Wo erlebt man heute noch die posthume Uraufführung einer Oper des genialen Belcanto-Routiniers Gaetano Donizetti? Bei ihren leider nur einmal jährlich stattfindenden halbszenischen Produktionen im Konzerthaus liefert die Berliner Operngruppe mit Spiritus Rector Felix Krieger mindestens Rares und in der Regel Sensationelles. Hinter dem Titel „Dalinda“ verbirgt sich eine der zahlreichen Zensurfassungen von Gaetano Donizettis und Felice Romanis „Lucrezia Borgia“ nach der frenetisch-verrückten Tragödie von Victor Hugo (1833). Die Messlatte kann nicht hoch genug sein: Die Berliner Operngruppe und ihr Edel-Ensemble lieferten am 14. Mai eine Sternstunde und in der Titelpartie eine Ausnahmestimme, um die sich ambitionierte Bühnen reißen sollten: Lidia Fridman.
Bei Phrasen, wie sie von versierten Belcanto-Diven in den anderen „Lucrezia Borgia“-Fassungen gerne mit exhibitionistischer Kunstfertigkeit zelebrierten werden, hält sich Lidia Fridman nobel zurück – und dominiert trotzdem: Das berüchtigte hohe A, welches sonst immer über dem Männer-Rudel schwebt, bohrt sich bei Lidia Fridman durch das Zentrum des musikalischen Satzes. Im explosiven Duett, wenn Titelheldin Dalinda ihren Sohn Ildemaro vor bösem Gifttod mit gutem Gegengift rettet, zeigt Lidia Fridman expansive Konditionsreserven. Und die Schlussarie mit den nach der langen Partie gefährlichen Koloraturspitzen füllt sie mit knisternd elegischer Bitternis vom feinsten. Die Stimme der erst 27-jährigen Sopranistin aus Samara mit dem betörend gutturalen Tiefenregister hat ein Aroma von Harz und karfunkelt in faszinierenden Rubinfarben. Fridman erinnert ein bisschen an die junge Iano Tamar, hat vibrierende Nervenspannung wie früher Leontyne Price und kommt in edler Schönheit einem vokalen Urerlebnis ziemlich nahe. Hoffentlich lässt sich Felix Krieger für 2024 wieder etwas vergleichbares einfallen.
Lidia Fridman euphorisiert – das Ensemble begeistert
Das Wunder des „Dalinda“-Abends ist, dass die anderen gegenüber dieser Spitzenleistung nicht abfallen, sondern das exzellente Niveau grundehrlich und hochkarätig steigern, beflügeln, enthusiasmieren. Die heute eher seltenen Jubelorkane waren keine Influencer-Party unter Freund:innen, sondern auch Wehrinitiative gegen den emotionalen Wärmeverlust und die Ressourcen-Ignoranz vieler Opernhäuser. Bei der Berliner Operngruppe erzeugen Vokalsport und Emotionen eine impulsive Reibungsdichte. Luciano Ganci, als über die verwandtschaftliche Nähe zur inzestgefährdeten Mutter Dalinda nicht informierter Ildemaro, bestätigt sich souverän im jugendlich-dramatischen Donizetti-Repertoire, Paolo Bordogna, als im Ehe-Missklang zwangsläufig toxischer Mistkerl Acmet, ist Sado-Bariton mit vokalen Samtspuren. Auf gleichem Niveau bewegt sich Yajie Zhang als Ugo d’Asti, die Donizetti in dieser Fassung leider um die Paradenummern des Trinklieds und des Duetts mit dem Tenor erleichtert. Donizettis Schlager-Oper blieb trotzdem ein würdiges Finale zum Grand-Prix-Wochenende.
„Lucrezia Borgia“ als „Director's Cut“
Im Umfang ist „Dalinda“ zwanzig Minuten schlanker als die von den Zensurbehörden gründlich malträtierte „Lucrezia Borgia“ und enthält nur eine wesentliche Neukomposition: Dieser leichtgeschürzte Chor mündet – warum verzichtete Donizetti auf das auch durch Aggressionen aufschäumende Bacchanal? – direkt in die Abschieds- und Sterbeszene. In dieser Fassung gerät Hugos und Felice Romanis Handlungskonflikt noch drastischer. Aus der berüchtigten Männerphantasie Lucrezia Borgia, im freien Fall zwischen Lust und Frust, Schande und Rache, wurde die persische Hocharistokratin Dalinda. Eine charismatische Frau mit Vergangenheit und einem sympathischen Sohn von einem fränkischen Christenritter. In der muslimisch korrekten Bühnengegenwart ist sie jetzt die Gemahlin des Fürsten von Tripolis. Vor diesem verheimlicht sie – nachvollziehbar – den Spross ihres interkulturellen Liebesabenteuers. Acmet wittert deshalb – auch nachvollziehbar – hinterm Schleier der Gemahlin eine unzulässige Seitensprung-Autonomie. An dieser Konstellation änderte Donizetti kaum etwas. Nur die schwulen Neigungen des (christlichen) Ugo d’Asti sind in „Dalinda“ viel dezenter als bei der Originalgestalt Maffio Orsini.
Halbszenischer Volltreffer
Die Zensurgeschichte von „Lucrezia Borgia“ zu „Dalinda“ zeigt Argumentationsdiversität mit unverkennbaren Analogien zu heute. Missliebige Handlungspartikel sollten bereits um 1835 nicht in die Inszenierung einfließen und auf solche im Idealfall verzichtet werden. Mit wenigen Stühlen, einem Damendolch, umfallenden Champagnerflaschen und Goldkelchen für Goldkehlen zeigte Giulia Randazzo in ihrer präzisen Figurenführung so einiges. Den Stoff meisterte sie beglückend ohne moralisches Gängelband fürs Publikum. Ihre gendertheoretische Botschaft ist klar und deutlich. Frau agiert menschlich verständlich, aber moralisch fragwürdig. Stilvoll schreitet Dalinda zum Androzid an ihren von fiesen Dogmen getriebenen Gegnern. Die Musik reflektiert das ziemlich edel: Zu Beginn wirken die Holzbläser nach Donizettis erster Hörner-Kantilene leicht überpointiert. Das erweist sich dann als hohe Kunst der Gestaltung. Bei der Berliner Operngruppe hat die viel gescholtene und viel geliebte Partitur keinen einzigen flauen Takt, alles entwickelt sich frei von Naivität in lyrisch-dramatischer Großartigkeit, die das Melodrama mit Genuss ohne Reue ausschöpft: Kongenial beteiligt an dieser Sternstunde sind der von Steffen Schubert stilkundig geführte Super-Chor sowie Dalindas mit elegantem Feuereifer agierende Lakaien und Giftopfer: David Ostrek (Corboga), Kangyoon Shine Lee (Garniero), Fermin Basterra (Guglielmo), Egor Sergeev (Ridolfo) und Kento Uchiyama (Ubaldo). Auf die geplante CD kann man sich freuen.