Wie auch immer sie heißen mögen und wo sie auch zu Hause sind, die großen und die größten Streichquartette rund um den Globus: irgendwo haben sie alle eine Heimat oder aber auch ihre (geographische) Heimat. Und da haben die meisten dann vor heimischen Publikum ihre eigenen Konzert-Reihen. Münchens weltberühmtes Rosamunde Streichquartett hat eine solche Reihe seit der Ende Januar 2009.
Sie bietet für den Anfang viermal jährlich öffentliche Probe, literarische, filmische, bildende-künstlerische, musikalische, Gesprächs-Vernetzung und Konzert. (Haupt)Ort der Handlung: die zweihundertjährig (wieder) jung gewordene Akademie der Bildenden Künste München mit ihrer geschichtsträchtigen Neureuther-Architektur und dem faszinierend-dekonstruierten coop-himmelb(l)au-Neubau. In der historischen Aula an der Akademiestraße 2, inmitten von Münchens weiterhin irisierendem Stadtteil Schwabing, nach Art halt des neuen Jahrtausends und nicht in Simplicissimus-Manier. Unter den in kräftigen Farben neu erstrahlenden Gobelins nach Raffaels vatikanischen Stanzen aus einer hochprofessionellen französischen Gobelin-Manufaktur mögen sich Literatur, Film, Malerei und Musik nach dem Willen der Rosamunde-Leute zu Gesprächen „bei offenen Türen“ versammeln.Das Motto 09 entstammt einem Konzept von Boris Yoffe, 1968 in Leningrad/Sankt Petersburg geboren und über Israel nach Karlsruhe gekommen. Dort lernte er bei und von Wolfgang Rihm. Dort arbeitet er nun eigenständig nicht nur an seinem „Quartettbuch“. 1995 begann Yoffe mit vereinzelten Notaten, die sich mittlerweile zu einem riesigen Konvolut erweiterten: jedem Tag des Jahreslaufs seine Partiturseite in Streichquartettbesetzung oder für Gambenconsort, kein Titel, keine Numerierung, keine Vortragsbezeichnungen, das Spannungsfeld von Harmonie und Linie auslotend. „Jedes Stück ist ein Wunder an Diskretion und Konzentration“, formuliert Wolfgang Rihm.
Und das Rosamunde Quartett lässt sich ein auf die enorme Herausforderung von einfachen rhythmischen Proportionen im Spannungsfeld von freier Auswahl der Stücke und autonomer Gestaltung, spielt gar frisch aus der Feder des Komponisten die eben erst erhaltene „Partitur“- Seite zum 23. Januar 2009 erstmals vor Publikum, ohne zu größerer Probenaktivität im Vorfeld Raum und Zeit gehabt zu haben. Yoffes „Lebenswerk“, das er mittlerweile als „Lebensweg“ versteht, gab diesem Abend mit dem Motto „Wege zum Quartett: Yoffe – Haydn – Mansurian“ also Auftakt und Bogenform, der Reihe ihren Reihentitel („Aus dem Quartettbuch“). Die phänomenale Gestaltungskraft der Münchner hatte hier schon bewunderungswürdige Miniaturen in großformatige Assoziationsfelder verwandelt.
Was nun aus Joseph Haydns experimentellen Anordnungen für die kleine Viererbesetzung akustisch in den Saal geholt wurde – der mag sich womöglich als veritabler Kammermusiksaal für München erweisen, was der aktuellen Konzertsaaldiskussion weitere Brisanz verleiht –, ließ erst so richtig klar werden, warum das Rosamunde Quartett weltberühmt ist. Klangschattierungen, Stimmentransparenz, emotionale Tiefenschichten ohne Angst vor deutlicher Intensität, Klarheit der Strukturen, Reinheit der Gefühle – hier entfaltete sich Joseph Haydn in all seiner Bandbreite, in seiner wirklichen Größe, die ja “in der kleinen Besetzung“ erst so richtig nachprüfbar ist. (Quartette G-Dur op. 17, Nr. 5 und F-Dur op. 77, Nr. 2).
Ebenso wie Boris Yoffe war auch Tigran Mansurian persönlich anwesend, großer alter Mann der armenischen Musik, Jahrgang 1939. Der in Beirut geborene Komponist, erst von französischen Kulturausprägungen beeinflusst, erlebte dann die (An)Spannungen zwischen geforderter Anpassung ans sowjetische System und der Distanz schaffenden Klarheit im Kopf, was seiner Musik auch immer einen Grad an zu leistender Trauerarbeit abverlangt, den Interpreten ebenso wie dem Publikum. Im ersten Streichquartett von 1983/84 verneigt er sich vor dem früh verstorbenen Musikerfreund David Chandschian.
Da wie auch in dem homophonen und „Testament“ betitelten Opus von 2004 (Manfred Eicher gewidmet, dem unermüdlichen ECMMotor) lässt sich von einer Zusammenschau des Trauerns reden (und auf den Streichinstrumenten spielen). Das lässt sich als eine Bestandsaufnahme mit einem Blick zurück ohne Zorn und ohne Larmoyanz verstehen mit einer visionären Kraft, die das aktuell analysierte nicht lähmend festzurrt auf den Augenblick sondern perspektivische Offenheit auf neue Herausforderungen wirksam sein lässt. „Ein Hof in Eriwan mit Maulbeerbaum“ schließlich, dem Rosamunde Quartett gewidmet und an diesem Abend uraufgeführt, spielt musikalisch-flirrend mit Natur-Assoziationen und mit Musik-Wirklichkeit. Da noch eine Dimension drauf zu setzen blieb dem Sonntag-Vormittag vorbehalten, als nämlich in City-Kino, nahe dem Münchener Stachus, ein wesentliches Werk sowjetischer Filmkunst mit all den Narben des Zensors, die der sowjetische Realismus so hinterlässt und mit der Musik von Tigran Mansurian zu sehen und zu hören war.
Nicht Filmmusik spielte sich da ab, denn was heute unter diesem „Logo“ daher kommt, ist weithin Klangsauce und Ohrenvermüllung. Sondern Tigran Mansurians sensible Einlassung auf die Tradition und auf das Geräusch und auf seine musikalischen Konzepte galt es da zu erleben. Symbolisch aufgeladene Bilder verknüpfen Assoziationen aus dem Leben des armenischen Volkssängers „Sayat Nova“ (so auch der Filmtitel mit der Ergänzung – „Die Farbe des Granatapfels“). Das Gefühl der späten sechziger Jahre verschmilzt hier mit manch magisch-mystischer Projektion, Anklänge an Bunuel und Antonioni und Pasolini stellen sich her, traditionelle Elemente und solche aus der (Volks)Musik von Sayat Nova sowie akustisch illustrierende Elemente vernetzen sich mit realem Geräusch. Tigran Mansurian gelingt eine kongeniale Schicht zu Sergej Paradjanovs Film.
Nicht zuletzt Otto Schily (neben vielen anderen kreativen Köpfen und Institutionen, die durch Köpfe repräsentiert sind) ist zu danken, dass die Rosamunde-Idee nun Realität ist. Die drei folgenden Musik-Film-Gesprächs-Einheiten halten die Erwartung auf Hochspannung mit Haydn/Beckett/Pasolini oder mit Nono/Hölderlin/Harald Bergmanns „Scardanelli“ oder mit Bach/Haydn/Pärt sowie Dorian Supin und Jean-Marie Straub.