Wir berichten hier nochmals über die Tage der Neuen Chormusik, weil diese Veranstaltung die Arbeit unseres Verbandes im letzten Jahr stark geprägt hat.
„Nur neue Chormusik – das wird sicher ganz trocken und langweilig!” Klingt nicht gerade nach Neugierde oder Spannung vor einer solchen Veranstaltung. Da waren die Vorbereitungen schon mal interessanter: Idee und Vision eines solchen Projektes diskutieren, Stadt und Aufführungsorte aussuchen, Inhalte konzipieren, Chorleiter wählen, Chöre zuordnen, Komponisten und Referenten ansprechen, Sponsoren überzeugen, Mitarbeiter bei der Stange halten – das hätte ein jedes andere festivalähnliche Geschehen auch sein können.
Hier nun: Idee und Vision: ohne Kurt Suttner nicht zu denken; Stadt und Aufführungsorte: passten genau; Inhalte: anspruchsvoll; Chorleiter: kompetent; Chöre: in beiden Lagern, ob semi-oder professionell oder Laien: hervorragend; Komponisten und Referenten: hochkarätig; Sponsoren: ohne sie nicht durchführbar, mit Hoffnung auf die nächsten Jahre; Mitarbeiter: ohne Beispiel gut.
Es hätte trotz allem trocken und langweilig werden können, wenn man an die trockenen Brötchen beim Empfang der Stadt Aschaffenburg im Rathaussaal denkt... Dass aber genau dies nicht der Fall war, lag nicht nur an ein paar Kleinigkeiten, wie beispielsweise, dass kurz vor Beginn des Kinderchorkonzertes ein Busfahrer schnell noch motiviert werden musste, die Fahrt eines anderen Busses, dem die ganze Elektronik ausgefallen war, sofort
zu übernehmen, dass der Pastor der Stiftskirche extra sein Kirchenklo aufschliessen musste, weil es offenbar Profis nicht zugemutet werden kann, knapp 50 Meter bis zum Rathaus zu gehen. Dass fieberhaft für ein kleines Schnapsglas mit Stil, nicht höher als... und nicht niedriger als... gesorgt werden musste, damit beim Nachtkonzert die Glasharfe auch vollständig vor jedem Sänger steht.
Das Restaurant erwies sich nach langem Suchen als Fundstelle. Es lag natürlich auch daran, dass es einfach aufregend war, einen Rihm neben einem Gesualdo zu hören und nach und nach zu entdecken, dass beide Komponisten doch nicht so weit voneinander entfernt sind. Da nahm sich der Schnittke mit den zwölf Buß-Psalmen eher klangvoll-wohltätig aus. Trocken? Keineswegs. „Nur“ spannend. Die Schöpfung von Herrn Bialas, immer wieder den schweren „Friede auf Erden“ von Herrn Schönberg, den „Zauberwald“ von Herrn Koerppen, die Mahler-Bearbeitungen für gemischten Chor – wann kann man sie schon so direkt und bewegend schön hören?
Trocken? Keineswegs. „Nur“ intensiv: Der Vortrag von Herrn Gottwald zum Thema des Wochenendes war lebendig, interessant, anregend und fesselnd.
Trocken? Keineswegs. „Nur“ einfach so gut, dass er in den „Intervallen“ gleich für alle, die nicht dabei gewesen sind, gedruckt wurde. Machbare Patterns für Jugendchöre, singbare Stücke für Frauenchor, neue Formen der Notation, populäre Musik bei Kiddies: jeder Chorleiter wäre schön dumm, sich nicht sofort für seinen Bereich einzudecken mit Literatur und Anregungen. Trocken? Keineswegs. „Nur“ wichtig. Das Nachtkonzert, schon mit Bedacht in den späten Abend und einen kleineren Saal gelegt (da kommen eh’ nur die Intellektuellen!), hatte sich der „richtig“ modernen Musik, der Avantgarde gewidmet. Wie gut, dass man dicht davor saß und zugucken konnte. So war man im Stande, nicht nur hörend zu verfolgen, wer die Stimmgabel oder die Glasharfe betätigte, wer wieder dran war mit Rufen, Schreien und sogar auch mal mit Singen, wer das Cello oder die Geige (ja, auch das gab es zwischendurch) kräftig in die Mangel nahm, sondern auch, wie sich Texte auf neue Weise darstellen ließen und Atmosphäre schufen. Die Stimme war hier dem Instrument weit überlegen – oder sind wir durch die Chormusik nur auf das Stimmorgan eingestellt? Trocken? Keineswegs. „Nur“ lebendig wie das Leben selbst: bunt und interessant.
Wie das Leben selbst waren natürlich auch die Kinder-und Jugendchöre. Selbstverständlich können Kinder moderne Chormusik viel schneller, besser und leichter lernen als wir Erwachsenen. Wie schon oft gehört, ausprobiert und erfahren: für Kinder ist Mozart ebenso neu wie Penderecki, ein Volkslied eben so neu wie ein Popsong, eine normale Melodie ebenso neu wie ein Rascheln, Flüstern oder Knallen. Dass aber bei aller Lust an modernen Klangereignissen ein sauberer Dreiklang bei den Kleineren nun mal viel schwerer zu singen ist als vermeintlich „schräge“ Töne, war dennoch neu.
Trocken? Keineswegs. „Nur“ eben dicht dran am Leben. Uraufführungen haben immer ein gewisses Spannungsflair. Jeder ist neugierig, schon von vornherein aufmerksam, zugewandt und fast schon vorher bewertungsbereit. Bei der Uraufführung von Herrn Jennefelt für diesen Anlass wusste so mancher schon, was ihn erwarten könnte und – wurde keineswegs enttäuscht. Auch die Diskussionsrunde am Schluss der Veranstaltung, behutsam und gekonnt moderiert, zeigte die Notwendigkeit, Sorgfalt und Ernsthaftigkeit der so wichtigen Auseinandersetzung mit moderner Chormusik.
Die Aussage vom Anfang: trocken oder nicht? Sie erübrigt sich nach den „Tagen der Neuen Chormusik“ in Aschaffenburg 2003.