Die ersten „Tage der Neuen Chormusik“ in Aschaffenburg sind erfolgreich über die Bühne gegangen. Der Arbeitskreis Musik in der Jugend, die Stadt Aschaffenburg und das Internationale Chorforum konnten mit etwa 100 Teilnehmern aus der Bundesrepublik und vielen örtlichen Konzertbesuchern eine gute Resonanz verbuchen. Ines Stricker hat sich einen Eindruck von den „Tagen der Neuen Chormusik“ verschafft.
Der Kleine Saal in der Aschaffenburger Stadthalle ist gut besucht: Zirka 100 Chorleiter aus der ganzen Bundesrepublik haben sich in Aschaffenburg zu den ersten „Tagen der Neuen Chormusik“ eingefunden. Viele waren schon beim Eröffnungskonzert mit dem SWR-Vokalensemble in der Stiftskirche am Abend zuvor, jetzt steht der Einführungsvortrag „Die Neue Chormusik – Wurzeln, Stationen, Ausblicke“ des Stuttgarter Musikwissenschaftlers, Chorkomponisten und -dirigenten Clytus Gottwald auf dem Programm. Gottwald informiert und unterhält seine Zuhörer mit Anekdoten und Ausführungen über das Verhältnis zwischen Chormusik und zeitgenössischer Szene, das bis zum Jahr 1918 ein absolut selbstverständliches war. Chormusik war eine eigenständige Form des Musikmachens, die sich entschieden von der Instrumentalmusik distanzierte. Erst im 20. Jahrhundert umgab den Chorgesang ein Geruch reaktionärer Vereinsmeierei, gegen den sich viele Komponisten wie Schnebel, Holliger und Lachenmann in der Zeit nach 1950 wehrten.
Hemmschwellen abbauen
Trotzdem: Abgesehen von Berufschören, einigen Spezialensembles und sonstigen ambitionierten Chören (von denen einige in Aschaffenburg auftraten) ist der Anteil an moderner und zeitgenössischer Musik in der deutschen Chorszene mit ihren etwa 60.000 größeren und kleineren Ensembles, ihren Sängerbünden und Vereinen gegenwärtig immer noch viel zu niedrig. Und in der Öffentlichkeit wird Chormusik ohnehin nur am Rande wahrgenommen. Ein Grund für den AMJ der Basis, also den vielen Schul-, Kirchen- und sonstigen Chorleitern, neben hochkarätigen Konzerten auch ein pädagogisches Rahmenprogramm mit Vorträgen und Workshops anzubieten, das Hemmschwellen in Bezug aufs neue und zeitgenössische Musik abbauen soll.
Auch wenn das geplante Highlight, ein Interpretations- und Dirigierkurs mit Manfred Schreier, krankheitsbedingt entfallen musste: Es gibt in Aschaffenburg Stoff genug für Auseinandersetzung. Erst einmal in der reinen Anschauung, also den öffentlichen Proben der an den Konzerten beteiligten Chöre: Neben dem auf neue Musik spezialisierten via-nova-chor München unter Kurt Suttner sind es der von Gudrun Schröfel geleitete Mädchenchor Hannover, Wolfgang Seeligers Konzertchor Darmstadt und die SCHOLA Heidelberg unter Leitung von Walter Nußbaum mit einem avantgardistischen Repertoire.
Aber am meisten lernt man doch in den praxisorientierten Veranstaltungen. Besonders gelungen sind vom Konzept her die so genannten Reading-Sessions für verschiedene Besetzungen wie Kinder- und Schulchor, gemischten Chor, Frauenchor und Populärchor: Hier tragen kleine Ensembles Auszüge aus Werken des 20. und 21. Jahrhunderts vor, die Teilnehmer lesen im vorher ausgeteiltem Notenmaterial mit, zum Teil singen sie auch einige Werke an. Burkhard Kinzler, Chorleiter und Komponist, der in der Reading-Session für gemischten Chor ein Repertoire von Ives und Schönberg bis hin zu Werken mit Rap-Elementen vorgestellt hat, ist von dem pädagogischen Ansatz überzeugt: „Was man nicht kennt, studiert man nicht von selber; deswegen ist es ganz besonders wichtig, dass es sich zunächst mal an Chorleiter richtet.“ Und Werner Glöggler, Gymnasiallehrer und Referent der Reading-Session für Kinder- und Schulchor, ergänzt, wenn auch zugegebenermaßen provokativ: „Ich hab das Gefühl, dass es häufig die Chorleiter sind, die eine gewisse Ablehnung schon von vorneherein mitbringen, die das Risiko nicht eingehen wollen.“
Notation im Wandel
Die Aschaffenburger Teilnehmer kann Glöggler allerdings nicht gemeint haben, denn die zeigen sich äußerst interessiert. Beispielsweise beim Vortrag „Neue Formen der Notation in zeitgenössischer Chormusik“ des Düsseldorfer Chorleiters und Hochschulprofessors Raimund Wippermann. Der stellt anhand von Noten- und Klangbeispielen dar, inwiefern sich die Notation von Chormusik seit den 1960er-Jahren an die stimmlichen Experimente und Erfordernisse der damals entstehenden Werke anpasste (eine Sache der Gewöhnung, teilweise fällt es schwer, dem Musikverlauf zu folgen) und lässt schon einmal die Zuhörer aus der an die Wand projizierten graphischen Notation einen Cluster singen.
Aber trotzdem ist es nicht immer leicht, für den eigenen Chor angemessene, das heißt singbare Literatur zu finden. Der AMJ regt daher auch die Zusammenarbeit von Komponisten und Chören an und hat in seine ersten „Tage der Neuen Chormusik“ in Aschaffenburg das seit 1996 bestehende Projekt „Komponistinnen und Komponisten schreiben für Kinder- und Jugendchöre“ integriert. Vier junge Chöre singen im Aschaffenburger Stadttheater Werke, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Thomas Gabriels eher unterhaltungsmäßig angehauchtem Werk „Die Länder der Sterne“ auf einen Text von Hugo von Hofmannsthal folgt der „Jandl-Zyklus“ von Minas Borboudakis mit Summ-, Flüster- und Sprechpassagen, dem ernsten „war je ein mensch“ von Ulrich Hiestermann, Stefan Kalmers groovendes „Eins in Zwei“ unter Begleitung von Altsaxophon, Bassgitarre und Perkussion. Auch aufgeschlossene Interpreten haben es nicht immer leicht mit der Neuen Musik, selbst wenn sie ihnen auf den Leib geschrieben wird: Karl-Ludwig Kramer etwa, der den Chor des Ubbo-Emmo-Gymnasiums Leer leitet, bekennt im Ergebnisgespräch am nächsten Morgen, beim ersten Durchsehen der Partitur von Ulrich Hiestermann erst einmal „tief durchgeatmet“ zu haben. Und die jungen Sänger geben zu, dass der Hofmannsthal´sche Text zunächst schon ein „hartes Brot“ gewesen sei. Aber beim Einstudieren und in der Auseinandersetzung mit dem Text habe sich der Chor mit dem Stück identifizieren können.
Gleiches gilt für den Kinderchor Viva Vocina aus München, dessen jungen Sängerinnen und Sänger zwischen neun und 13 Jahren der Jandl-Nonsensse in Verbindung mit teilweise graphischer Notation zunächst schwierig erschien. Schließlich hatten sie aber Spaß an den „verrückten Stücken“. Manchmal, lässt Chorleiterin Marita Burkhart durchblicken, sei auch etwas Druck nötig, um die Kinder und Jugendlichen zur ungewohnten Arbeit an der Neuen Musik zu bringen. Auf den kann der Kammerchor Saarbrücken unter seinem Leiter Georg Grün locker verzichten. Beim Abschlusskonzert in der Aschaffenburger Stadthalle stellen sie das Auftragswerk an den schwedischen Komponisten Thomas Jennefelt vor, die „Gesänge am ersten Abend des Krieges“. Jennefelt hat den Titel für sein Werk aus Anlass des drohenden Irakkriegs gewählt. Ein willkommenes Zeichen dafür, dass die Chormusik von ihrer Selbstwahrnehmung her längst in der Gegenwart angekommen ist.