind, aber nur, wenn ihre Stimme sich jünger anhört. Die Alten können jede Woche auf einer Karte ankreuzen, in welchem Chor sie nächste Woche mitsingen möchten. Es gibt den Volkslied-Chor, den Schlager-Chor und den Erinnerungs-Chor für die Alten, die ganz schnell alles wieder vergessen, weil ihr Gedächtnis nicht mehr so gut funktioniert. Dort singen die Alten jede Woche dasselbe Lied ganz oft hintereinander. Außerdem gibt es am Wochenende immer einen Volkstanz-Abend. Da kommen Projektarbeiter von der Musikschule, die an dem Projekt „Tanzen im achten Lebensabschnitt“ teilnehmen. Außerdem dürfen die Alten in Omas Heim schon zum Frühstück Musik hören. Die Musik dürfen sie sich allerdings nicht selbst aussuchen, sondern die wird von Projektarbeitern der Musikschule zusammengestellt, die an dem Projekt „Ästhetisches Musikhören im Alter – mit guter Musik zum gesunden Körper“ teilnehmen. Denn schließlich soll die Musik ja auch nützen, damit die Alten länger gesund bleiben und noch mehr Pfleger eingespart werden können. Außerdem kommt jeden Nachmittag ein Projektarbeiter von der Musikschule in Omas Heim, der einigen Alten Klavierunterricht gibt. Dieses Angebot ist ein Teilprojekt des Projektes „Klavierspielen trotz Rheuma – heilende Energien synchroner Bewegung anwenden“. Daran dürfen nur die Alten teilnehmen, die Rheuma haben und ihre Finger nicht mehr so gut bewegen können. Oma hat kein Rheuma, deshalb darf sie daran nicht teilnehmen, aber sie ist trotzdem sehr zufrieden in dem Heim, und Papa und Mama sind erleichtert, weil es ihr dort so gut gefällt. Schließlich hört man ja oft nicht so Gutes über Altersheime.
Als Mama, Papa, Per-Ole und Lara-Sophie am Heiligabend das Altersheim betreten, riecht es viel besser als sonst – nach Tanne und Spekulatius statt nach altem Essen und Desinfektionsmitteln. Ein Projektarbeiter von der Musikschule, der bei dem Projekt „Weihnachten im Altersheim – mit bekannten Melodien zur Bescherung“ mitmacht, spielt im Speiseraum auf dem Klavier „Kling Glöckchen“ und andere Weihnachtslieder. Der Speiseraum ist festlich mit Tannenzweigen dekoriert, überall stehen bunte Teller mit extra weichen Keksen und Schnabeltassen mit koffeinfreiem Kaffee. In der Mitte des Raumes steht ein Plastik-Weihnachtsbaum mit Lametta, bunten Kugeln und elektrischen Kerzen. Überall sitzen fröhliche alte Frauen und wiegen sich im Takt der Weihnachtslieder. Manche singen ganz laut mit.
Oma kommt langsam durch die alten Frauen mit all den fröhlichen Gesichtern auf Mama, Papa, Per-Ole und Lara-Sophie zu. „Wie schön, dass ihr schon da seid“, sagt sie strahlend. „Dann habt ihr ja vor der Bescherung noch Zeit für meine Überraschung.“ „Was, du hast eine Überraschung für uns?“, fragt Mama ganz erstaunt. „Ja, kommt mal mit in mein Zimmer“, sagt Oma und geht schon mal voraus. Weil es ein Projekt-Heim ist, haben alle Alten so lange ein Einzelzimmer, bis das Projekt vorbei ist. Dann müssen sie wieder mit anderen Alten zusammen wohnen. Als sie alle schon fast an Omas Zimmer angekommen sind, bleibt Mama plötzlich stehen. „Was ist denn?“, fragt Lara-Sophie. „Da hinten, die Frau, die kenne ich doch“, sagt Mama und zeigt zum Ende des Flurs. Dort steht eine Frau mit einem Putzeimer und einem Schrubber und wischt den Boden. „Irgendwie kommt die mir auch bekannt vor“, sagt Lara. Sie gehen auf die Frau zu, und schon sagt Mama: „Sind Sie nicht Frau Hart-Zwier? Was machen Sie denn hier?“ „Lara-Sophie, Per-Ole!“, ruft die Frau. Es ist tatsächlich Frau Hart-Zwier, bei der Lara-Sophie und Per-Ole früher Geigenunterricht hatten, bevor sie aufs Gymnasium gegangen sind und dann mit Geigenspielen aufhören mussten, weil sie von morgens bis nachts ganz viel lernen mussten. Alle begrüßen sich herzlich. Nur Oma ist schon in ihr Zimmer gegangen. „Was machen Sie denn hier?“, fragt Mama Frau Hart-Zwier, „und was machen Sie mit diesem Putzeimer?“
Frau Hart-Zwier schaut beschämt zu Boden. „Ich wohne hier“, sagt sie leise. „Meine Musikschule macht nur noch Projekte, es gibt keinen richtigen Unterricht mehr wie früher. Ich habe siebenundzwanzig Fortbildungen für die ganzen Projekte gemacht, aber dann konnte ich nicht mehr. Man wird ja schließlich nicht jünger. Also habe ich mich geweigert, noch mehr Fortbildungen zu machen, und da konnte ich nur noch an dem Modellprojekt ‚Ressourcen nutzen – Synergien musikalischer und hauspraktischer Kompetenzen bündeln‘ teilnehmen. Alle Musikschullehrer, die das machen, bringen den Heimbewohnern irgendwas Musikalisches bei. Dafür bekommen sie kein Geld, sondern dürfen hier im Heim wohnen, und sie bekommen auch umsonst Essen.
An Feiertagen müssen sie außerdem putzen. Das machen außer mir noch viele andere ältere Musikschullehrer, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen. Ich mache bei dem Teilprojekt ,JAFlö‘ mit, das heißt ‚Jedem Alten eine Flöte‘. Ich bin zwar eigentlich Geigenlehrerin, aber die alten Leute können natürlich nicht so ein schwieriges Instrument lernen. So ein bisschen Flöte kann ja jeder spielen, also kann ich das auch unterrichten, und die Alten hören ja auch nicht mehr so gut. Die Miss-Lohn-Stiftung hat jedem Heim dreißig Plastikflöten für das Projekt geschenkt. Ich hätte ja Holzflöten schöner gefunden, weil die besser klingen, aber Holzflöten waren der Miss-Lohn-Stiftung viel zu teuer. Die haben auch gesagt, Plastikflöten kann man besser desinfizieren, wenn einer von den Alten ge… na, Sie wissen schon. Ich habe schon gemerkt, dass das Projekt gut läuft. Man braucht tatsächlich viel weniger Pfleger, weil die Alten es gar nicht merken, dass kein Pfleger für sie da ist, wenn sie beim Flöte Üben gerade im Flow sind. Je mehr Flow, desto weniger Pfleger, so einfach ist das. Und wir Musikschullehrer sind allemal billiger als Pfleger, weil wir ja kein Geld, sondern nur Wohnen und Essen brauchen. Also, ich glaube, das wird es bald auch in anderen Bundesländern geben, denn da gibt es ja auch genügend ältere Musikschullehrer und Altersheime.“
Betreten schauen sich Mama und Papa an. Schon früher, als Lara-Sophie und Per-Ole noch Unterricht bei Frau Hart-Zwier hatten, hat Mama den beiden oft einen Korb mit Wein und Kuchen für Frau Hart-Zwier mitgegeben, aber wenigstens hatte sie damals noch eine eigene Wohnung. Und ob das wirklich gesund für die Alten ist, wenn sie ganz viel Flöte üben, statt dass jemand rechtzeitig ihre Windeln wechselt, sie wäscht und ihnen ihr Essen und ihre Tabletten gibt? – In diesem Moment steckt Oma den Kopf durch die Tür. „Wo bleibt ihr denn, kommt doch endlich herein!“, ruft sie. „Wir wünschen Ihnen trotzdem frohe Weihnachten, machen Sie das Beste daraus“, sagt Mama zu Frau Hart-Zwier. Dann gehen alle zu Oma ins Zimmer. Oma steht schon bereit und hält eine Plastikblockflöte in der Hand. Und schon setzt sie an und spielt Mama, Papa, Per-Ole und Lara-Sophie etwas vor. Alle staunen, denn bisher wusste keiner, dass Oma überhaupt Flöte spielen kann. Dann sagt Lara-Sophie: „Oma, das klingt ja schon ganz gut. Aber ich habe die Melodie nicht erkannt.“ „Naja, das dachte ich mir schon“, sagt Oma. „Ich wollte Euch eigentlich ‚Stille Nacht‘ vorspielen. Ihr wisst ja, wie gern ich dieses Lied mag. Frau Hart-Zwier bringt uns allen Flöte spielen bei, aber ich kann erst vier Töne, so wie Ihr damals mit Euren, JeKi-Geigen, als Opa noch gelebt hat.
Aber ich verspreche Euch, weiter zu üben, und nächstes Jahr kann ich es bestimmt schon mit mehr Tönen. Außer wenn ich bis dahin Rheuma bekomme. Aber dann lerne ich es eben auf dem Klavier.“ Und dann singen sie wie jedes Jahr alle zusammen „Stille Nacht“ mit allen Strophen.