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Patricia Parisi und ihr Publikum im „Milchsalon“, einer Konzertreihe für Kinder. Foto: Christina Kratsch
Patricia Parisi und ihr Publikum im „Milchsalon“, einer Konzertreihe für Kinder. Foto: Christina Kratsch
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Offene Ohren verdienen gute Musik

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Die Kindermusik-Szene ist im Wandel und braucht konstruktiv-kritische Begleitung · Von Thomas Hartmann
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Über lange Zeit galt das Kinderlied als eine musikalische Kunstform, um die man besser einen weiten Bogen macht. Das ändert sich gerade. Zum Glück, denn bislang wurde das künstlerische und kulturelle Potenzial des Kinderlieds längst nicht ausreichend anerkannt und gewürdigt. Betrachtet man das Musikverständnis von Kindern als einen ungeschliffenen Rohdiamanten, dann ist gute Kindermusik ein geeignetes Werkzeug, um ihn zu einem strahlenden Brillanten zu machen.

Ein kurzer Selbsttest zum Einstieg ins Thema: Welche Kindermusik-Interpret*innen kennen Sie? Wem auch immer ich diese Frage stelle – fast immer erhalte ich die gleiche Antwort darauf: Rolf Zuckowski. Ohne Zweifel hat sich der inzwischen 74-jährige Musiker in besonderer Weise um das Kinderlied verdient gemacht. Angesichts der Tatsache, dass die Hochphase seines Schaffens als Kindermusiker aber bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegt, ist es erstaunlich, dass es bislang offenbar niemandem so recht gelungen ist, ihm seinen Platz auf dem Kindermusik-Thron streitig zu machen. Neben Rolf Zuckowski zählten vor allem Detlev Jöcker und Volker Rosin zu den wenigen, kommerziell erfolgreichen Musiker*innen für Kinder. Deren im seichten Schlagersound umgesetzten Spiel-, Bewegungs- und Lernlieder fanden über viele Jahre hinweg reißenden Absatz. Mehrere Millionen Tonträger haben die beiden Musikanten im Laufe ihrer Karriere verkauft und so den Ruf der Gattung Kindermusik entscheidend geprägt – leider nicht unbedingt positiv. Im Schatten dieser „Stars“ entwickelte sich zwar auch eine unabhängige Kindermusikszene, doch häufig formulierten auch deren Vertreter*innen mehr pädagogische Ansprüche an das Kinderlied, als dass sie durch musikalische Qualität zu überzeugen vermochten. Gepaart mit einer historischen Last, die eng an die politische Vereinnahmung des Kinderlieds im Dritten Reich gekoppelt ist, hält sich bis heute hartnäckig das Narrativ, dass Kindermusik keine ernst zu nehmende Kunstform sei. Sie wird belächelt, verschmäht und verachtet, doch ernst genommen wird sie nur selten.

Talentfreie Produktionen dominieren den Markt

Paradoxerweise besteht parallel zu diesem Zustand aber ein nie dagewesenes Interesse an guter Kindermusik. Denn mehr als jemals zuvor formulieren auch Eltern qualitative Ansprüche an die Lieder, die eigentlich an ihre Kinder adressiert sind. Oft verzweifeln sie jedoch daran, dass es anscheinend keine gehaltvollen musikalischen Angebote für die jüngste Zielgruppe gibt. Wer sich dem Kindermusikmarkt mit unbedarftem Blick nähert, der wird Schwierigkeiten haben, dort relevante Entdeckungen zu machen. Dominiert wird er nämlich von uninspiriert zusammengestellten Compilations, sowie von talentfrei umgesetzten Produktionen, die das offenbar an Bewegungsmangel leidende Kind zum Hüpfen, Tanzen, Singen und Springen animieren wollen. Kindermusik, die in der musikalischen Umsetzung künstlerische Ansprüche formuliert und sich inhaltlich auf Augenhöhe zu den jungen Hörer*innen begibt, kennen dagegen nur die wenigsten.

Dabei gibt es diese Art von Kindermusik. Selbst wer sich nur oberflächlich mit der Szene beschäftigt, wird zumindest schon einmal von der Band „Deine Freunde“ gehört haben. Vor rund zehn Jahren begann das Hamburger Trio, die grundlegenden Stilmerkmale aus dem Hip-Hop auf das Kinderlied zu übertragen und hat sich so innerhalb kürzester Zeit in die Herzen von Kindern und deren Eltern gespielt. Wie kein zweiter Kindermusik-Act stehen „Deine Freunde“ für die Grund­idee des Family-Entertainments, die da lautet: Wenn es den Kindern gefallen soll, dann muss es auch deren Eltern gefallen. Diese Faustregel ist nicht unumstritten, denn im schlechtesten Fall sorgt sie dafür, dass die Bedürfnisse von Kindern den Ansprüchen der Erwachsenen untergeordnet werden. Im besten Fall leitet sich aus der Erwartungshaltung musikbegeisterter Eltern aber ein neues Qualitätsverständnis für Kindermusik ab – und die Band „Deine Freunde“ markiert dabei allenfalls die Spitze des Eisbergs.

Neue Maßstäbe, frische Impulse

Längst ist das über lange Zeit geschlossen wirkende System Kindermusik durchlässig geworden. Neue Akteure drängen hinein und bereichern es mit frischen künstlerischen Impulsen. Genussvoll werfen sie die traditionellen Spielregeln über den Haufen und definieren neue Maßstäbe für das zeitgemäße Kinderlied. Die „Muckemacher“ machen Global-Pop für Kinder, Johannes Stankowski bringt einen nostalgischen Vintage-Sound ins Kinderzimmer. Die Band „Randale“ pflegt ihre punkige Attitüde, während „Sukini“ eine starke feministische Perspektive in das Kinderlied bringt.

Nur vier Beispiele, die exemplarisch für die wachsende Vielfalt und Professionalisierung der Kindermusik-Szene stehen. Es sind vielleicht noch nicht hunderte, wohl aber mehrere dutzend Künstler*innen und Bands, die die Gattung überzeugend bereichern und sie aus ihrem engen künstlerischen Korsett befreien. Manche von ihnen engagieren sich schon seit fast zwei Jahrzehnten für gute Kindermusik, wurden vom Radar musikinteressierter Eltern bislang aber kaum erfasst. Hinzu kommen neue Compilations wie „Unter meinem Bett“ oder „Giraffenaffen“, die mit der Unterstützung prominenter Interpret*innen ihren Teil dazu beitragen, dass das Kinderlied aus seiner verstaubten Nische herausgeholt wird und öffentlich mehr Beachtung findet. Kurzum: Die Behauptung, es gäbe hierzulande einfach keine gute Kindermusik, lässt also eher auf den Unwillen schließen, sich sorgfältig mit der Szene auseinanderzusetzen.

Doch ich gebe zu, die Abgrenzung zwischen guter und schlechter Musik wirkt unseriös und womöglich auch unsympathisch. Kaum jemand würde sich anmaßen, in ähnlicher Weise darüber zu urteilen, wie gute Musik für Erwachsene zu klingen hat. Die stilis­tische Bandbreite ist groß, Genres sind vielfältig und Geschmäcker naturgemäß verschieden. Warum also maße ich mir an, qualitative Urteile über Kindermusik zu fällen? Im Wesentlichen aus zwei Gründen: Zum einen, weil Kinder in der Regel nicht in der Lage sind, begründete Urteile über Musik zu fällen. Zum anderen, weil die Musik ihrer Kindheit sie im besten Fall dazu befähigt, genau das zu erlernen. Wenn wir die Perspektive ändern und nach den spezifischen Potenzialen von Kindermusik fragen, dann ergeben sich mindestens drei gute Gründe für die Wertschätzung der Gattung – und zugleich drei Kriterien, die das gute Kinderlied kennzeichnen:

Kindermusik als frühe Stilbildung

Fälschlicherweise wird Kindermusik oft als ein eigenes musikalisches Genre bezeichnet. Tatsächlich existiert innerhalb der Gattung Kindermusik aber eine ähnlich große stilistische Bandbreite, wie wir sie von Musikangeboten für Erwachsene kennen. Das einzige Kriterium, das den Unterschied von Kindermusik zu anderen Gattungen definiert, ist die ins Visier genommene Zielgruppe. Zugleich gilt es als erwiesen, dass gerade die Kindheit von einer überaus toleranten Einstellung gegenüber unkonventioneller Musik gekennzeichnet ist – Musikpsycholog*innen sprechen in diesem Kontext von „Offenohrigkeit“. Gute Kindermusik macht sich diese beiden Erkenntnisse zu Nutze. Sie nimmt Kinder als anspruchsvolle Hörer*innen ernst und fördert ein Musikverständnis, das von stilistischer Vielfalt und künstlerischer Authentizität geprägt ist. Damit legt sie den Grundstein für die Entwicklung einer individuellen musikalischen Anspruchshaltung, die Kinder für ihr ganzes weiteres Leben prägen wird. 

Kindermusik als politische Bildung

Das Kinderlied in den Kontext politischer Bildung zu stellen, mag zunächst irritieren – schließlich hat die Vergangenheit hinreichend gezeigt, wie viel Schaden die politische Vereinnahmung des Kinderlieds anrichten kann. Das politische Kinderlied möchte aber weder belehren, noch aufklären und verzichtet überdies auf die Reproduktion überholter Klischees und Stereotypen. Stattdessen nimmt es Kinder als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswelt ernst und vermittelt ihnen Botschaften, die von Mündigkeit, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung handeln. Diese Haltung sollte gemeint sein, wenn Kindermusiker*innen von einer Begegnung mit ihrer Zielgruppe „auf Augenhöhe“ sprechen. Natürlich ist das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen immer von Abhängigkeiten und pädagogischer Einflussnahme geprägt. Erziehung sollte dabei aber als Hilfe zur Ermächtigung verstanden werden. Gerade im Kinderlied lässt sich dieser Anspruch hervorragend umsetzen – nicht nur ernst und abstrakt, sondern ganz besonders auch humorvoll.

Kindermusik als Bestandteil von kultureller Bildung

Im Kontext kultureller Bildungsformate wird das Kinderlied bislang weitestgehend ignoriert. Im Bereich der klassischen Musik werden Kinder als Zielgruppe dagegen geradezu umgarnt. In zahlreichen Education-Programmen wird viel Arbeit und Geld in kindgerechte Vermittlungsangebote inves­tiert, um möglichst früh das kindliche Interesse an so genannter „Hochkultur“ zu wecken. Angesichts der inzwischen weitestgehend als überholt geltenden Unterscheidung zwischen ernster und unterhaltender Musik (E- und U-Musik), wirkt dieses einseitige Bemühen allerdings alles andere als zeitgemäß. Kindermusik ist ein elementarer Bestandteil von kultureller Bildung. Ein Kulturverständnis, das dem Kinderlied seinen künstlerischen Anspruch abspricht, verkennt dagegen dessen Potenzial als niederschwelliges Einfallstor in die Welt ästhetischer Erfahrungen.

Drei gewichtige Aspekte, die den besonderen Stellenwert von Kindermusik begründen. Es wäre jedoch falsch, ihr Potenzial ausschließlich über sogenannte Transfereffekte herzuleiten. Zu oft wird versucht, die positiven Nebenwirkungen von Kindermusik zu betonen, anstatt ihre Daseinsberechtigung darin zu sehen, dass sie schon für sich ein Gewinn ist. Das wahrscheinlich größte Potenzial eines Kinderlieds besteht nämlich in seiner unmittelbaren Wirkung auf das Individuum. Für uns alle erfüllt Musik mehrere bedeutsame Funktionen: Sie strukturiert unseren Tagesablauf, hilft uns bei der Gestaltung sozialer Situationen und regt unsere Kreativität an. Sie fördert persönliche Bindung und vermittelt sozialen Zusammenhalt.

Unterstützung des Gefühlsmanagements

Ihre bedeutendste Funktion besteht jedoch in der Unterstützung unseres Gefühlsmanagements. Als Erwachsene sprechen wir in der Regel dann von guter Musik, wenn wir ergriffen und innerlich berührt werden. Warum sollte das bei Kindern anders sein? Nicht nur aus Beobachtungen, sondern auch aus eigener Erfahrung wissen wir, wie emotional gerade die Phase der Kindheit durchlebt wird. Gute Kindermusik greift die Vielfalt, Unbekümmertheit und auch die Widersprüchlichkeit des kindlichen Erlebens auf und unterstützt Kinder so bei der Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben. In dieser Wirkung besteht ihr besonderes Alleinstellungsmerkmal.

Werfen Sie Ihre Vorurteile über Kindermusik bei nächster Gelegenheit also einfach mal über Bord und widmen Sie sich dieser Gattung mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und Offenheit. Ich verspreche Ihnen: Sie werden dabei überraschende Entdeckungen machen. Für mich besteht kein Zweifel daran, dass es jede „Mühe“ wert ist, Kinder an inspirierende, kreative und leidenschaftlich dargebotene musikalische Angebote heranzuführen. Denn sie sind die Vorboten des Wandels unserer kulturellen Einstellungen. Nimmt man diese Erkenntnis ernst, dann ergibt sich daraus eine sehr große Verantwortung. Ihr gerecht zu werden sollten wir nicht dem Zufall und schon gar nicht der Willkür überlassen.


Thomas Hartmann ist Medienpädagoge, Kulturwissenschaftler und Musiker. Sein Buch „Mama lauter! – Gute Musik für Kinder. Kritischer Streifzug durch eine unterschätzte Gattung“ erscheint im Juni im ConBrio Verlag. Auf der Website zum Buch rezensiert er zudem regelmäßig aktuelle Kindermusik-Veröffentlichungen: www.mama-lauter.de

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