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Welten der Entdecker

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Zum 100-jährigen Jubiläum der Zeitschrift MIKROKOSMOS
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Wenn man einen Stein anfasst, strahlt die Kühle und Mächtigkeit. Zerkrümelt man schweren Boden zwischen den Fingern, riecht man den eigentümlichen Duft der Erde. Betrachtet man den Samenstern des Löwenzahns, explodiert eine unbegreifliche, faszinierende Welt. Und doch ist alles, was wir se-hen, fühlen, riechen, nur eine winzige, schwach schimmernde Spektrallinie im grellen Licht des Lebens. Vieles um uns herum können wir nicht wahrnehmen. Oft fehlen uns die Sensoren, das Instrument in unserm Kopf. Nicht selten aber sehen wir es nicht, obwohl wir es sehen könnten. Unser Gehirn arbeitet zielgerichtet. Suchen wir die kleine blaue Blume in dem großen Pflanzenmeer einer Wiese, werden wir sie finden. Ohne Suchauftrag aber bleibt sie verborgen. Je mehr Suchaufträge eingespeichert werden, umso mehr Entdeckungen machen wir.

In hellweißen, lichtdurchströmten Räumen stehen die Augen und Ohren der Wissenschaft. Apparate verstärken die Sinne, die Welt des Mikro- und Makrokosmos wird erlebbar. Kleinste Mengen eines Stoffes sind wägbar und unsichtbare Strahlen messbar. Die Naturwissenschaft hat die Spektrallinie des menschlichen Geistes merklich dicker gemacht. Wer die Welt einmal durch ein Mikroskop betrachtet, wird verstehen, was das heißt. Das behäbige Kriechen einer Amöbe, das hektische Strudeln der Wimpertierchen, die Symmetrie der Zieralgen und die fast unheimliche, bis heute noch nicht restlos verstandene Fortbewegung der Kieselalgen.

„Schulung der Sinne“ – unter diesem Begriff lassen sich die kulturelle und die naturwissenschaftliche Bildung zusammenfassen. Geht es doch jeweils darum, genau hinzusehen, genau hinzuhören, genau zu beobachten, genau nachzumachen, genau nachzuzeichnen. In den bildungspolitischen Debatten wird aber oftmals getrennt zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften. Bereits in der Schule gibt es die Unterscheidung zwischen den vermeintlich wichtigen Hauptfächern wie Mathematik und den verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen einerseits und den Nebenfächern wie Kunst, Musik oder Darstellendes Spiel andererseits. Dass diese Gegenüberstellung von einem verkürzten Bildungsverständnis geprägt ist, soll diese Ausgabe von kultur · kompetenz · bildung zeigen. In diesem Jahr wird die Zeitschrift MIKROKOSMOS 100 Jahre alt. Sie wurde im Jahr 1907 mit dem Ziel gegründet, breiten Bevölkerungsschichten den Zugang zur Mikro-
skopie und damit zur Schönheit der Kleinstlebewesen zu ermöglichen. Sie war getragen von einem volksbildnerischen Impetus. Sie richtete sich bewusst an interessierte Laien und ist noch heute eine Zeitschrift, in der sowohl interessierte Laien, die sich der Mikroskopie als Hobby verschrieben haben, als auch Fachwissenschaftler ein Forum finden. In dieser Breite ist die Zeitschrift einmalig. Einmalig ist sie unter anderem auch deshalb, weil sie als eine der wenigen naturwissenschaftlichen Zeitschriften, die in einem renommierten Fachverlag erscheinen, durchgängig in deutsch publiziert wird. Damit bleibt gewahrt, dass auch weiterhin Laien die Zeitung nicht nur lesen, sondern auch darin veröffentlichen und, das sollte dabei nicht vergessen werden, dass Deutsch als Wissenschaftssprache noch eine kleine Überlebensnische mehr hat. Das Faszinierendste an MIKROKOSMOS aber sind seine Abbildungen. Kunstwerke aus dem Reich des Lebens im Wassertropfen. Schönheiten gefunden in den Mikrostrukturen eines Blattes oder auf der Oberfläche des Chitinpanzers eines Käfers.

Wir können hier nur einen sehr schwachen Eindruck von der Qualität der Abbildungen geben, da der schwarz-weiße Zeitungsdruck mehr nicht zulässt. Wer interessiert und mit ein wenig Geduld durch ein Mikroskop blickt, wird eine unendlich große Welt im Kleinen entdecken. Ihm wird eine erstaunliche Formenvielfalt offenbar werden. Wer versucht, die Entdeckungen zu zeichnen, wird feststellen, wie schwierig es ist, der Schönheit und dem Formenreichtum gerecht zu werden. Genauso wie es Geduld und Erfahrungen bedarf ein Bild, eine Symphonie, ein Theaterstück oder ein Buch zu lesen, bedarf es auch genau dieser Fähigkeit, wenn man die Natur beobachten will. Die großen Entdecker Carl Friedrich Philip von Martius, Alexander von Humboldt und andere haben es vorgemacht: Wer die Welt entdecken will, muss seine Sinne schulen. Er muss mit Interesse zuhören, den Tieren, den Menschen, den Mythen, der Kunst. Er muss mit Interesse beobachten, die Pflanzen, die geografische Gestalt, die Riten der Menschen. Er muss von dem, was er gesehen hat, berichten und erzählen können. All dieses vermittelt sowohl die kulturelle als auch die naturwissenschaftliche Bildung. Wie nahe beides zusammenliegt, zeigen die nachfolgenden Beiträge.

Es ist noch gar nicht solange her, dass Naturwissenschaft, Kunst und Religion eine Einheit bildeten. Mit der Aufklärung kam die Separierung. Das brachte Freiheit, viele, sehr viele Kunstwerke und viele, sehr viele wissenschaftliche Erkenntnisse sind nur deshalb möglich geworden. Aber es brachte auch Beziehungslosigkeit der Disziplinen untereinander, die auch, das wird immer deutlicher, neue Erkenntnisse behindern. Diese Beilage soll eine Tür in eine vermeintlich andere Welt öffnen, die, betrachtet man sie genauer, nur eine andere Sicht der eigenen Welt ist.

Für Künstler ist der Blick in das Reich der Naturwissenschaft schon immer Passion gewesen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse sind immer im Wissenshorizont von Kunst gewesen. Die Naturwissenschaftler entdecken im zunehmenden Maße die Kunst als Inspirationsquelle, um schwierige naturwissenschaftliche Fragen besser lösen zu können. Für die Mikroskopierer, genauso wie für die Astronomen, waren und sind die Kunst und die Religion aber immer schon sehr nah. Wer das Wunder im ganz Kleinen wie im ganz Großen betrachtet, die Schönheit im Wassertropfen wie die Schönheit in der Milchstraße, muss sich selbst Fragen beantworten, auf die die Naturwissenschaft alleine keine befriedigende Antwort gibt.

Kunst und Wissenschaft sind die Säulen der menschlichen Entwicklung, hier wird das Suchen, das Entdecken zur Passion. Diese „Welten der Entdecker“, wo sich Kunst und Naturwissenschaft begegnen, interessieren mich schon seit meiner Jugend. Deshalb dieser Schwerpunkt zum 100-jährigen Jubiläum der Zeitschrift MIKROKOSMOS.

Mein herzlicher Dank bei der Erstellung dieser Ausgabe gilt Prof. Dr. Klaus Hausmann, Herausgeber des MIKROKOSMOS und Leiter der Arbeitsgruppe Protozoologie an der Freien Universität Berlin, sowie seiner Mitarbeiterin Dr. Renate Radek. Ohne deren Engagement hätte die Ausgabe nicht realisiert werden können.

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